Heute in den Feuilletons

Spiegelbild der Nutzersuchen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2012. Sollte man Google verklagen, weil seine Autovervollständigung bei Suchanfragen die Entstehung von Gerüchten verstärkt? Darüber streiten sich Netz und Medien nach juristischer Intervention von Bettina Wulff. Google will jedenfalls keine Unterlassungserklärung unterschreiben, berichtet die SZ. Die Kritiker sind mit den Preisen von Venedig soweit ganz zufrieden und staunen noch mal über die religiöse Tendenz des Festivals. Hans-Magnus Enzensberger schießt in einer Anzeigenbeilage in der FAZ sehr scharf gegen die EU. Und die FAZ erklärt, warum die Niederländer morgen trotz Eurokrise nicht die Populisten wählen werden.

Weitere Medien, 10.09.2012

Google will Bettina Wulffs Namen bei Suchanfragen weiterhin um Begriffe wie "Escort" und "Prostituierte" ergänzen. Begründung: die Vervollständigungen seien "das algorithmisch erzeugte Resultat mehrerer objektiver Faktoren", zitiert Konrad Lischka bei Spiegel online den Konzern. Aber das stimmt nicht, weiß er. Google manipuliert seine Suchergebnisse häufig genug: "Es drängt sich der Eindruck auf, dass Googles Position bei Eingriffen in Treffer und Vorschläge der Suchmaschine je nach dem Einfluss der Betroffenen wechselt. Links zu vermeintlichen Raubkopien versteckt der Konzern, solche auf Persönlichkeitsverletzungen nicht. Und Verweise auf eigene Produkte platziert Google bisweilen sehr prominent in den angeblich objektiv ausgewählten Vorschlägen." Lischka findet das ausgesprochen "opportunistisch".

Aus den Blogs, 10.09.2012

(Via Dirk von Gehlen) Sollte man Google dafür verklagen, dass es nach dem Suchwort "Bettina Wulff" das Wort "Prostitution" ergänzt? Der Politikkolumnist Michael Spreng meint ja. Felix Schwenzel antwortet in seinem blog: "google zeigt an, dass viele seiten im internet die worte 'bettina wulff' und 'prostituierte' oder 'escort' benutzen. michael spreng macht exakt das gleiche, er schreibt, dass viele seiten im internet diese worte im zusammenhang benutzen..."
Stichwörter: Google, Prostitution

Welt, 10.09.2012

Der koreanische Filmemacher Kim Ki-duk, der lange Zeit an Depressionen litt, erzählt im Interview, was seinen Film "Pieta" - "ein Film darüber, wie die Finanziers der kapitalistischen Gesellschaft die Welt schlecht machen" - inspiriert hat: "In asiatischen Ländern ist der Konkurrenzkampf viel härter als in der westlichen Welt. Wir haben in Cheonggyecheon gedreht, wo ich selbst aufgewachsen bin. Ich bin nicht zur Schule gegangen, ich habe in meiner Kindheit in genau solchen Fabriken gearbeitet, wie ich sie hier zeige. Dieses Leben damals hat mich und meine Sicht auf die Welt geprägt. Ich musste die Mechanismen der technischen Geräte lernen und habe realisiert, wie sehr sie den Mechanismen entsprechen, wie Menschen ihr Leben gestalten."

Weiteres: Kent Nagano wäre für die Besetzung des Intendanten der Hamburger Staatsoper der falsche Mann, verkündet Manuel Brug und schlägt statt dessen den 32jährigen Cornelius Meister aus Heidelberg vor. Mara Delius versucht sich einen Reim auf Mitt Romneys Vize Paul Ryan zu machen. Ulrich Weinzierl schreibt zum Tod der Schauspielerin Maria Becker. Besprochen wird Bob Dylans neues Album "Tempest".

NZZ, 10.09.2012

Etwas mutlos, aber alles in allem ganz in Ordnung findet Susanne Ostwald die Löwenvergabe in Venedig. Kim Ki-duks düsteres Drama "Pietà" würdigt sie als "hintersinnigen Kommentar zu unserer Zeit der globalen Finanzkrise, die einerseits von Geldgier, andererseits von der Hoffnung vieler auf spirituelle Erlösung geprägt wird."

