Heute in den Feuilletons

In der Alpenwelt von Ozeanriesen träumen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2012. Die Welt berichtet von der demütigenden Prozedur der Urteilsverkündung im Pussy-Riot-Prozess. The Next Web stellt eine Studie über die Zukunft der journalistischen Formen vor. In der SZ plädiert der Ex-Generaldirektor der Staatlichen Museum in Berlin, Peter-Klaus Schuster, für die Berliner Museumsrochade. Im Focus verrät Romancier Thomas Steinfeld, welche schillernde Medienfigur sich tatsächlich hinter der zerstückelten Leiche aus "Der Sturm" verbirgt. Die Ruhrtriennale-Aufführung von John Cages "Europeras" stößt bei der Kritik auf höchst unterschiedliche Reaktionen.

Aus den Blogs, 20.08.2012

Martin Bryant stellt in The Next Web eine Studie der Agentur Latitude über die Zukunft der journalistischen Formen (oder englisch: the future of storytelling) vor - befragt wurden "early adopters" nach ihren Erwartungen: "Unsurprisingly, these early adopters are keen to take advantage of everything that technology has to offer. Their key demands are summarized in Latitude's report as 'The 4 I's': Immersion, Interactivity, Integration and Impact. Essentially, they want to be able to explore a story in greater depth, and have it reach out of the confines of a single medium and play out in 'the real world'."

Eine Gruppe antischwuler russischer Aktivisten verklagt Madonna auf etwa 10 Millionen Dollar, weil ihre Gefühle durch Madonnas Rede zur Unterstützung von Schwulen und Lesben auf ihrem St. Petersburger Konzert verletzt seien, berichtet der Guardian (Slate hat ein Video mit der Rede eingebunden): "Alexei Kolotkov, another of the activists who filed the suit, said: 'Maybe someone does not see the link but after Madonna's concert maybe some boy becomes gay, some girl becomes lesbian, fewer children are born as a result and this big country cannot defend its borders - for me it causes moral suffering.'"

Welt, 20.08.2012

Julia Smirnova berichtet von der Urteilsverkündung gegen Pussy Riot, die zwei Jahre Lagerhaft kassierten: "Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Alechina und Jekaterina Samutsewitsch mussten drei Stunden lang in Handschellen stehen, während die Richterin Marina Syrowa ihren Text verlas. Damit sollte demonstriert werden, dass hier drei gefährliche Verbrecherinnen verurteilt werden. Der Schuldspruch kam gleich am Anfang, doch bevor man erfuhr, wie hart die Strafe ausfällt, erzählte die Richterin den ganzen Fall noch einmal nach. Wieder und wieder war die Rede von Gotteslästerung, religiösem Hass und Verletzung der Gefühle von Gläubigen. Dann kam sie zu dem Schluss, dass eine Besserung nur in der Isolation von der Gesellschaft möglich sei."

Außerdem: Grausigen Kitsch erlebte Ulrich Weinzierl beim YDP, dem Young Directors Project, Regiewettbewerb der Salzburger Festspiele. Und im Forum stöhnt Björn Lomborg: Wenn Journalisten, die ständig von Klimaerwärmung reden, oder davor warnen, wir würden zuwenig Wasser trinken, doch einfach mal die Fakten zur Kenntnis nehmen würden.

Besprochen werden Heiner Goebbels "furiose" Inszenierung von John Cages "Europeras" bei der Ruhrtriennale (Stefan Heim ist hin und weg von dieser "Huldigung der sinnlosen Schönheit, ein Statement gegen Ökonomie und Effizienz, aber auch für neue Formen in der nachbürgerlichen Gesellschaft"), Marzena Sowas Graphic Novel "Marzi" über eine Jugend in Polen vor dem Fall des Eisernen Vorhangs ("ein Meisterwerk, das es mit Marjane Satrapis ähnlich gestrickter iranischer Jugenderinnerung 'Persepolis' aufnehmen kann", freut sich Matthias Heine) und eine Ausstellung mit Werken des Haarlemer Malers Cornelis Bega (absolut sehenswert, versichert Manuel Brug, der sich darüber ärgert, dass "selbst die Berliner Lokalzeitungen ... die schöne, sensible, zum genauen Hingucken verleitende Schau fast alle ignoriert" haben) in der Berliner Gemäldegalerie.

TAZ, 20.08.2012

Ein wenig enttäuscht ist Regine Müller vom Auftakt der Ruhrtriennale, für die Heiner Goebbels John Cages "Europeras 1 & 2" von 1987 inszeniert hat. "Cages vor 25 Jahren revolutionäres Stück ist stark gealtert, sein anarchistisches Potenzial ist zum ironischen Amüsement geschrumpft." Ingo Arend stellt bei seinen Betrachtungen zur Ästhetik des Mars in Kunst und Geschichte fest: "Wo Mythos und Geheimnis war, gähnt nur noch eine Wüste aus Geröll, Staub und Sand. Profaner war der Mars nie." Detlev Claussen erinnert an den verstorbenen Freund und Filmhistoriker Ronnie Loewy.

