14.09.2012. Deutsche Theater treten laut SZ aufs Bremspedal. Schuld sind unsere hektische Lebensweise sowie der Kapitalismus. Auch die FAZ fühlt sich schon mal den Puls - mit dem Smartphone. Der interkulturelle Dialog zwischen extremistischen Christen und entfesselten Muslimen löst in der deutschen Journalistenschaft unterdes Debatten über die Schuldfrage aus. All diese grandiosen Leistungen wären selbstverständlich ein Leistungsschutzrecht wert, das von den Piraten aber bekämpft wird.
NZZ, 14.09.2012
Angela Schader hat sich bei
Youtube den Film "Die Unschuld der Muslime" angesehen und
kommt zum Ergebnis: das Niveau eines
Salman Rushdie hat der Film nicht: "Um als Satire durchzugehen, ist er schlicht zu dumm - er vermittelt kein Jota an neuer Einsicht, und außer
Islamgegnern schlichtesten Zuschnitts wird niemand sein Vergnügen daran haben."
Weiteres: Samuel Herzog
berichtet, wie der Churer Galerist
Luciano Fasciati im Hotel "
Bregaglia" in Promontogno zeitgenössische Kunst in Szene setzt. Ansonsten gibt es Besprechungen: von CDs, darunter dem neuen Album von
Bob Dylan ("da ist kein schwacher Song dabei"
stellt Martin Schäfer fest), von einer
Inszenierung der Urfassung von
Beethovens Oper "Fidelio" am Stadttheater Bern sowie von Büchern, darunter
Chad Harbachs philosophischem Baseball-Roman "Die Kunst des Feldspiels" (
laut Andrea Köhler ein "großer Wurf"; mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Welt, 14.09.2012
Die Ausschreitungen in
Ägypten und Libyen und das Attentat auf den amerikanischen Botschafter in Libyen führen in der
deutschen Journalistenschaft zu sehr entgegengesetzten Reaktionen. "Es ist müßig, hier nach
Tätern und Opfern zu unterscheiden. Diesmal ging die Provokation von amerikanischen Extremisten aus, islamistische Fanatiker haben sie angenommen und nicht minder radikal zurückgezahlt", hatte Stefan Kornelius in der
SZ dazu
geschrieben. Clemens Wergin
antwortet auf diesen Kommentar: "Das Drehen eines widerlichen Filmes, der im Zweifel von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, steht für die Münchner Kollegen offenbar
auf derselben Stufe wie das Töten von Menschen. Beim Thema Islam und Amerika scheinen auch hierzulande so manchem die
moralischen Sicherungen durchzubrennen."
Fürs Feuilleton
berichtet Jasper Fabian Wenzel über die Verleihung der Theodor-Wolff-Journalistenpreise, bei der
Bundespräsident Gauck über Vor- und Nachteile von
Netz und Presse sprach (Nachteil des Netzes laut Gauck: Jeder darf seine Meinung sagen, Vorteil des Netzes laut Gauck: Jeder darf seine Meinung sagen). Dankmar Guratzsch
verfolgte ein Berliner Symposion über
Megastädte. Guratzsch
besuchte auch eine Alpenhütte mit Restaurant der Schweizer Architektin
Tilla Theus, die auf dem Gipfel des Weißhorn bei Arosa mit allem Alpenfolklorismus
brach. Stefan Keim
porträtiert den russischen Regisseur
Andrej Mogutschi, der in Düsseldorf eine Dramatisierung von
Kafkas "Prozess" inszenieren wird. Hannes Stein
liest Christopher Hitchens nachgelassenes und bisher nur auf englisch erschienenes Buch über seine Krebserkrankung (
hier ein Auszug). Besprochen wird die
Ausstellung über Goethe und das Geld in
Frankfurt.
TAZ, 14.09.2012
Soll man das Hetzvideo "Unschuld der Muslime" im Rahmen der Berichterstattung
zeigen oder nicht? Daniel Bax und Ines Kappert liefern sich auf den vorderen Seiten ein
pro und contra. Bax meint: "Weil diese Hasspropaganda nun mal in der Welt ist, müssen sich deutsche Medien offensiv damit auseinandersetzen und deutlich machen,
worin genau dabei das Problem liegt." Kappert dagegen findet: "Ein hetzerisches antimuslimisches Video mit 3.000 Klicks ist
kein Aufreger und damit auch keine Gefahr, eines mit 400.000 schon." (Die neuesten Hintergründe über das Video - wer war der
Produzent, wer der
Regisseur - hat Adrian Chen für
Gawker recherchiert.)