Weiteres: Marc Zitzmann befasst sich mit der Einwanderung von Chinesen in Frankreich, die wirtschaftlich zwar sehr erfolgreich sind, sich vom Rest der Bevölkerung aber stark abschotten. Caroline Kesser besucht die Schau des dänischen Expressionisten Asger Jorn in der Fondation de l'Hermitage in Lausanne.

TAZ, 10.09.2012

Kai Schöneberg hat in der SZ vom Samstag Hans Leyendeckers und Ralf Wiegands Reportage darüber gelesen, wie die Gerüchte um Bettina Wulff entstanden sind: "Interessant an der SZ-Geschichte auch die Quelle der Verleumdungen: Es soll ein CDU-Minister aus dem Kabinett Wulff gewesen sein, der das rufmordende Gerücht in die Welt gesetzt hat. Wer aber 2006, als Wulff seine neue Freundin bei einem Fußball-Weltmeisterschaftsspiel in Hannover ganz nebenbei ausgesuchten Medien präsentierte, dabei war, kann sich daran nicht erinnern."

(Interessant an der Geschichte ist auch, dass die beiden alten Leute, die das von Politikern gestreute Gerücht wohl als erste im Internet verbreitet haben, in der SZ mit vollem Namen und Alter genannt werden, Namen von Politikern und Journalisten - sofern sie nicht wie Günter Jauch eh schon bekannt sind - dagegen verschwiegen werden. Beispiel: "Und ein mit den Verhältnissen in der CDU vertrauter Nachrichtenredakteur eines hochseriösen Blattes schrieb damals über das Tattoo von Bettina Wulff: 'Selbst wenn der Bundespräsident es cool findet, es bleibt ein Import aus der Unterwelt.'")

Der heilige Ernst, der in diesem Jahr in Venedig herrschte, ging Cristina Nord gehörig auf die Nerven, und mit dem Goldenen Löwen für Kim Ki-duk ist sie auch nicht einverstanden: "Schade, dass die von dem US-amerikanischen Regisseur Michael Mann präsidierte Jury das Abbilden von Quälerei mit ästhetischer Radikalität verwechselte."

Weiteres: Ganz überzeugt ist Katrin Bettina Müller von Thomas Ostermeiers Ibsen-Inszenierung "Ein Volksfeind" als Diskurs um Ökonomie und Wahrheit nicht: "Radikalität scheint auf, aber als ungefähres Irgendwie." Julian Weber berichtet vom Berlin Festival, wo immerhin Tocotronic gegen die Reaktion ansangen.

Und Tom.

SZ, 10.09.2012

Google wird die von Bettina Wulff geforderte Unterlassungserklärung nicht unterzeichnen, meldet die sueddeutsche.de. Wulff klagt gegen die "Autovervollständigung" von Suchanfragen - solche Prozesse hat Google-Sprecher Kay Overbeck bereits mehrfach gewonnen: "Bei den fünf bereits gewonnen Klagen sei es ebenfalls immer um Prominente gegangen, heißt es aus dem Unternehmen. Die Gerichte hätten in jedem dieser Fälle anerkannt, dass die Autovervollständigungs-Funktion ein Spiegelbild der Nutzersuchen ist. Darin unterscheide sich diese Klage von der gegen Jauch." (Laut Telegraph ist das nicht richtig: Google musste Anfang des Jahres nach der Entscheidung eines japanischen Gerichts die automatischen Ergänzungen im Falle eines Mannes unterbinden, dessen Name regelmäßig mit Straftaten verknüpft worden waren, die er nicht begangen hatte.)

Susan Vahabzadeh resümiert das Filmfest in Venedig, das von religiösen Themen bestimmt war: "(D)ie Reaktionen waren heftig: Mal wurden Blasphemievorwürfe erhoben und zur Anzeige gebracht, auf der anderen Seite gab es heftige Buh-Rufe für einen angeblich reaktionären Blick auf jüdisch-orthodoxe Frömmigkeit. Und selbst beim Goldgewinner Kim Ki Duk, wo Gott doch sehr fern war, zeigte sich noch die Macht der religiösen Ikonografie, die in seinem Titel 'Pieta' anklingt (Pressespiegel). Die Jury um Regisseur Michael Mann jedenfalls hat das religiöse Leitmotiv in ihrer Auswahl voll bestätigt."

