Heute in den Feuilletons

Lebende Ameisen aus Jütland

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2012. In der NZZ ruft V.S. Naipaul die Schriftsteller auf, neue Formen des Schreibens auszuprobieren. Die taz macht sich Sorgen um den syrischen Filmemacher Orwa Nyrabia, der spurlos verschwunden ist. Die Literarische Welt feiert eine monumentale Briefedition Max Hermann-Neißes, die die Zeit des Londoner Exils zur Gegenwart werden lasse. In seinem Blog erklärt Wolfram Siebeck, warum er bei allzu radikaler Regionalküche ein Kribbeln im Magen bekommt. Und die künftige Zwangsgebührenzahlerin Clara aus der zehnten Klasse fordert mehr Originalität von ARD und ZDF.

NZZ, 08.09.2012

Im Interview mit Thomas David denkt V.S. Naipaul unter anderem über Gegenwart und Zukunft des Schreibens nach: "Ich glaube nicht, dass die Lesekultur verfällt, sondern, im Gegenteil, dass die Leser von einem Schriftsteller heute mehr verlangen als je zuvor. Im Grunde habe ich aber meine Probleme mit der Gegenwartsliteratur und glaube, dass der Roman als solcher an Bedeutung verloren hat... Ich glaube, Schriftsteller sollten sich heute mit anderen Arten des Schreibens befassen, mit anderen Möglichkeiten, ihre Erfahrungen und Vorstellungen von der Welt literarisch zu verarbeiten, statt ewig diesem Romangewerbe nachzuhängen."

Weitere Artikel in der Samstagsbeilage in Literatur und Kunst: Feridun Zaimoglu erzählt aus seiner Kindheit als Arbeiterkind türkischer Herkunft, in der er als "Halbvernegerter" traktiert wurde und trotzdem nicht aufgab ("Wir Neger holten auf. Problem: Stinker wurden Streber. Jungs anderer Arbeiterfamilien wollten mitmischen, wir nannten uns: Deutsche Negerkraft. Stolz und Zuversicht.") Ruth Schweikart betrachtet Edward Hoppers Gemälde "Seven A.M.".

Im Feuilleton wandelt Andreas Breitenstein fasziniert duch eine Ausstellung in Zug von mit und über Peter Nadas als Autor, Fotograf und Sammler ("Von durchdringender Magie sind drei Räume mit ungarischen Fotografen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Nádas' Inspiratoren.") Martin Walder schreibt zum Tod der Schauspielerin Maria Becker. Uwe Justus Wenzel verteidigt Judith Butler gegen ihre Kritiker.

Besprochen werden Bücher, darunter Peter Sloterdijks neuer Notizenband (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Welt, 08.09.2012

Jacques Schuster feiert in der Literarischen Welt die vom Verbrecher Verlag gestemmte große Briefedition des heute fast vergessenen Lyrikers Max Hermann-Neiße, die die Zeit des Londoner Exils "zur Gegenwart werden lässt": "'Nicht als ob ich mir … einbilde, je wieder nach Deutschland zurückkehren und … mich wieder in die alte Fettlebe setzen zu können', schrieb Max Herrmann-Neiße an George Grosz. 'Nee, das will ich 1) gar nicht mehr, ich bin mit die Brieder nu beese, richtig beese, wie wir Schlesier sagen, 2) glaube ich nicht, dass es jemals wieder so wie früher wird, sondern höchstens eine andre Scheiße dort die jetzt herrschende ablöst.'"

Weiteres in der Literarischen Welt: Niall Ferguson serviert Barack Obama ab. Ruth Klüger plädiert in ihrer Kolumne für Isabel Allende. Vorabgedruckt wird eine Reportage John Jeremiah Sullivans über Michael Jackson. Besprochen werden unter anderem Martin Walsers neuer Roman "Das dreizehnte Kapitel" ("Er schreibt und schreibt und schreibt. Der Volkswagen unter den deutschen Schriftstellern", schreibt Tilman Krause), Rainald Goetz' Roman "Johann Holtrop", David Albaharis Roman "Der Bruder", Mechthild Borrmanns Roman "Der Geiger" und eine Briefedition Max Webers.

