Heute in den Feuilletons

Klickstrecken mit Zitaten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.08.2012. Die FAZ erzählt die sensationelle Geschichte eines von einem Nazikonkurrenten versteckten und nun wieder aufgefundenen Manuskripts Erwin Panofskys. Beim Thema Beschneidung lässt sich Ludger Lütkehaus in der NZZ von Kant inspirieren: "Handle stets so, dass du deine Kinder nicht ohne Not religiös determinierst!" Stefan Niggemeier findet in seinem Blog noch eine Menge anderer Applikationen für ein Leistungsschutzrecht. Die Welt ist gefesselt von Freiheitsforscherin Ulrike Ackermann. Die taz schickt eine erste Kolumne vom Filmfest Venedig: über Xavier Giannolis kulturkritischen Film "Superstar".

NZZ, 31.08.2012

Mehr Ethik, mehr Gemeinschaftlichkeit, kooperative Arbeitsmethoden waren auf der Architektur-Biennale in Venedig gefordert, berichtet Gabriele Detterer: "Tja, und dann betritt man in den Giardini ein gleichsam volles Boot. Die Biennale-Gärten mit den nationalen Pavillons werden als shared space bespielt, aber sie vermitteln nur graduell shared ideas. Jeder Pavillon interpretiert auf seine Weise das Leitmotiv und nutzt die Offenheit des Begriffes 'Gemeinsamkeit' als Freibrief, die Thematik in viele Richtungen hin auszuloten."

Ludger Lütkehaus denkt anlässlich des Kölner Beschneidungsurteils über die Freiheitsrechte von Kindern nach und plädiert am Ende frei nach Kant für das "'Prinzip Aufschub': 'Handle so, dass du deine Kinder nicht ohne Not religiös determinierst! Handle so, dass die religiöse Erziehung deiner Kinder ein Maximum an Freiheit gewähre!'."

Weitere Artikel: Thomas Fischer besichtigt die portugiesische Stadt Guimarães, Europäische Kulturhauptstadt 2012, deren Textilindustrie in den letzten zehn Jahren endgültig zusammenbrach. Knut Henkel porträtiert das supergutgelaunte französische Popduo Brigitte. Hier singen sie "Battez-vous":


Aus den Blogs, 31.08.2012

Floris Biskamp ist in seinem Blog mit der Rechtfertigung Judith Butlers nicht zufrieden. Sie war dafür krisitiert worden, dass sie Hamas und Hisbollah bei der "Linken" eingemeindet und verteidigte sich in Mondoweiss (und auf deutsch in der Zeit) damit, dass sie die Gewalttätigkeit der Terrororganisationen ablehne. Aber, so Biskamp, "sie hat nichts gegen die Ziele der Islamist_innen einzuwenden, sondern nur gegen ihre Mittel. Die Ziele gelten ihr als links und fortschrittlich, weil sich beide 'gegen den Imperialismus' richten. Dass aber eine erklärte Gegnerschaft zu Imperialismus und Kapitalismus ein Kernelement antisemitischer Ideologien und Bewegungen sein kann, scheint ihr keinen Gedanken wert zu sein."

Die Argumente der Leitungsschutzrechtbefürworter bringen Stefan Niggemeier für weitere Applikationen des drohenden Gesetzes: "'Es kann nicht sein, dass profitorientierte Anbieter gratis auf Inhalte zugreifen', sagt (Kulturstaatsminister Bernd) Neumann, dabei findet solches und ähnliches Verhalten in unserem Alltag ganz selbstverständlich statt. Und fast nirgends so konsequent wie in den Medien. Zum Beispiel versucht ein Angebot wie Welt Online täglich dadurch Profit zu machen, dass es gratis auf Inhalte von Fernsehsendern zurückgreift. Jeden Tag erzählen journalistische Hilfskräfte nach, was in den Talkshows passiert ist, produzieren Bildergalerien und Klickstrecken mit Zitaten."