Besprochen werden das Album "Mature Times" des Kaliforniers Ariel Pink und Marten Persiels Film "This ain't California" über Skater in der DDR.

Und Tom.

NZZ, 20.08.2012

Roman Hollenstein feiert den Treppenweg, die das Schweizer Architektenduo Philipp Esch und Stephan Sintzel für die Kantonsschule in Chur entworfen haben und der durch und über einen Weinberg führt. Berliner Schüler und Lehrer sollten sich davon nicht deprimieren lassen: "Innen ist die Rosthülle mit ölig weißer Farbe gestrichen. Dadurch wird der Treppenweg zum Schiffsdeck, auf dem man mitten in der Alpenwelt von Ozeanriesen träumen kann. Wabenförmige Öffnungen gewähren zunächst Aussicht auf die Weingärten und Berge, auf die Schule und den bischöflichen Hof."

Weiteres: Andreas Klaeui hat beim Altdorfer "Tell" die Volksaufstände in Nordafrika widerhallen gehört. Geradezu trunken vor Glück berichtet Peter Hagmann von Claudio Abbados Bruckner-Konzert mit dem Lucerne Festival Orchestra. Anne Phillips-Krug hat an der üppig von Siemensstiftung und Goethe Institut ausgestatteten Theaterakademie Panorama Sur in Buenos Aires teilgenommen.

Weitere Medien, 20.08.2012

Was man bei John Cages "Europeras", in denen Cage das ganze Genre dem Zufall anheim gibt, und in der Ruhrtriennale-Auffühung unter Heiner Goebbels lernt, erzählt Peter Michalzik in der FR: "Der Bochumer Bühnenarbeiter ist der heimliche Heroe der Oper, (wenn schon nicht mehr bei Opel ...) er bestimmt das Geschehen, wo es keinen Dirigent mehr gibt und (wegen der Asynchronität der Sänger) nicht mehr geben kann. Er sorgt, wo der Zufall regiert, für den reibungslosen Ablauf. Die graue Maus des Theaterbetriebs ist sein wahrer Held."

Geordie Greig bringt in Daily Mail ein langes Porträt über Ian McEwan (der inzwischen besser verkauft als alle anderen britischen Autoren, Rushdie und Amis inklusive). Sein neuer Roman "Sweet Tooth" (Leseprobe) ist eine Art Agententhriller und spielt in den Siebzigern. Nebenbei sagt er einen Satz, den so kein deutscher Autor sagen könnte: "I'm part of that envious generation who felt their fathers had a meaningful existence, far more meaningful than we would ever have - fighting a just war - and I would have loved to have been part of that."

Das Mordopfer in Thomas Steinfelds Krimi "Der Sturm", beschrieben als "journalistisches Genie", das "die Stimmung der Zeit in Worte fassen konnte, der ein großes Publikum beschäftigte, im Guten wie im Bösen" und "weltumspannende Fantasien über die Macht der Netzwerke, die Zukunft der Roboter und die Allmacht der Gentechnik" pflegte, "ein großer Prophet und ein kleiner Zauberer, eine Kassandra und ein Politiker, ein Intellektueller und ein Geschäftsmann, und alles zugleich, so wie der 'Bel Ami' von Maupassant und 'Citizen Kane' von Orson Welles, nur in unsere Zeit übertragen und vielleicht noch viel größer", der sich aber auch "gelegentlich in Chatforen herumtrieb, in denen es offenbar vor allem um Kontakte zwischen älteren Männern und sehr jungen Frauen ging" und der "was jeder wusste, in den Puff" ging, dieses Mordopfer ist nicht Frank Schirrmacher, sondern Thomas Steinfeld selbst, wie dieser jetzt beteuerte: "Da stecke ich drin, in hohem Maße", sagte Steinfeld dem Nachrichtenmagazin Focus."

Und im Deutschlandfunk vermutet Hans Ulrich Gumbrecht sehr stark, dass Steinfeld als Autor entdeckt werden wollte: "Ich meine, es gibt ja dieses Interview, wo er sagt, es sei ihm nur um den Kriminalroman gegangen; das glaube ich keinesfalls. Ich denke, dass er auch ein Interesse hat, er ist ein Mann mit wenig Konturen für meinen Geschmack. Er will auf der einen Seite als Leidender und zu Unrecht behandelter in der Öffentlichkeit stehen, wobei ich gar nicht weiß, wann er je ungerecht behandelt worden ist."

