Heute in den Feuilletons

Stockwerk für Stockwerk

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2012. In der Welt erinnert Wolfgang Kraushaar an den Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim in München 1970 und hofft, dass das Schweigen der Täter und Mitwisser demnächst gebrochen werden kann. Die taz hat gelesen und befunden, dass die deutsche Literatur sehr wohl auf der Höhe der Zeit sei. NZZ und FAZ erinnern an den Skandal der Fatwa gegen Salman Rushdie. Die SZ bringt Jürgen Habermas' Rede zum Juristentag, in der er einen Zusammenschluss Europas gegen die Finanzmärkte empfiehlt.

Welt, 22.09.2012

Wolfgang Kraushaar erinnert an eine der schändlichsten Episoden der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, die Zeit des frühen Terrorismus ab 1970, in der, so scheint es, deutsche Terroristen um Dieter Kunzelmann und palästinensische Terroristen eng zusammenarbeiteten. Georg M. Hafners Film "München 1970", der vor einigen Wochen im Ersten lief, hatte dieser Zeit bereits nachgespürt. Einer der Gipfel des damaligen Horrors war der Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim in München, bei dem sieben Menschen starben. Kraushaar schildert den Anschlag: "Ein Unbekannter war mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren und hatte im hölzernen Treppenhaus Stockwerk für Stockwerk einen Aral-Kanister geleert und, wieder im Eingangsbereich angekommen, das Öl-Benzingemisch angezündet. Die Flammen breiteten sich in rasender Geschwindigkeit aus; im Nu war eine Sogwirkung wie in einem Kamin entstanden. Die Eingeschlossenen hatten kaum eine Chance. Einer rief in Todesangst aus einem der Fenster: 'Wir werden vergast!'" Trotz intensivster Ermittlungen konnte die Münchner Polizei den Fall nicht klären. Kraushaar hofft, dass das Schweigen einiger Täter und Mitwisser in den nächsten Monaten gebrochen wird.

Weitere Artikel in der Literarischen Welt: Geert Mak geht der europäischen Krise auf den Grund, die sowohl in einer Festigung als auch in einer Lockerung der Union enden könne. Besprochen werden unter anderem Art Spiegelmans "Metamaus", Ulf Erdmann Zieglers Roman "Nichts Weißes", Ben Marcus' Roman "Flammenalphabet", David Mitchells Roman "Die tausend Herbste Des Jacob de Zoet", ein erstes Buch zur Beschneidungsdebatte und ein erster Band einer sechsbändigen Weltgeschichte bei C.H. Beck.

Im Feuilleton nahm es Harald Peters auf sich, das neue Album von Kool Savas Und Xavier Naidoo anzuhören und kann kaum fassen, wie krude Pop sein kann: "Wir versuchen zusammenzufassen: Schwule Kapitalisten entwickeln unter dem Eindruck der Macht eine unbändige Lust, Kinder abzuschlachten, und schließen sich zu diesem Zweck zu Geheimgesellschaften zusammen. Verzweifelt erhebt Naidoo seine Stimme: 'Wo sind unsere starken Männer, wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt?'"

Außerdem: Sascha Lehnartz stellt den Architekten Rudy Ricciotti (Website) vor, der den Islam-Anbau des Louvre entwarf, dessen Präsentation ebenfalls erstmals begutachtet wird. Manuel Brug unterhält sich mit Cecila Bartoli über den Kompnisten Agostino Steffani, den sie zusammen mit Donna Leon (!) wieder entdeckte und auf ihrer neuen CD präsentiert. Andrea Hanna Hünniger geht mit dem Piraten Christopher Lauer im Berliner Borchardt essen.

Im Forum misstraut Richard Herzinger der Formel vom "verantwortungsvollen" Umgang mit der Meinungsfreiheit: "Welch eine Logik, die unsere elementaren Freiheitsrechte zu Schönwetterwerten degradieren will, deren Genuss wir uns nur gönnen dürften, solange sie uns nicht von ihren Todfeinden unter Gewaltandrohung bestritten werden!"

Perlentaucher, 22.09.2012

Norbert Scheuer erzählt eine Geschichte aus dem Grenzland zwischen Deutschland und Belgien. Von hier fliegen die Kraniche in den Süden: "Karl dachte daran, dass die Griechen das Reich der Toten, den Hades, auch rückwärts betraten, was sie vor sich gehabt hatten, war ihre Vergangenheit. Auf den Höhenrücken drehten sich Windräder, am Himmel schwebten Kranichzüge zu ihren Winterquartieren, die Wälder leuchteten berauschend bunt, der Zug fuhr in einen Tunnel, danach ein Industriegebiet, vom Bahndamm sah er auf dicht aneinandergedrängte Hausdächer einer Ortschaft hinunter."

FR/Berliner, 22.09.2012

Marie Gutbub empfiehlt eine im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehende Ausstellung mit Fotografien von Dennis Hopper, die erst nach seinem Tod 2010 in einer Kiste gefunden wurden: "Es handelte sich um die vergessenen Fotografien aus den Ausstellungen vom Anfang der 1970er. Etliche Abzüge sind verkratzt, verfärbt, manche Ecken sind zerfasert. Die Bilder sind also Vintage im besten Sinn: nicht nur einfach alt, sondern authentisch, ursprünglich."