Im Feuilleton sieht Jan Drees Ferdinand Schirachs Erzählen wirklicher Kriminalfälle bei Epigonen zur Masche werden. Iris Alanyali begrüßt die Wiederkehr der Profi-Mannequins in Brigitte. Hans-Joachim Müller geht mit der Kunstsammlerin Julia Stoschek in Düsseldorf essen. Peter Zander resümiert die letzten Tage in Venedig mit Filmen von Brian De Palma und Robert Redford.

Besprochen werden Katja Eichingers Buch über ihren Mann Bernd Eichinger und eine Schreker-Oper in Amsterdam.

TAZ, 08.09.2012

Der syrische Filmemacher Orwa Nyrabia ist vor wenigen Tagen auf dem Weg nach Kairo spurlos verschwunden (mehr). Der Theaterautor und Landsmann Mohammad Al Attar spricht sich in seiner Verzweiflung mit visionären Bildern Mut zu: "Ich stelle mir gerade eine Szene vor, in der eine Kinoleinwand in einer Zelle gefangen gehalten wird, hinter einem düsteren Metallvorhang. Vor der Zellentür patrouilliert ein Wächter, eine Pistole baumelt an seiner Hüfte, eine dicke Brille klemmt auf seiner Nase. ... Doch selbst wenn sie tatsächlich das Kino vernichten wollen. Was ist dann mit den versteckten Filmrollen? Und mit den Negativen? Und den Bildern, die uns im Gedächtnis hängengeblieben sind?"

Weitere Artikel: Peter Unfried begibt sich auf der Suche nach der Seele der Grünen ins Herz von Berlin-Kreuzberg. Demofotograf Stefan Boness schildert, wie sich Proteste im Laufe der Zeit immer mehr individualisieren. Cristina Nord sah in Venedig einen letzten herausragenden Film: "San zi mei" von Wang Bing. Svenja Bednarczyk und Nicolas Weisensel berichten über die Demonstrationen gegen die Gema-Erhöhungen. Julia Niemann spricht mit dem kanadischen Musiker Chilly Gonzales, der vor neun Jahren Berlin zugunsten des professionelleren Paris verließ. Auf Vimeo kann man ihm beim Klavierspielen buchstäblich über die Schultern schauen:



Besprochen werden die Ausstellung "Newtopia" im belgischen Mechelen und Bücher, darunter ein fortschritts- und geschwindigkeitskritischer Essay des Dromologen Paul Virilio, der Christof Forderer allerdings viel zu schnell ist (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 08.09.2012

Micha Brumlik erkundet nach Stephan Kramers Antwort auf Judith Butlers Positionierung im Adornopreis-Streit nach nochmaliger Solidarisierung mit der umstrittenen Philosophin die Motivlage des Disputs. Ihm offenbart sich nun "die bisher verdeckte Logik der Auseinandersetzung: So erscheint es heute - auch und gerade für Israels Freunde - kaum noch möglich, zwischen dem 1948 gegründeten Staat Israel und den 1967 besetzten Gebieten, damit der völker- und menschenrechtswidrigen Besiedlungs- und Annexionspolitik, die zunehmend auch die innen- und gesellschaftspolitischen Atmosphäre Israels vergiftet, zu unterscheiden."

Auch Christian Thomas bekräftigt seine Auffassung, dass Judith Butler als dialektisch denkende Staatsgewaltkritikerin für den Adornopreis besonders in Frage komme: "Butlers Haltung verweigert den Kompromiss und den Konsens - in der Tradition der Kritischen Theorie. Hat doch gerade Butlers Kritik an jeder Form der 'legalisierten Gewalt' sehr viel mit Adornos kompromissloser Festigkeit zu tun, seiner Sprecherposition nach 45." (Eine Erklärung, unter welchen Verbiegungen sich Butlers Einschätzung der nicht-legalisierten Gewalt von Hisbollah und Co. als "progressiv" am Ende doch noch mit Adorno vereinbaren lässt, vermissen wir dann allerdings.)

