Heute in den Feuilletons

Alles wird dauernd anders

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.09.2012. In der FAZ sprechen Timothy Snyder und Ian Kershaw über die "Bloodlands". Im Buchreport denkt der Literaturwissenschaftler Stephan Porombka über die Zukunft des Buchs, in Carta denkt Wolfgang Michal über die Vergangenheit des Urheberrechts nach. In der Welt fürchtet Necla Kelek, dass die Salafisten in arabischen Ländern weiter Terrain gewinnen. Die Debatte über ein Aufführungsverbot für das Video "Die Unschuld der Muslime" geht weiter. Und der Grünen-Politiker Omid Nouripour fragt in der FR, warum sich die arabischen Zivilgesellschaften nicht wehren. Außerdem liest Tilda Swinton "Moby Dick".

FR/Berliner, 19.09.2012

Gewiss, es sind nur Minderheiten, die in den arabischen Ländern gegen das Video "Die Unschuld der Muslime" protestieren, schreibt der Grünen-Politiker Omid Nouripour, aber "das Erschreckende ist das Schweigen der bedrohten moderaten Mehrheit in diesen Ländern... Damit liefert sich die Mehrheit aber passiv der aggressiven Dominanz einer gefährlichen fundamentalistischen Weltsicht aus. Die Moderaten vergeben damit nicht nur die Chance auf internationale Anerkennung, sie verlieren so vor allem an Boden im innenpolitischen Kampf um die Vorherrschaft gegen die Extremisten."

Ein ganz aktueller Tickerbericht informiert online über die Sorge der französischen Regierung, dass die Satirezeitscrift Charlie Hebdo mit ihrer Ankündigung ernst macht, in der nächsten Ausgabe Mohammed-Karikaturen zu veröffentlichen. Außerdem erinnert Daniel Barenboim an den Dirigenten Kurt Sanderling, der in diesen Tagen hundert Jahre alt würde. Arno Widmann räumt Bücher vom Nachttisch. Marin Majica und Ulrike Simon müssen feststellen: "Broder beleidigt Augstein." Und Anke Westphal bespricht Michal Hanekes neuen Film "Liebe".

Aus den Blogs, 19.09.2012

Richard Herzinger wendet sich in seinem Blog gegen ein Aufführungsverbot für das Video "Die Unschuld der Muslime": "Indem man die Lesart übernimmt, dieser Streifen habe die mörderischen Gewaltexzesse in Libyen, Ägypten, Tunesien, Jemen und Sudan 'provoziert', hat man sich der Logik und den Forderungen der islamistischen Erpresser bereits gebeugt. Denn diese nehmen die vermeintliche 'spontane', in Wahrheit aber sorgfältig inszenierte Empörung 'muslimischer Massen' nur als Vorwand, um den Westen zum Kotau vor ihrer Auffassung von 'Religionsfreiheit' zu zwingen."

Wolfgang Michael begibt sich für einen instruktiven Essay in Carta auf die Spur des Begriffs "Geistiges Eigentum", der aus der deutschen Romantik stammt: "Das moderne deutsche Urheberrecht - entwickelt unter dem Eindruck der französischen Revolution (und in Preußen 1837 erstmals kodifiziert) - ist bis zum heutigen Tag eine romantische Verquickung von Persönlichkeits- und Vermögensrechten, die so unauflösbar miteinander verquirlt sind, dass nur Explosivstoffe oder starke Zentrifugen die beiden Rechte wieder voneinander trennen können."

Perlentaucher, 19.09.2012

Thierry Chervel wendet sich gegen die von den Medien gern vorgebrachte Behauptung, der aktuelle Hassausbruch in arabischen Ländern sei durch das Internet verschuldet. Das Youtube-Video war ohnehin nur ein Vorwand: "Das Missverständnis lautet, dass der 'Missbrauch der Meinungsfreiheit' im Westen die Empörung im Orient auslöst. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Die inszenierte Empörung im Orient dient dazu, die Freiheit im Westen einzuschränken."