Weiteres: Joseph Hanimann erinnert an die Geschichte des Internierungslagers Les Milles, das zu einer diese Woche eröffnenden Gedenkstätte umgebaut wurde. "Der Ausverkauf von Berlin muss endlich aufhören", empört sich Laura Weißmüller über die Liegenschaftspolitik des Berliner Senats. Henning Klüver berichtet über die Kontroversen in Italien um den von Pierre Cardin geplanten Bau eines 250 Meter hohen Turms bei Venedig, von dem aus die Stadt "in der Lagune nur noch eine künstliche Miniaturstadt [wäre], wie man sie aus Freizeitparks kennt". Volker Breidecker berichtet von den Feierlichkeiten zu Ehren des Dichters Ludwig Harig im Saarland. Bei seinem Antritt als neuer Chefdirigent der Münchner Philharmoniker erweist sich Lorin Maarzel "als Hüter der Tradition dieses Orchesters", meint Egbert Tholl, der zudem in einem weiteren Artikel Abschied von der Schauspielerin Maria Becker nimmt.

Besprochen werden neue DVDs, das neue Album von The xx (die sich damit als "Kraftzentrum des Pop" bewähren, jubelt Jan Kedves - hier kann man das Album vorab anhören) und Bücher, darunter die Autobiografie von Johnny Ramone (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 10.09.2012

Der FAZ liegt als Anzeigenbeilage ein offenbar von der Stiftung Famlienunternehmen finanzierter "Hauptstadtbrief" bei, dessen Aufmacher von Hans-Magnus Enzensberger verfasst wurde. Er schießt sehr scharf gegen die Instanzen der EU und besonders die Funktionäre des ESM: "Sie nennen sich, wie in den alten Kolonialregimes üblich, Gouverneure und sind, ebenso wie die Direktoren, der Öffentlichkeit keine Rechenschaft schuldig. Im Gegenteil, sie sind zur Geheimhaltung ausdrücklich verpflichtet. Das erinnert an die Omertà, die zum Ehrenkodex der Mafia gehört. Unsere Paten sind jeder gerichtlichen oder gesetzlichen Kontrolle entzogen. Sie genießen ein Privileg, das nicht einmal einem Chef der Camorra zusteht: die absolute strafrechtliche Immunität."

Im Feuilletonaufmacher schreibt Dirk Schümer über die bevorstehenden Wahlen in den Niederlanden: "Die Niederländer haben die Wahl. Sie könnten, wenn sie wollten, mit ihren Stimmzetteln den Gulden zurückfordern. Sie könnten die gigantische Geldumschichtung durch die Europäische Zentralbank stoppen und jede Übertragung der nationalen Souveränität ans undemokratische 'Brüssel' ablehnen. " Seltsamerweise aber, so Schümer, scheint alles gegen die Populisten von links und rechts zulaufen. Wahrscheinlicher sei auf eine Koalition der üblichen Verdächtigen.

Weitere Artikel: Sandra Kegel freut sich über immer konkreter werdende Planungen für ein Romantikmuseum in Frankfurt. Internetkritiker Evgeny Morozov ist skeptisch über das in die Dinge (in diesem Fall die Küche) einwandernde Internet (hier das englische Original aus Slate). Dietmar Dath resümiert das Festival von Venedig und staunt nochmals über dessen religiösen Touch: "Was war da los? Wer hat das Filmfest getauft, geweiht, beschnitten?" Verena Lueken eröffnet derweil schon die Berichterstattung über das Filmfestival von Toronto. Gemeldet wird sich, dass sich Philip Roth bei der Wikipedia-Foundation über einen Eintrag beschwerte und dies in einem offenen Brief im New Yorker bekanntgab..

Besprochen werden Monteverdis "Ulysse" in Wien, Peter Turrinis Stück "Riesen vom Steinfeld" ebenfalls in Wien und Bücher, darunter Wolfgang Behrings "Kulturgeschichte des Sports" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).