Besprochen werden das neue Album von Bob Dylan (in dessen Geschichten es "reichlich stürmig ..., blutig, drastisch und turbulent" zugeht, beobachtet Markus Schneider), René Polleschs neues, am Schauspielhaus Hamburg aufgeführtes Stück "Neues vom Dauerzustand" (in dem es zwar "eine Menge Löcher", aber "deutlich zu wenige (...) typische Pollesch-Momente" gebe, mäkelt Anke Dürr) und Bücher, darunter Rainald Goetz' neuer Roman "Johann Holtrup", in dem Martin Halter eine "eine messerscharfe Analyse eines Systems, das nicht verbessert, beschönigt oder gerettet, sondern nur bis auf die psychischen Grundmauern abgerissen werden kann", erkennt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Aus den Blogs, 08.09.2012

Wolfram Siebeck plädiert in seinem Blog (nicht ohne eine Spitze gegen den Herrn Kollegen aus der FAZ) gegen Küchenregionalismus, wie ihn das zur Zeit angesagteste Restaurant der Welt, das Kopenhagener Noma praktiziert: "Dass es Menschen gibt, die lieber ein ausschweifendes Essen in einem prunkvollen Restaurant einnehmen als rohen Hering auf Rohholztischen, hat in einem Land mit überwiegend protestantischer Bevölkerung wenig Bedeutung. Was allerdings keine Erklärung für das Phänomen Noma ist. Dort hat ein Journalist der Berlingske Tidende unlängst eine neue Kreation des Weltmeisters Redzepi gekostet: 'Lebende Ameisen aus Jütland in einem Spiegel aus Crème fraiche'. Das ist in der Tat nicht ausschweifend, sondern wirklich minimalistisch und verheißt den Rohköstlern eine Natürliche Küche. Die Vorstellung, dass Redzepi mit seinen Mannen durch Jütlands Wälder kriecht und aus den großen, mit Tannennadeln durchsetzten Ameisenhaufen ein paar Portionen Ameisen heraussiebt, ist beeindruckend und jede Menge Weltmeistertitel wert."

Die Verschiebungen zwischen Judith Butlers erster und zweiter Entgegnung auf die Kritik ihrer Auszeichnung mit dem Adornopreis mögen erstaunlich sein, einen wirklichen Wandel kann Matthias Küntzel darin aber nicht ausmachen. In seinem Blog schreibt er: "Ich glaube nicht, dass Judith Butler aus Zeitmangel die Hamas-Charta, ein Schlüsseldokument des islamischen Antisemitismus, ignoriert. Ich vermute, dass sie sich mit diesem Dokument, das ihr Weltbild in Frage zu stellen droht, nicht befassen will. Wir haben es mit 'aktiver Ignoranz' zu tun. Mit dieser Haltung macht sie Judenfeindschaft aber stark: Sie akzeptiert den Judenhass der Islamisten, indem sie darüber schweigt. Sie dämonisiert gleichzeitig Israel, indem sie in ihren englischsprachigen Veröffentlichungen eben das verschweigt, was sie vor dem Hintergrund der Debatte in Deutschland erstmalig erwähnt: dass der fortbestehende Judenhass 'die Existenz des Staates Israel … mit seiner gegenwärtigen Politik als politische Notwendigkeit rechtfertigt.'"

(Via Uwe Hauck) Die künftige Zwangsgebührenzahlerin Clara ist in der 10. Klasse und ruft ARD und ZDF in dem Blog pewpewpew dazu auf, sich mal ein Beispiel an HBO und BBC zu nehmen: "Ihre Daseinsberechtigung besteht nur noch darin, dass Sie die Tagesschau produzieren, zur Belustigung der Senioren beitragen und hin und wieder mal einen guten Tatort liefern. Wenn Sie also wieder als bedeutende Fernsehsender gelten wollen, die zu Recht die Plätze eins und zwei auf unseren Fernbedienungen belegen und das nicht nur in den Altersheimen der Republik, dann seien Sie mutig!"

SZ, 08.09.2012

Niklas Hofmann berichtet von den Berliner Demonstrationen gegen die umstrittene Erhöhung der Gema-Abgaben, die Gema-Aufsichtsratmitglied und Komponist Enjott Schneider im beistehenden Gespräch verteidigt. Auch zum Ende hin ist der Wettbewerb des Filmfests in Venedig "mit dem Thema Religion immer noch nicht durch", stöhnt Susan Vahabzadeh. Die britische Kulturszene sieht nach strammen Kürzungen dunklen Zeiten entgegen, berichtet Alexander Menden. Henning Klüver reagiert mit Unverständnis auf die Schließung der deutschen Buchhandlung Herder in Rom.