Was haben vierzig Jahre Europa Portugal gebracht? Warum haben die reichen Europäer in Portugal, Spanien oder Griechenland totalitäre Zustände geduldet, die sie in ihren eigenen Ländern nie toleriert hätten? In der Reihe "Ein literarischer Rettungsschirm für Europa" zieht der portugiesische Autor Pedro Rosa Mendes ine bittere Bilanz: "Dies ist übrigens eine für 'Europa' durchaus vorteilhafte Amnesie. It's the history, stupid: Portugal hat nicht zu 'Europa' gefunden, als es sollte und konnte, da 'Europa' und 'Amerika', mit anderen Worten die westlichen Demokratien, nach 1945 der Ansicht waren, dass es sich letztlich nicht lohne, zu viel Druck auf Salazar (und Franco) auszuüben. Die großen Protagonisten des 'europäischen Projekts' und der Atlantischen Allianz erachteten es als akzeptabel, dass Portugiesen (sowie Spanier und Griechen) weiterhin unter protofaschistischen Regimen lebten, unter der Zwangsherrschaft von Gewalt und Unwissen, die sie für ihre eigenen Völker nie geduldet hätten."

TAZ, 19.09.2012

Meike Laaf porträtiert den Spreeblick-Blogger Johnny Häusler, der nicht sonderlich gut auf die Musikindustrie zu sprechen ist, seit diese die Karriere seiner Band Plan B beendet hat. Trotzdem habe er lange den Kompromiss zwischen Musiker und Downloadern gesucht: "Doch dann kam der Juni dieses Jahres. Und Haeusler hatte keine Lust mehr auf den ganzen Konsenskram. 'Ich wollte einfach nicht mehr Kindergärtner sein', sagt er. War genervt von der Flut offener Briefe. Der 'Wir sind die Urheber'-Aufruf in der Zeit war dann wohl einer zu viel. In seiner Kolumne in der Musikzeitschrift Spex pöbelte Haeusler los. Ärgerte sich über diese 'ehemaligen Punkrocker', die 'mit erhobenem Zeigefinger vor jungen Menschen stehen und etwas von Recht und Ordnung faseln, als hätten sie sich in ihrer Blütezeit erst einmal eine Arbeitsgenehmigung für ihre Gigs geholt und nicht gesoffen und gekifft, weil es in ihrem damaligen Alter schließlich verboten war.'"

Cristina Nord feiert Michael Hanekes in Cannes mit der Goldenen Palme prämierten Film "Liebe", über ein Paar in seinen Achtzigern: "Obwohl der Tod seine Schatten vorauswirft, waltet in diesem Kammerspiel nicht die für den Regisseur so charakteristische Unerbittlichkeit, sondern Güte, Milde und die titelgebende Liebe."

Besprochen werden Nis Momme-Stockmanns Stück "Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir" (das Alexander Kohlmann als "gefühlten Antikapitalismus" verschmäht) und das Album "Pecados Tropicales" der Kumbia Queers.

Welt, 19.09.2012

Mit Blick auf den neuen Hassausbruch in arabischen Ländern berichtet Necla Kelek von einer Reise in diese Länder und ihre Befürchtung, dass die Salafisten etwa in Tunesien weiter expandieren: "Die tunesische Zivilgesellschaft verfügt noch nicht über die demokratischen Abwehrmechanismen, die Salafisten in die Schranken zu weisen. Die Polizei ist durch die Kollaboration mit dem Ben-Ali-Regime diskreditiert und steht jetzt unter dem Befehl der islamistischen Ennahda-Regierung, die sich nicht eindeutig von den Salafisten distanziert. Die Demokratiebewegung wird - obwohl sich inzwischen Gewerkschaften und Bürgerrechtler organisieren - durch den Druck des Tugendterrors der Salafisten zerrieben."

Im Feuilleton kann sich Jan Küveler nicht hundertprozentig mit Salman Rushdies Erinnerungen an die Zeit der Fatwa anfreunden: "Er redet einstigen Freunden schlecht nach, von denen er sich verraten fühlt, weil sie ihm Lust an der Provokation unterstellen."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek findet die enge Zusammenarbeit zwischen der Bundeswehr und Till Schweiger, der sich in seinem jüngsten Film als Afghanistan-Soldat in Szene setzt, problematisch. Anke Sterneborg unterhält sich mit Michael Haneke über dessen neuen Film "Liebe", den sie auch bespricht. In seiner Kolumne "J'accuse" spricht Alan Posener über den ehrwürdigen Brauch der Polygamie, der anders als andere alttestamentliche Praktiken abgeschafft wurde.