Seiner Freude über das kommende Leistungsschutzrecht gibt der ehemalige Deutschlandradiointendanten Ernst Elitz in seiner Bild-Kolumne einen geradezu skatologischen Ausdruck: "Ein Gesetz, das dreiste Unternehmen trifft, die sich mit der Leistung anderer die Taschen voll machen."

Welt, 31.08.2012

Jenny Hoch porträtiert Deutschlands einzige Freiheitsforscherin, Ulrike Ackermann (die auch Perlentaucher-Autorin ist!) Ihre Urerfahrung waren vier Wochen Gefängnis in der Tschechoslowakei des Jahre 1977 - als sie als Zwanzigjährige subversive Schriften nach Prag schleusen wollte: "'Eigentlich hätte ich als Staatsfeindin fünf Jahre gekriegt,' sagt Ackermann. Sie habe in diesen vier Wochen nicht gewusst, was mit ihr passieren würde, hatte keinen Anwalt, keinen Kontakt zur deutschen Botschaft. Zu Hause habe niemand gewusst, wo sie steckte... Anschließend hatte sie Einreiseverbot. 'Ich galt bei denen als Top-Agentin des CIA, die konnten sich nicht vorstellen, dass es Einzelpersonen gibt, die so etwas Verrücktes machen.'"

Weitere Artikel: Michael Pilz hat die Folksängerin Cat Power getroffen, die ein neues Album vorlegt. Gerhard Gnauck empört sich über die Stadtväter von Zittau, die ihre Baudenkmäler abreißen, um ihre Stadt mit einem Einkaufszentrum aufzufrischen - auch die Präsidentin der Stiftung Denkmalschutz, Rosmarie Wilcken hat in dieser Sache einen offenen Brief geschrieben. Johannes Wetzel berichtet, dass Francois Hollande das grand projet seines Vorgängers Nicolas Sarkozy, ein Haus der Geschichte Frankreichs sang- und klanglos beerdigt. Gerhard Gnauck besucht ein Fesitvial jüdischer Kultur in Warschau. Und Henryk Broder spricht sich gegen die Beschneidungsdebatte aus.

Weitere Medien, 31.08.2012

Katharina Sperber berichtet in der FR von einer Ausstellung über das Schicksal von Emigranten, die Mittwoch von Herta Müller in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt eröffnet wurde. "Im hundertsten Jahr ihres Bestehens präsentiert die Nationalbibliothek, zu der auch das Deutsche Exilarchiv 1933 bis 1945 gehört, 16 Einzelschicksale von Emigranten. Sie sind keine Berühmtheiten wie Thomas Mann oder Billy Wilder. Sie sind Kürschner, Wissenschaftler, Verleger, Juristen, Politiker oder Komponisten, also Menschen wie du und ich. Sie alle eint, dass sie fliehen mussten. Eine erzwungene Reise in die Fremde, keine Auswanderung, neuer Chancen wegen", wie ihnen heute noch oft vorgeworfen wird.

TAZ, 31.08.2012

Cristina Nord hat in Venedig Xavier Giannolis kulturkritischen Film "Superstar" über das berühmte Viertelstündchen Ruhm gesehen, das einem völlig Unbekannten zufällt: "Gerade dass der Held ein durch und durch gewöhnlicher Mensch ist, befähigt ihn zur Berühmtheit - denn in seiner Gewöhnlichkeit erkennt das Publikum sich selbst wieder, sodass es sich keiner Differenz aussetzen muss."

Weiteres: Kristof Schreuf bespricht ein neues Album der deutschen Punkrockveteranen S.Y.P.H. Besprochen werden außerdem neue britische Dancefloor-Alben. Rudolf Walther schreibt den Nachruf auf den Philosophen Alfred Schmidt. Auf der Medienseite skizziert Steffen Grimberg das traurige Karriereende des Gruner + Jahr-Chefs Bernd Buchholz.

Und Tom.