In der SZ am Wochenende erteilt Heribert Prantl Robert Menasses Forderungen nach einer Überwindung der Nationalstaaten auf dem Weg zu einem vereinten Europa eine klare Absage. Alex Rühle besucht den UN-Berater Jean Ziegler, der sich gegen den Welthunger einsetzt. Viola Schenz referiert die Kulturgeschichte der Hygiene in den USA und Europa. Eva Karcher plauscht mit dem Designer Marc Newson. Außerdem ist die Erzählung "Augustyn" von Andrzej Stasiuk abgedruckt.

Besprochen werden der Film "Heiter bis Wolkig", Jan Bosses Inszenierung von Tschechows "Platonow" am Thalia Theater in Hamburg und Bücher, darunter Rainald Goetz' neuer Roman "Johann Holtrup", den Lothar Müller "am Ende mit Kopfschütteln" verlässt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 08.09.2012

Für Bilder und Zeiten ist Jan Wiele in den Kosovo gefahren, wo er sich mit dem deutsch-kosovarischen Autor Beqe Cufaj auf Rundfahrt durch das nach wie vor chaotische und traumatisierte Land begibt - Cufaj schildert es in seinem neuen Roman "projekt@party" (Leseprobe) nach dem Namen der UN-Mission als Unmikistan: "Cufaj hat für das Buch viele Jahre recherchiert - er ist häufig in Prishtina und kennt viele Leute, Einheimische wie auch Mitarbeiter von verschiedenen Organisationen. Unmittelbar nach dem Ende des Kosovokriegs war er für sechs Monate nach Prishtina zurückgekehrt, um als Leiter des Feuilletons am Wiederaufbau der Zeitung Koha Ditore mitzuarbeiten. In dieser Zeit habe er, der zuvor viel von Völkerverständigung geschrieben hatte, jedoch feststellen müssen, 'dass das Ganze nicht so leicht wird'."

Weitere Artikel in der Samstagbeilage: Der Internetkritiker und Open Access-Gegner Roland Reuß wünscht sich mit Blick auf der Internet eine "Einhegung des Schädlichen an Technik". Jordan Mejias erinnert an den Modezeichner Antonio Lopez, dem ein neuer Bildband und eine Ausstellung in New York gewidmet sind. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite porträtiert Niklas Maak die Sängerin Cat Power (Musik). Und Werner M. Grümmel freut sich über die Wiederentdeckung dreier Bratschenkonzerte des Mozart-Zeitgenossen Joseph Martin Kraus, die nun von David Aaron Carpenter eingespielt wurden (Musik). Auf der letzten Seite unterhält sich Andreas Platthaus mit der Autorin und Buchgestalterin Judith Schalanskky, die für "Der Hals der Giraffe" den Preis für das schönste Buch erhielt und nun bei Mattes & Seitz eine Buchreihe über Tiere gestalten wird.

Im Feuilleton liest man einige persönliche Betrachtungen Nils Minkmars zum Fall Julian Assange, den er als Nemesis aller Politiker ansieht, die mit fingierten Gründen den Irak-Krieg rechtfertigten. Jan Wiele staunt über das im Kino laufende Video-Interview mit Steve Jobs aus dem Jahr 1995 (mehr hier). Jürg Altwegg resümiert Bernard-Henri Lévys jüngste Kolumne zum Fall des Gallimard-Lektors und bekennenden Breivik- und Bin Laden-Bewunderers Richard Millet, dessen Entlassung Lévy fordert. Jürgen Dollase betrachtet in seiner Gastrokolumne das Phänomen von Kochfestivals mit prominenten Köchen. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod der Schauspielerin Maria Becker. Dieter Bartetzko berichtet vom Tag des offenen Denkmals (Website). Für die letzte Seite radelt Verena Lueken durchs Mecklenburgische Elbetal.

Besprochen werden letzte Konzerte in Luzern und Bücher, darunter Martin Walsers neuer Roman "Das dreizehnte Kapitel", in dem es laut Jan Wiele vor allem ums Briefeschreiben, also eine Art Manufactum-Twitter zu gehen scheint (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).