Besprochen werden Carl Orffs "Prometheus" bei der Ruhrtriennale und neue Inszenierungen in Zürich.

NZZ, 19.09.2012

Ursula Seibold-Bultmann freut sich über die Ausstellung, die die Stadt Siegen der Malerin Bridget Riley - zusammen mit dem Rubenspreis - den Rubenspreis in seinem Museum für Gegenwartskunst widmet. Riley arbeitet nicht nur mit Farben und Kontrasten, erklärt Seibold-Bultmann, sondern mit farbigen optischen Nachbildern auf der Netzhaut: "Über die Jahrzehnte hat Riley ein solches Wissen im Umgang mit Farbkontrasten und koloristischen Harmonien erworben, dass ihre meist aus einfachsten Formen komponierten, großformatigen Gemälde vor den Augen des Betrachters in verblüffende Bewegung geraten - so als seien die einzelnen Farben Zirkusartisten mitten in einer Vorführung."

Außerdem: Stephan Templ beklagt die Ungerechtigkeiten, zu der die Enteignung des böhmischen Adels 1945 geführt habe und die Tschechien sich weigere, rückgängig zu machen.

Besprochen werden Helmut Lachenmanns Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" an der Deutschen Oper in Berlin, Jan T. Gross' neues Buch "Angst" über Antisemitismus nach Auschwitz in Polen, Frode Gryttens Yuppie-Roman "Ein ehrliches Angebot" und Martin Walsers laientheologischer Essay "Rechtfertigung" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 19.09.2012

(via) Warum sich nicht mal von Tilda Swinton "Moby Dick" vorlesen lassen? Für die tolle Website Moby Dick Big Read, die nach und nach alle (von verschiedenen Rezitatoren vorgelesene) Kapitel des Walklassikers online stellt, hat sie sich für das erste Kapitel vor das Mikrofon gesetzt. Nennt sie Ishmael:

Stichwörter: Moby, Swinton, Tilda

Weitere Medien, 19.09.2012

Im Gespräch mit Lucy Mindnich in buchreport.de denkt der Literaturwissenschaftler Stephan Porombka über die Zukunft des Buchs nach - und die ist offener denn je: "Man wird wohl entwickeln müssen, was der Soziologe Dirk Baecker Unsicherheitskompetenz nennt. Denn das Entscheidende an den kommenden Veränderungen wird sein: Sie stellen keine Stabilität mehr her. Alles wird dauernd anders. Deshalb lässt sich auch die Frage, wie wir zukünftig lesen und schreiben werden, nicht wirklich beantworten. Denn es wird das große 'Wir' nicht mal mehr als Fiktion geben. Und 'das' Lesen und 'das' Schreiben wird es auch nicht mehr geben." Prombka veranstaltet zu dem Thema am nächsten Wochenende eine Konferenz in Berlin.

Die angekündigten Mohammed-Karikaturen der neuen Nummer von Charlie Hebdo sind bisher nicht zu finden (bis auf eine Seite hier). Hier das Cover: "Ziemlich beste Freunde 2".



Pierre Haski berichtet im Blog rue89 über die Provokation: "Der Chef von Charlie Hebdo, der Zeichner Charb antwortet den Kritikern der Zeichnungen im voraus: Sie werden 'all jene schockieren, die schockiert sein wollen, indem sie eine Zeitschrift lesen, die sie nie lesen'."

SZ, 19.09.2012

Kia Vahland spricht mit dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp über die Dynamiken des kontroversen Mohammed-Videos: "In seiner Kläglichkeit weist sich der Trailer aber gerade nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als ein künstliches Produkt aus. ... Was ich in dem Trailer gesehen habe, könnte ein böswilliger und unkundiger Betrachter auch so interpretieren: Zu sehen ist ein islamistischer Film, der die Kläglichkeit der antiislamischen Propaganda paradox überspitzt."