Aus den Blogs, 31.08.2012

Amerikanische Buchverlage haben sich bereit erklärt eine Konventionalstrafe wegen Preisabsprachen zu zahlen, meldet turi2 und Verlinkung auf zahlreiche Quellen. Auf diese Weise vermeiden die Verlage einen Prozess, die Strafe beträgt 65 Millionen Dollar: "Der zu Holtzbrinck gehörende Verlag Macmillan, die Penguin-Gruppe sowie Apple als Betreiber des iBookstore sind ebenfalls verklagt worden. Sie sind aber nicht zu einer Zahlung bereit - und wollen lieber ein Gericht entscheiden lassen."

SZ, 31.08.2012

Jens-Christian Rabe legt einen kleinen Essay über den Willen zur "Kreativität" vor. Jeder will und soll heute Kreativer sein, keiner will mehr Sachverständiger sein. Daraus ergebe sich eine bemerkenswerte Verschiebung. Rabe zitiert den Kommentator David Brooks, der in der New York Times behauptet hatte, es gebe zwar durchaus noch eine Elite, doch begreife sich diese nicht mehr als solche: "'Inzwischen denken alle, sie seien Rebellen einer Gegenkultur, Aufständische gegen das wahre Establishment, das immer irgendwo anders ist.' Diese Haltung dominiere an den besten Universitäten des Landes, in den Vorstandsetagen der großen Konzerne und sogar in den Fernsehstudios, in denen in Harvard oder Stanford ausgebildete Moderatoren gegen die Herrschenden wetterten."

Weitere Artikel: Laura Wissmüller begibt sich auf einen Rundgang durch die Architekturbiennale von Venedig und widmet jedem Pavillon einen kleinen Absatz - besonders gut kommen die USA, Japan und Deutschland weg. Willi Winkler erinnert an die "kurze Liaison zwischen Arno Schmidt und dem Rowohlt Verlag".

Besprochen werden eine Ausstellung über die Olympischen Spiele der Antike im Berliner Martin-Gropius-Bau und ein neues Album der Folksängerin Chan Marshall alias Cat Power.

FAZ, 31.08.2012

Julia Voss berichtet über eine Sensation: Erwin Panofskys Habilschrift "Die Gestaltungsprinzipien Michelangelos, besonders in ihrem Verhältnis zu denen Raffaels" gehört zu den berühmtesten verlorenen Schriften der Emigration, nun ist sie von einem Kunsthistoriker zufällig wiedergefunden worden, in einem "Panzerschrank der NSdAP". Und es scheint, dass sie von einem Exkollegen Panofskys, Ludwig Heinrich Heydenreich, der unter den Nazis Karriere machte, bewusst versteckt wurde - selbst noch über den Moment hinaus, als sie sich 1967 wiederbegegneten. Voss erinnert an Panofsky als Begründer der Ikonologie: "Das Foto, das wir auf Seite 31 abbilden, verdient ebenfalls eine ikonologische Betrachtung in Panofskys Sinne. Vereint darauf sind Panofsky und Heydenreich 1967 in München. Es zeigt also den Autor des wiedergefundenen Manuskriptes und, wenn man so will, dessen Dieb. Denn wie soll man jemanden nennen, der etwas jahrzehntelang behält, den rechtmäßigen Besitzer kennt, ihn trifft, ohne ihm davon zu erzählen?"

Voss interviewt zu dem Fund auch die Witwe Panfoskys, Gerda Panfosky, die jahrzehntelang erfolglos nach dem Manuskript suchte, und den Kunsthitoriker Stephan Klingen, dem das Manuskript schließlich zufällig unterkam.

Weitere Artikel: In ihrer Maschinenraumkolumne schreibt Constanze Kurz äber die Polizeitechnik der "Funkzellenabfrage". Gerhard Rohde schickt einen letzten Bericht aus Salzburg. Auf der Medienseite erzählt Patrick Bahners die höchst vertrackte Geschichte eines Guardian-Online-Kolumnisten, der gefeuert wurde, weil er nicht deklarierte Nebeneinnahmen machte.

Besprochen werden Javier Mariscals Zeichentrickfilm "Chico & Rita" über Kuba und seine Musik und Bücher, darunter Nadeschda Mandelstams verloren geglaubte Erinnerungen an Anna Achmatowa.