Ingo Arend
rechnet mit der
Documenta 13 ab: "Die mutmaßlich 800.000 Besucher, die ihrer am Sonntag zu Ende gehenden Documenta einen neuen
Zuschauerrekord bescheren dürften, setzen Bakargiev ins Recht. Was ihr
Konzept nicht weniger problematisch macht." Fritz von Klinggräff
berichtet über das ehemalige französische Internierungs- und
Deportationslager Les Milles, das nun als Gedenkstätte für die Häftlinge und Opfer eingeweiht wurde.
Besprochen werden das
Album "The road gets darker from here" der Londoner
Band Gallon Drunk und die
Ausstellung "Fremd bin ich den Menschen dort" in der Frankfurter Nationalbibliothek, die 16 Einzelschicksale von Emigranten beleuchtet, die vor den Nazis ins Ausland flüchteten, darunter die Biografien des Schriftstellers
Leo Perutz und der Dichterin
Emma Kahn.
Und
Tom.
Zeit, 14.09.2012
(Via Ulrich Speck auf
Facebook) Als Gerhard Schröder den russischen Präsidenten Putin einen "lupenreinen Demokraten" nannte, befolgte er nur eine scheußliche
Tradition der Sozialdemokratie: die heimliche Bewunderung für Autokraten. In seinem jüngsten Gespräch mit Giovanni di Lorenzo im
Zeit-Magazin bringt Helmut Schmidt eine Menge Verständnis für die
chinesischen Militärs auf, die die Studenten am Tien an Men-Platz niederkartätschten: "Sie haben zunächst ausgehalten, aber sie wurden mit Steinen und Molotowcocktails angegriffen und
haben sich gewehrt - mit den Waffen, die sie hatten. Gleichzeitig fand, zum ersten Mal seit langer Zeit, der Besuch des Chefs der Sowjetunion in Peking statt. Gorbatschow musste die Große Halle des Volkes durch die Hintertür betreten, weil vor dem Haupteingang die Studenten demonstrierten. Für
Deng war das ein enormer
Gesichtsverlust."
Aus den Blogs, 14.09.2012
"Liebe Verleger, fallt mir nicht auf
Philosoph Precht herein",
schreibt Ralf Schwartz in
Policlinique, nachdem Precht vor Zeitungsverlegern den "
Internetpöbel" gegeißelt und
Facebook einen frühen Tod gewünscht hatte. Unter anderem attackiert Schwartz Prechts These, nur die Medien könnten unterscheiden,
was relevant sei und was nicht: "In einer guten Welt würde die Schule lehren, zu unterscheiden zwischen relevantem und irrelevantem Wissen. In unserer Welt sollen das allen Ernstes laut Philosoph Precht die Massenmedien übernehmen!? Klingt nach Mediendiktatur, nach
Mediokratie - im doppelten Sinne. Und nicht nach freier Meinungsbildung. Eines Philosophen unwürdig."
Weitere Medien, 14.09.2012

Dieses Bild (
hier groß) hat
laut The Onion keine
religiösen Unruhen ausgelöst: "The image of the Hebrew prophet
Moses high-fiving
Jesus Christ as both are having their erect penises vigorously masturbated by
Ganesha, all while the Hindu deity anally penetrates
Buddha with his fist, reportedly went online at 6:45 p.m. EDT, after which
not a single bomb threat was made against the organization responsible, nor did the person who created the cartoon go home fearing for his life in any way."
Die
Piratenpartei hat auf
epetitionen.bundestag.de eine
Petition gegen das
Leistungsschutzrecht eingebracht: "Der Bundestag wird aufgefordert, ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage
grundsätzlich abzulehnen und insbesondere die geplante Ergänzung des Urheberrechtsgesetzes (UrhG) um die Paragraphen §87e, §87f, §87g und §87h gemäß Entwurf eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes vom 27.07.2012
ersatzlos zu unterlassen."