Tobias Kniebe hält Kino-Andacht vor Michael Hanekes neuem Film "Amour": "Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant, die beiden Stars des Films, spielen das wirklich perfekt. Sie sind selbst beide jenseits der achtzig, und man spürt, dass sie auf sehr viel Leben zurückblicken - Trintignant zum Beispiel auf den gewaltsamen Tod seiner Tochter Marie. Abgesehen davon, dass der Film ihre Gesichter gern in ein weiches Fensterlicht hüllt, macht hier auch niemand den Versuch, die Flecken und Rötungen und die durchscheinende Zerbrechlichkeit des Alters zu beschönigen."

Weitere Artikel: Florian Welle berichtet von einer Tagung der Stiftung für Romantikforschung. Georg Imdahl gratuliert dem Kunsthistoriker Gottfried Boehm zum 70. Geburtstag. Helmut Mauró feiert die 21-jährige Cellistin Harriet Krijgh, von der wir auf Vimeo ein Strauss-Konzert finden:



Besprochen werde neue Popveröffentlichungen, die große Monteverdi-Trilogie an der Komischen Oper in Berlin ("Event, Event, die Oper brennt", ulkt Kristina Maidt-Zinke), Nis-Momme Stockmanns "Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir" am Schauspiel Hannover und Bücher, darunter "Die digitale Gesellschaft" von Markus Beckedahl und Falk Lüke (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Außerdem mittlerweile online ist Matthias Brandts bereits am Samstag auf der Medienseite der SZ veröffentlichte, sehr persönliche Empfehlung von Dominik Grafs Essay- und Porträtfilm "Lawinen der Erinnerung" über den Fernsehautor Oliver Storz, den arte heute Abend ausstrahlt.

FAZ, 19.09.2012

Auf der Geisteswissenschaftenseite fasst Jürgen Kaube die Historikerdiskussion um Timothy Snyders Buch "Bloodlands" (Leseprobe) zusammen. Im Gespräch mit Snyder und Ian Kershaw über den organisierten Massenmord im 20. Jahrhundert erklärt Snyder, warum in den "Bloodlands", dem Raum zwischen Baltikum und Ukraine, mehr Menschen umgebracht wurden als anderswo in Europa und so viele dabei mitmachten: "Die Verbündeten des Deutschen Reichs - darunter Italien, Ungarn und Rumänien - funktionierten als Staaten. Dagegen gab es in Polen, Litauen und Lettland keinen Staat mehr, das übersehen deutsche Historiker meines Erachtens. In den 'Bloodlands' haben sehr viele Leute auf beiden Seiten mitgemacht, doppelte Besatzung bedeutete doppelte Kollaboration. Das zwingt uns, darüber nachzudenken: Wenn einer Polizist war für Polen, die Russen und die Deutschen, dann kommt man mit ideologischen Erklärungen nicht weiter."

Im Feuilleton fände es Christian Geyer richtig, würde die Vorführung des Mohammed-Videos in Deutschland nach dem Versammlungsrecht verboten. Stefan Schulz sieht die Piratenpartei entkernt. Niklas Maak begutachtet den von Rudy Ricciotti und Mario Bellini entworfenen Erweiterungsbau für die Islamische Kunst (mehr hier) im Louvre.

Auf der Medienseite berichtet Daniel Meuren über ein Interview des Magazins Fluter mit einem anonymen, homosexuellen Fußballspieler, den außer dem Interviewer Adrian Bechtold kein Mensch kennt (auch der Chefredakteur von Fluter nicht), weshalb sich die Frage stellt, ob das Interview ein Fake ist (mehr hier und hier).

Besprochen werden Michael Hanekes Film "Liebe", zwei Opernaufführungen in Berlin, nämlich Helmut Lachenmanns "Mädchen" an der Deutschen Oper und ein neunstündiger Monteverdi-Marathon an der Komischen Oper, ein Konzert von Kid Kopphausen in Köln und die Uraufführung von Nis-Momme Stockmanns neuem Stück "Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir" in Hannover.