SZ, 20.08.2012

Im ausführlichen Gespräch mit Jens Bisky und Stephan Speicher verteidigt der langjährige Generaldirektor der Staatlichen Museum in Berlin, Peter-Klaus Schuster, die kontroverse Berliner Museums-"Rochade" - die alten Meister seien am Potsdamer deplatziert: "Die tabula rasa, die sich dort aus Nazi-Diktatur, Krieg, Teilung und Mauerbau ergeben hat, hat einen maßstablosen Platz hinterlassen, gänzlich ungefasst. Die Umgebung und dieser Platz sind eine Geschichtslandschaft, das sollte nicht vergessen werden, des 20. Jahrhunderts. Das ist weit angemessener für die Kunst des 20. Jahrhunderts als für die Alten Meister, die ja ihr historisches Haus im aufwendig wiederhergestellten Bode-Museum auf der Museumsinsel haben."

Für die Reportage auf Seite 3 trifft sich Sonja Zekri in Kairo mit dem ägyptischen Bestseller-Autor Alaa al-Aswani, der lange vor Mubaraks Sturz von der Revolution geträumt hat und nun die islamistischen Muslimbrüder zwar nicht schätzt, sie aber gegen die Stimmung im Land als gewählte Volksvertreter verteidigt.

Weitere Artikel: Begeistert liest Jens Bisky die bereits in der DDR entstandene, aber jetzt erst veröffentlichte "Kritik der Marxschen Ökonomie" des Theaterregisseurs Adolf Dresen, die "unmittelbar zu uns Zeitgenossen" spreche. Jonathan Fischer stattet der Popszene Malis einen Besuch ab. In den Nachrichten aus dem Netz stellt Michael Moorstedt die Glitch Art vor, deren Kunst auf fehlerhaften Mediendarstellungen beruht. Ein Video stellt zentrale Protagonisten vor und vermittelt den ästhetischen Reiz dieser Digitalkunst:



Peter Richter feiert die experimentellen Animationsfilme des etwas in Vergessenheit geratenen Avantgardisten Oskar Fischinger, den das Whitney Museum in New York gerade mit einer Ausstellung ehrt: "Der Blick in einen echten brodelnden Vulkan kann nicht rot glühender sein." Bei Fischingers "Early Abstractions" lässt sichs bestens mitbrodeln:



Besprochen werden neue DVDs, Harun Farockis in den Deichtorhallen in Hamburg gezeigtes Videoprojekt "Ein neues Produkt" (das laut Till Briegleb "alles Nötige zu dem verborgenen Zynismus von Mitarbeiter-Lounges und Drop-in-Arbeitsplätzen" sagt), John Cages Anti-Musiktheaterstück "Europeras" bei der Ruhrtriennale ("eine pedantisch exakte Materialschlacht", urteilt Wolfgang Schreiber) und "Sie / Er", ein von Thomas Hürlimann zusammengestellter Band mit Erzählungen von Botho Strauß (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 20.08.2012

Überall wird über Anonymität im Netz hergezogen, dabei war der Mensch nie kontrollierbarer als eben dort, meint der Datenschutzexperte Peter Leppelt - und plädiert für tatsächliche Anonymität im Netz: "In diversen Foren herrscht schlicht Anarchie. Und von dort kommt praktisch alles Neue im Netz. Ich behaupte, dass es solche Ecken in jeder Gesellschaft geben muss, damit diese sich weiterentwickeln kann. Stellen, an denen völlig frei von jeder Konvention gedacht werden darf, an denen totale Heterogenität herrscht. Denn von dort kommt Kreativität, Kultur, Entwicklung, auch wenn solche Foren ganz sicher die Toilettenwände des Netzes sind"

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko ist empört darüber, dass Köln seine Ausgrabungsstätten, wo permanent kostbare Überreste der Geschichte gefunden werden, aus Spargründen schließen will. Dirk Schümer erzählt, wie die Italiener dem Sparzwang mit kulinarischer Fantasie begegnen. Eleonore Büning ist nicht zufrieden mit John Cages "Europeras" bei der Ruhrtriennale, wo raffinierte Bühnentechnik die mangelnde musikalische Qualität nicht aufwiegen konnte. Und Martin Schult, der beim Börsenverein für die Organisation des Friedenspreises zuständig ist, spürt seiner frühesten Erinnerung an den Friedenspreis nach, die im Terrorjahr 1977 spielt, als Leszek Kolakowski das Publikum mit seiner Friedenspreisrede über den "Hass" überwältigte.

Besprochen werden außerdem Marcus Rosenmülllers Film "Wer's glaubt, wird selig" und Bücher, darunter ein bisher nur auf englisch erschienener Essayband (Leseprobe) des britischen Literaturhistorikers Terry Eagleton (besprochen vom Münchner Komparatisten Martin von Koppenfels).

Online wird gemeldet, dass der Regisseur von "Top Gun", Tony Scott, im Alter von 68 Jahren gestorben ist - durch einen Sprung von einer Brücke in Los Angeles (hier der ausführlicher Artikel in der New York Times)..