Heute in den Feuilletons

Steine siegen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2012. Nach Angela Merkels Plädoyer gegen eine Aufführung des Videos "Die Unschuld der Muslime" wird in deutschen Medien über Meinungsfreiheit diskutiert. Die FAZ fordert mehr Rücksichtnahme auf den Islam und lobt die traditionellen Medien für ihre Flexibilität. Die Welt ist gegen ein Aufführungsverbot. Auch Ayaan Hirsi Ali fordert, dass der Westen zu seinen Werten steht. Die SZ beharrt darauf: Der Protest gegen die Beleidung des Propheten hat rein soziale Ursachen!

Welt, 18.09.2012

Claus-Christian Malzahn plädiert auf der Forumsseite gegen ein Verbot, das Video "Die Unschuld der Muslime" aufzuführen. Die Gefährdung deutscher Botschaften im Ausland und Einschränkung ihrer Geschäftfähigkeit nimmt er zwar ernst: "Allein der Gedanke berührt die deutsche Staatsräson. Aber reicht dieses außenpolitische Argument, um die freie Meinungsäußerung im eigenen Land außer Kraft zu setzen? Selbst wenn einem der provokative Streifen zuwider sein sollte, kann man diese Frage nur mit Nein beantworten. "

Auch Ayaan Hirsi Ali sieht im Interview keinen Kompromiss zwischen Meinungsfreiheit und dem islamistischen Begriff von Blasphemie: "Der Westen sollte endlich aufhören mit der moralischen Relativierung und damit beginnen, seine Werte zu verteidigen. Das wird im Endeffekt weniger Leben kosten, als sich vorübergehend mit Diktatoren und Tyrannen zu verbünden."

Im Feuillleton schildert Andrea Backhaus die aus Kriegsfurcht gedrückte Stimmung in Israel zum jüdischen Neujahrstag. Marko Martin lässt sich von Attrappen der Meinungsfreiheit, die das chinesische Regime in Medien wie China Daily aufstellt, nicht einpacken. Manuel Brug wirft einen Blick auf die kommende Opernsaison in Berlin.

Besprochen werden Molières "Don Juan" mit Martin Wuttke in der Regie von René Pollesch an der Berliner Volksbühne und Régis Jauffrets Buch "Claustria" über den Fall Fritzl.

Weitere Medien, 18.09.2012

Vor zwei Jahren hatte Angela Merkel den dänischen Zeichner Kurt Westergaaard mit einem Preis für Meinungsfreiheit ausgezeichnet, gestern sagte sie auf ihrer Pressekonferenz, man könne seine Zeichnung auch "geschmacklos" finden und stellte ein Verbot für das Video "Die Unschuld der Muslime" in Aussicht. Lutz Kinkel kommentiert bei stern.de: "Eine Differenzierung zwischen den satirischen Zeichnungen Westergaards und dem aktuellen, plumpen Propagandavideo eines islamfeindlichen Softporno-Produzenten nahm Merkel nicht vor. Somit blieb die Frage, warum sie die Karikaturen für preiswürdig befunden hat, aber das Schmäh-Video in Deutschland nicht sehen will, unbeantwortet. Klare Kriterien und Orientierung lieferte die Kanzlerin nicht."

Mehr Gelassenheit fordert Amed Habdel-Samad im Interview mit dem Deutschlandradio Kultur von den Muslimen: "Man sollte sagen, okay, solche Filme existieren und man muss als Muslim lernen, dass man sechs Milliarden Menschen nicht kontrollieren kann, sondern die eigenen Emotionen. Dass man auch die eigene Religion relativiert. Und das ist eigentlich der Weg zur Reform."

Malte Lehming konstatiert in einem Kommentar für cicero.de: "Je aggressiver sich jene aufführen, die sich durch Wort, Ton, Bild oder Schrift beleidigt fühlen, desto eher können sie ein Verbot des beleidigungsverursachenden Mediums bewirken. Gewalt wird belohnt. Steine siegen."

