Heute in den Feuilletons

Irgendwo irgendwas, und zwar jeden Tag

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2012. In der NZZ erklärt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, warum Blasphemie-Gesetze keinen Sinn haben. Wer sagt, dass man den Muslimen keinen Spott über ihre Religion zumuten darf, ist ein subtiler Rassist, meint Henryk Broder in der Welt. Während dessen meldet der Telegraph, dass eine iranische Stiftung die Morddrohung gegen Salman Rushdie erneuert. Viele Blogs setzen sich heute mit der Zukunft des Journalismus auseinander.

NZZ, 17.09.2012

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf erklärt, warum der liberale Staat nicht vor Blasphemie schützen kann, wobei er sich nicht auf die aktuellen Verwerfungen um das Mohammed-Schmähvideo bezieht, sondern auf Forderungen von Martin Mosebach und Robert Spaemann: "Recht kann Glaubensgefühle ebenso wenig schützen wie etwa ästhetische Emotionen. Es kann den Bürger nicht davor bewahren, dass manche Zeitgenossen durch Kleidung, Schmuck, Piercings oder Tattoos den feinen ästhetischen Sinn jeweils anderer beleidigen. Wollte er es, würde er zum Sittenstaat."

Der Schriftsteller und in Ohio Germanistik lehrende Gregor Hens schildert das Elend öffentlicher Universitäten in den USA, denen das Geld wie jeder akademische Ehrgeiz fehle: "In Ohio schießt der Steuerzahler nur noch sieben Prozent des jährlichen, etwa fünf Milliarden Dollar umfassenden Universitätshaushalts zu, während sich die Politik weiterhin erlaubt, die ohnehin niedrigen Studiengebühren zu deckeln. Die Ohio State University ist damit de facto eine Privatuniversität, die von kunst- und bildungsfeindlichen Provinzpolitikern gegängelt wird. In die finanzielle Bresche springen landesweit Sponsoren, die meist handfeste politische Interessen verfolgen."

Besprochen werden Stefan Bachmanns Bühnenversion der Genesis im Zürcher Schiffbaus sowie neue, in Luzern aufgeführte Werke von Michel Roth und Alfred Zimmerlin.

Welt, 17.09.2012

Es ist heute überhaupt kein Problem einen Film zu drehen, in dem Maria mit einem Kreuz masturbiert (Ulrich Seidlers mit dem Spezialpreis von Venedig ausgezeichneter Film "Paradies: Glaube"), einen "Balkensepp" auf die Titelseite einer Tageszeitung zu hieven (taz) oder den Papst in vollgepisster Robe abzubilden (Titanic). Warum glauben wir, in der islamischen Welt mehr Rücksicht nehmen zu müssen, fragt Henryk M. Broder anlässlich der gewalttätigen Reaktionen auf das Mohammed-Video "Die Unschuld der Muslime": "Man könne, so sagen es die Völkerpsychologen und Islam-Experten, den Muslimen so etwas nicht zumuten, die wären noch nicht so weit, Häme und Spott gegenüber ihrer Religion auszuhalten, ohne aus der Haut zu fahren. Man müsse ihnen noch etwas Zeit lassen. Wer so argumentiert, ist nicht nur ein Kulturrelativist, er ist ein subtiler Rassist."

Weiteres: Manuel Brug resümiert das Berliner Musikfest als das beste seiner Geschichte. Besprochen werden ein doppelter "Faust" in Frankfurt und die neue CD von Carly Rae Jepsen.

Weitere Medien, 17.09.2012

(via Gawker) Ayatollah Hassan Sanei, Kopf einer einflussreichen iranischen Stiftung, hat anlässlich des Mohammed-Videos erneut zum Mord an Salman Rushdie aufgerufen, berichtet Robert Tait im britischen Telegraph: "'It [the film] won't be the last insulting act as long as Imam Khomeini's historic order on executing the blasphemous Salman Rushdie is not carried out,' he said in a statement. 'If the imam's order was carried out, the further insults in the form of caricatures, articles and films would not have taken place. The impertinence of the grudge-filled enemies of Islam, which is occurring under the flag of the Great Satan, America and the racist Zionists, can only be blocked by the absolute administration of this Islamic order.'" Die Frage ist jetzt, ob dies auch der offizielle Standpunkt des Iran ist. Tait meint, ja.
Stichwörter: Gawker, Imam, Iran, Rushdie, Salman

Aus den Blogs, 17.09.2012

(Via Matthias Rascher) Kannten wir dieses Foto? Johannes Brahms mit zwanzig.

(via 3 quarks daily) Wann wurde die Literatur geboren? Eine kleine Lektion von Nabokov und Kafka via Christopher Plummer:


TAZ, 17.09.2012

Tim Caspar Boehmen berichtet von der Diskussion zwischen Judith Butler und Micha Brumlik, auf der Brumlik von der frisch gekürten Adornopreisträgerin forderte, auch die realen Konsequenzen ihrer universellen Kritik zu bedenken. Besprochen werden neue Dub-Alben und Friederike Hellers Inszenierung der "Dreigoschenoper", die Esther Slevogt die Evergreens in "zeitgemäßer Dringlichkeit" präsentierte.