FAZ, 14.09.2012
Melanie Mühl
arbeitet sich durch den Wust von
Selbstoptimierungs-
Apps fürs Smartphone, die den eigenen Körper zum Zweck der gesundheitsförderlichen Disziplinierung analytisch quantifizieren. Skeptisch bleibt sie dennoch: "Besonders
absurd an der Sammelwut ist, dass die Zahlen am Ende dazu dienen sollen, unserem Körper Gutes zu tun - einem Körper, der uns
fremd geworden ist, auf den wir nach der Quantified-Self-Logik längst nicht mehr hören. Seine innere Stimme haben wir auf
stumm geschaltet. An ihre Stelle ist die Maschine getreten, die zu uns spricht."
Weitere Artikel: Andreas Kilb singt ein Loblied auf das
Literaturfestival in
Berlin, wo "durchweg alles besser war als im letzten Jahr": "So bleibt statt Meckern und Mahnen in diesem Jahr
nur Staunen." Constanze Kurz stellt die Arbeit der
ETSI vor, deren Aufgabe es ist, mittels standardisierter Schnittstellen die Überwachbarkeit digitaler Datenströme sicherzustellen. Eleonore Brüning erfährt beim Leipziger Konzert des
Artemis Quartetts, "dass auch Geigen sprechend phrasieren können". Jörg Bremer stellt
Ghibertis Paradiespforte in Florenz vor, die nach 27 Jahren Restaurierung wieder im Original zu sehen ist. Emanuel Derman
fühlt sich als geistiges Wesen unter "Neurowissenschaftlern und evangelikalen
Berufsatheisten" schlecht aufgehoben.
Besprochen werden
Philip Scheffners Dokumentarfilm
"Revision" und Bücher, darunter eine von
Herbert Schmidt herausgebene Anthologie deutschjüdischer Gedichte (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
SZ, 14.09.2012
Deutsche Theatermacher fühlen sich zunehmend "überfordert" von den schnellen, unübersichtlichen Entwicklungen in der Welt,
bemerkt Christine Dössel bei der Durchsicht der Spielpläne und Programmankündigungen der kommenden Saison. Die Theater "meinen alle dasselbe: Dass es an der Zeit ist, aufs
Bremspedal zu treten, zur Besinnung zu kommen, dem druckvollen Schneller-Virtueller-Weiter unserer beschleunigten
Leistungs-
und Krisengesellschaft etwas entgegenzusetzen. Fragen zum Beispiel.
Utopien. Oder Werte, die schon ein bisschen älter sind und länger Bestand haben als ein EuroBond."
Weitere Artikel: In Österreich diskutiert man über den dort gerade erschienenen, in Frankreich hochgelobten Roman "Claustria" von
Régis Jauffret, der darin davon ausgeht, dass der Kindervergewaltiger
Josef Fritzl Mitwisser seiner Taten hatte, berichtet Cathrin Kahlweit, die den Roman für "beklemmend in seiner Ausweglosigkeit" hält. Michael Bitala porträtiert den kenianischen
Schriftsteller Ngugi wa Thiong'
o, der heute im Münchner Literaturhaus
liest. Womöglich gibt es zur umstrittenen
Museumsrochade in Berlin doch noch Alternativen, weiß Kia Vahland. Achim Landwehr liest in der
aktuellen Ausgabe der Zeitschrift
Historische Anthropologie unter anderem Wissenswertes über
Fürze im England des 17. Jahrhunderts.
Zum Klimt-Jubiläumsjahr erblickt man in Wien
Klimt-
Kitsch soweit das Auge reicht, berichtet eine dessen sichtlich überdrüssige Cathrin Kahlweit auf
Seite Drei.
Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von
Max Weiler in der
Pinakothek der Moderne in München,
Jan Lauwers' bei der
Ruhrtriennale aufgeführtes Theaterstück "Marketplace 76" ("Mal märchenputzig, mal märchenpathetisch. Selten märchenpoetisch", urteilt Vasco Boenisch) und
Clemens J.
Setz' Fantasyroman "Indigo" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).