TAZ, 18.09.2012

Der deutsch-irakische Schriftsteller Najem Wali wirft - ohne direkten Bezug zu den derzeitigen Verwerfungen - arabischen Intellektuellen vor, ihrer Nähe zur Macht erst abgeschworen zu haben, als ihnen diese Nähe nicht mehr nützlich war: "So wie die Machthaber im politischen Bereich über einen Kontrollarm aus Polizei, Armee, Sicherheitskräften und Geheimdiensten verfügen, so können sie sich im kulturellen Bereich auf die Dienste von Intellektuellen als Vermittler verlassen. Das muss nicht zwangsläufig durch eindeutige Lobhudelei geschehen, wie es beim eher grobschlächtigen und unklugen Regime Saddams der Fall war, sondern vielmehr durch eine gezielte Ummünzung der Themen in Literatur und Kunst, bis sie mit kreativem Schaffen nichts mehr zu tun haben. Daher wird in den Feuilletons unserer offiziellen Presseorgane stets ein Kampf der 'arabischen Nation' gegen Imperialismus und Zionismus heraufbeschworen."

Weiteres: Rudolf Balmer freut sich über Kürzungen im französischen Kulturetat, die vor allem das von Sarkozy geplante Maison de l'histoire de France treffen werden. Rene Hamann resümiert das Berliner Literaturfestival etwas schlechtgelaunt als zu unkonkret und disparat. Wohlwollender bilanziert Katharina Granzin das Literaturfestival "Sprachsalz" in Hall. Tim Caspar Boehme bespricht die Monteverdi-Trilogie an der Komischen Oper in Berlin.

Auf der Seite zwei berichtet Jannis Hagmann, dass die Islamverbände nicht einhellig Vorführverbot des Mohammed-Schmähvideos fordern.

Und Tom.

NZZ, 18.09.2012

Mit Entsetzen hat sich Dirk Pilz den "Faust" in Frankfurt angesehen und in Stefan Puchers Inszenierung des ersten Teil den Triumph eines alles überragenden Teufels über einen läppischen Gelehrten erlebt: "Eine Tragödie findet nicht statt." Joahim Güntner macht sich Gedanken über die Folgen von Biosprit für die weltweite Ernährungslage. Sieglinde Geisel berichtet von der Berliner Diskussion zwischen Judith Butler und Micha Brumlik.

Besprochen werden Leos Janáceks Oper "Katja Kabanowa" am Theater Basel, Ulf Erdmann Zieglers Roman "Nichts Weißes", Cora Diamonds Aufsätze zur Tierethik "Menschen, Tiere und Begriffe" und Maeve Brennans Kolumnen "New York, New York" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR/Berliner, 18.09.2012

Das Video "Die Unschuld der Muslime" richtet sich "gegen den Islam als Religion, nicht aber gegen Muslime", entschied Google und deshalb darf die ganze Welt den 14-minütigen Trailer weiter auf Googles Videodienst Youtube sehen. Die ganze Welt? "In Libyen, Ägypten, Indien, Indonesien und Malaysia sperrt Youtube den Zugriff", meldet Jonas Rest, "und zwar aus unterschiedlichen Gründen: In Indonesien, Malaysia und Indien erklärt Google die Sperrung damit, dass das Video gegen Gesetze der Länder verstoße. Die Verhinderung des Zugriffs auf das Video in Libyen und Ägypten wiederum begründete Google dagegen mit der 'besonders schwierigen Situation' in diesen Ländern." Dagegen hat inzwischen die amerikanische Electronic Frontier Foundation protestiert.

Recht beeindruckt sind gleich drei Autoren von Barrie Koskys Einstand bei der Komischen Oper Berlin, wo in einer zwölfstündigen Aufführung Monteverdis "Orpheus", "Odysseus" und "Poppea" gegeben wurde: ein "hyperbarockes Bildfeuerwerk".

Und Götz Aly fragt in seiner Kolumne mit Blick auf die Grünen: "Brauchen wir nach dem Ende der DDR eine zweite Gerontokratie, eine Herrschaft rüstiger Senioren, die an der Macht kleben?"

FAZ, 18.09.2012

Im Kommentar auf der Seite 1 der FAZ fordert Reinhard Müller "mehr Rücksichtnahme" auf den Islam: es sei nicht in Ordnung, die Meinungsfreiheit "auf provozierende Weise auszunutzen - nämlich so, dass andere sich verletzt fühlen" und überhaupt hätten wir diesen ganzen Schlamassel ohne das Internet nicht. (Salman Rushdie dürfte das anders in Erinnerung haben.)