Und Tom.

Aus den Blogs, 17.09.2012

(Via Thomas Knüwer) Diese Grafik (groß im Business Insider) zeigt die Entwicklung der Anzeigeneinnahmen amerikanischer Zeitungen von 1950 bis heute. Henry Blodget kommentiert: "Thanks to the precipitous decline in the last ~7 years, the industry is now back to where it was in 1950. And it's only slightly better off when you factor in online revenue."

In einem Vortrag über die Zukunft des Onlinejournalismus spricht SZ-Onlinechef Stefan Plöchinger recht offen über Manipulation mit Statistiken auf deutschen Nachrichtenseiten: "Wie kann es sein, dass eine Seite sehr viele Besucher hat und zugleich relativ wenig Besuche? Zahlen-Profis können die Gründe benennen, Suchmaschinenoptimierung und Klicktricks sind die häufigsten. Doch schon dieses Hinterfragen sparen sich viele Journalisten, Anzeigenkunden und Manager, nach dem Prinzip: Das sind eben die besten Zahlen, die wir haben."

Stefan Niggemeier dokumentiert eine Rede des Zeit Online-Chefs Wolfgang Blau bei einer Urheberrechtstagung der Grünen mit einer deprimierenden Einsicht über die Konkurrenz: "Das Leistungsschutzrecht war eine Machtprobe für den Springer-Verlag, und Springer hat gewonnen. Der Schaden ist vielfältig. Zum Beispiel wird nun kaum noch eine Debatte über die wirklich drängenden Fragen zum Urheberrecht möglich sein, bevor nicht die vielen offenen Fragen zu diesem neuen, diffusen Leistungsschutzrecht beantwortet sind."

Aufwachen! es ist Montag:


SZ, 17.09.2012

Zum ersten Jahrestag von Occupy schaut sich Peter Richter für eine Reportage auf Seite Drei in New York um und trifft auf die letzten verbliebenen "Hardliner", die versprengte Aktionen planen. "Aber nicht einmal alle Wortführer vom letzten Herbst wollen sich das noch selber anschauen. Naomi Klein? Sitzt in Kanada und schreibt ein Buch. Kalle Lasn? Sitzt ebenfalls in Kanada und schnitzt an neuen Ausgaben seiner Konsumbeschimpfungszeitschrift Adbusters. ... Die neue Taktik heißt 'Occupy Main Street!': Jeder macht ab sofort irgendwo irgendwas, und zwar jeden Tag."

Weitere Artikel: "Notwendig und erhellend" fand Lothar Müller eine Diskussionsveranstaltung mit Judith Butler und Micha Brumlik im Jüdischen Museum in Berlin, wo beide über das Verhältnis des Judentums zum Zionismus diskutierten. Michael Moorstedt stellt den Onlineservice Topsy vor, der soziale Medien abscannt und so zum Beispiel Hollywood beim Casting behilflich ist. Matthias Kolb spricht mit dem Autor Thomas Frank über Obamas Gegner. Karin Leydecker geißelt die allüberall aus dem Boden sprießenden Factory-Outlets als "autistische Erlebnis-Oasen".

Besprochen werden eine große, vom Goethe-Institut organisierte Beuys-Ausstellung in Moskau (deren "politische Utopie" in Russland allerdings "in der Luft hängen" bleibt, beobachtet Tim Neshitov), das an der Deutschen Oper in Berlin aufgeführte Musiktheaterstück "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" von Helmut Lachenmann (den Wolfgang Schreiber als "Wahrheitsbesessenen der Klänge" würdigt), neue Aufführungen von "Faust 1" und "Faust 2" am Schauspiel Frankfurt und Bücher, darunter eine Auswahl von Otto Klemperers Briefen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 17.09.2012

Michael Hanfeld erinnert daran, dass bei dem Video "The Innocence of Muslims", "zwei Monate ins Land (gingen), in denen sich kaum jemand um den Blödsinnsfilm kümmerte. Erst mit arabischer Übersetzung, mit gezielten Hinweisen und dem symbolischen Datum des 11. September im Blick bekam die Geschichte Façon."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier kann mit den Frankfurter "Fäusten" 1 und 2 (inszeniert von Stefan Pucher und Günter Krämer), in denen Mephisto "stets das Böse will, aber immer nur das Blöde schafft", nichts anfangen. Gemeldet wird, dass Jürgen Habermas den Düsseldorfer Heine-Preis (50.000 Euro) erhält. Der Historiker Gerd Schwerhoff erzählt die Geschichte der Ahndung von Blasphemie und tröstet Martin Mosebach damit, dass innerchristliche Blasphemien "Zeichen der Lebendigkeit des religiösen Geltungsspruchs" seien. Dieter Bartetzo freut sich über Funde archäologischer Ausgrabungen in Frankfurt. Astrid Kaminski besucht das Anwesen José Saramagos auf Lanzarote.

Besprochen werden Henzes monumentale Oper "Wir erreichen den Fluss" in Dresden, ein Konzert Marius Müller-Westernhagens in Köln und Bücher, darunter die Erinnerungen des einstigen Diplomaten und Chefs des jüdischen Museums in Berlin, Michael C. Blumenthal (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).