Im Feuilleton möchte sich der Journalist Eren Güvercin als europäischer "traditioneller" Muslim weder vom Westen noch vom Islamismus vereinnahmen lassen, der für ihn eh nur eine Abart westlichen Denkens ist: "Wenn man sich Chefideologen und Vordenker wie Sayyid Qutb oder Maududi anschaut, auf die sich heutige Islamisten jeglicher Coleur berufen, so waren diese keine klassischen islamischen Gelehrten, sondern Journalisten, Naturwissenschaftler oder Ingenieure. Auch heute sind die führenden Köpfe ideologisierter Muslime oft Ingenieure und Naturwissenschaftler ohne eine theologische Kompetenz. Sie treten mit einem naturwissenschaftlich-technischen Denken an den Islam heran und bedienen sich aus dem Koran wie aus einem Werkzeugkasten. Der moderne Islamismus wird deswegen zum Problem, weil er eine kranke Mischform zwischen westlich-politischem Denken und Islam darstellt."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann würdigt Guido de Werd, der als Direktor des Museums Kurhaus in Kleve seinen Abschied mit der Wiedereröffnung des Ateliers von Joseph Beuys (mehr hier) gibt. Mark Siemons skizziert kurz die beschämende Situation japanischer Geschäfte in China angesichts des chinesisch-japanischen Streits um drei Inseln.

Besprochen werden die Adaption der "Genesis" am Schauspiel Zürich, die Aufführung von Carl Orffs "Prometheus" bei der Ruhr-Triennale, das Tourneeauftaktkonzert von Calexico in Köln, die Aufführung von Robert Wilsons und Philip Glass' Oper "Einstein on the Beach" in New York, eine Ausstellung der Fotografien von Käthe Buchler im Städtischen Museum und Museum für Photographie Braunschweig (mehr hier) und die Ausstellung "Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930" im Centrum Judaicum Berlin.

SZ, 18.09.2012

Ob nun gegen einen Diktator oder gegen einen missliebigen Film rebelliert wird - beides würde laut Rudolph Chimelli nicht passieren ohne das neue "Subproletariat" in den Städten der arabischen Welt. Hätten die Betroffenen "Arbeit und ein eigenes Heim, gäbe es für sie eine Perspektive. Würden sie in Verhältnissen leben, die man in Europa 'geordnet' nennt, hätten sie weder für Proteste auf dem Kairoer Tahrir-Platz noch für Krawalle vor Botschaften Zeit. ... Kenner behaupten, ohne dieses neue Subproletariat hätte es keinen Aufstand gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad gegeben."

In ihrem Documenta-Resümee erklärt Catrin Lorch das Erfolgsrezept der internationalen Kunst-Großveranstaltung: "Zwischen den wimmeligen, unzählig gewordenen Biennalen und Triennalen zeigt sich eine Documenta mit der Majestät des weißen Wals, der nur alle paar Jahre auftaucht. "

Weiteres: Felix Stephan berichtet vom Besuch des Investmentbankers Martin Wiesmann beim Literaturfestival in Berlin, der den dort anwesenden Literaten erklärte, dass nicht nur seine Branche, sondern auch die Nationen an der Eurokrise Schuld hätten. Britta Schwern berichtet von den Sorgen vieler Gitarristen um ihre Palisanderholz-Instrumente, die sie aus Naturschutzgründen nicht mehr auf der Bühne spielen dürften. Georg Imdahl schreibt den Nachruf auf den Bildhauer Serge Spitzer. Diedrich Diederichsen erlebt auf dem neuen, mit St. Vincent eingespielten Album von David Byrne "ein alle in die Arme schließendes Schunkelwunder"- hier das aktuelle Video:



Besprochen werden die Eröffnungspremieren am Schauspiel Hamburg, darunter René Polleschs "Neues vom Dauerzustand", die ebenfalls von René Pollesch inszenierte lose "Don Juan"-Adaption an der Volksbühne in Berlin, die Aufführung von Carl Orffs "Prometheus" bei der Ruhrtriennale (Helmut Mauró ist überwältigt von der Kraft, die "im reinen Erzählen liegt, wie diese elementare Kunst sich mit existenziellem Kult vermengt und unausweichliche Faszination entwickelt"), der Film "Wir wollten aufs Meer", die serbische Schwulenkomödie "Parada" und Bücher, darunter Helon Habilas Roman "Öl auf Wasser" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).