Gerade ist im Verlag C.H. Beck der erste Band einer auf sechs Bände angelegten "Geschichte der Welt" erschienen. Herausgeber sind der amerikanische Historiker Akira Iriye und der in Konstanz lehrende Historiker Jürgen Osterhammel. Letzterer erklärt Arno Widmann im zweiseitigen Gespräch, was diese Weltgeschichte auszeichnet: "Sie ist der erste Versuch, die Geschichte der Zivilisationen, die bisher nebeneinander dargestellt wurden, zusammen zu sehen: als Globalgeschichte, also als Geschichte weiträumiger Verbindungen, Einflüsse, Mischungen und Verursachungen, als Konnektivität, wie die Amerikaner prägnant sagen. Das Wort wird sich im Deutschen vermutlich nicht einbürgern."

Außerdem: Eher missmutig berichtet Jens Balzer von Lady Gagas Auftritt in Berlin: Es passt "weder die Musik zu den Bildern, noch passen die Bilder zu den Texten." Dirk Pilz liest die 10. Ausgabe des Journal of Modern European History. Und Susanne Gaensheimer erklärt im Interview, warum sie für den deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig keine jungen deutschen Künstler eingeladen hat: Nachwuchsförderung sei nicht Aufgabe des Pavillons.

NZZ, 22.09.2012

In Literatur und Kunst findet es Thomas W. Gaehtgens vom Getty Research Institute in Los Angeles zwar nicht abwegig, dass die Berliner Gemäldegalerie umzieht, aber er stellt auch eine Forderung, die jenseits des Horizonts Berliner Stadtpolitik liegt: "Man kann sich in der Tat nur schwer vorstellen, die Gemäldegalerie auf die Museumsinsel zu bringen, wenn nicht wenigstens Planungssicherheit für den Erweiterungsbau vis-à-vis dem Bode-Museum besteht."

Ulf Erdmann Ziegler erinnert sich an seine Kindheitsjahre in Köln: "Wenn ich heute durch Köln fahre, hat mich immer noch nicht das Gefühl verlassen, dass ihre Unfassbarkeit, Enge und Geschwindigkeit keine Drohung sei; dass es gut ist, im Großen klein zu bleiben, als wenn man auf einer Welle ritte."

Besprochen werden die Ausstellung "Mythos Olympia" im Berliner Martin-Gropius-Bau und Bücher von und über Vita Sackville-West.

Im Feuilleton nähert sich Heidi Gmür , die Australien-Korrespondentin der NZZ, dem Buchmessengestland Neuseeland an. AngelaSchader liest Salman Rushdies Erinnerungen an die Zeit der Fatwa un d stellt fest: "Das beharrliche Insistieren auf dem, was er als sein Recht wahrnahm, hat Rushdie in der Öffentlichkeit geschadet." Martin Alioth berichtet, dass historische Dokumente der irischen Geschichte im Internet zugänglich gemacht wurden.

Besprochen werden die Ausstellung "Alice im Wunderland der Kunst" in Hamburg und Bücher, darunter Gundi Feyrers Roman "Die Trinkerin oder mein Leben und ich".

TAZ, 22.09.2012

Die deutsche Gegenwartsliteratur ist nicht auf der Höhe der Zeit? Für "aktuelle Selbstverständigungsdebatten unserer Gesellschaft" unbrauchbar? Von wegen, man muss nur genauer lesen, ruft Dirk Knipphals in einem Überblicksartikel über aktuelle Neuerscheinungen seinen Kollegen aus der Literaturkritik im Allgemeinen und Sibylle Lewitscharoff im Besonderen zu. "Was", fragt er, wenn "man sich nur irgendwie angewöhnt hat, falsch auf (die Literatur) zu hören? ... Ambivalenzen, das ist ein Schlüsselwort vieler interessanter Romane dieses Herbstes; und man kann den Verdacht hegen, dass die Beobachtungsraster noch nicht darauf eingestellt sind, das adäquat wahrzunehmen. Dass Romane überhaupt auf dem Fundament komplexer Gegenwartsanalysen geschrieben sein können, natürlich ohne in ihnen aufzugehen, ist etwas, was auch der Literaturbetrieb selbst derzeit nicht so recht auf dem Schirm hat."

Der Islamwissenschaftler Guido Sternberg erklärt Raphael Sartorius im Interview, warum der Westen von randalierenden Salafisten für das Mohammed-Video in Sippenhaft genommen wird: "Islamisten glauben, dass der Westen gezielt versucht, die religiösen und kulturellen Grundlagen der islamischen Zivilisation zu beseitigen." Dazu passend erklärt Titanic-Chefredakteur Leo Fischer Julia Mateus im Gespräch, warum die Titanic Bettina Wulff und Mohammed aufs nächste Cover hievt: Der Titel "soll davor warnen, dass sich Bettina Wulff an die Islamkritik dranhängt. Er soll gegenüber den Gefahren sensibilisieren, die von dieser geltungssüchtigen Frau ausgehen."

Weiteres: Für eine Reportage besucht Johannes Gernert die amerikanische Stadt Stockton, die nach Geschäften mit den Lehmann Brothers bankrott ist. Die Philosophin Susan Neiman wünscht sich für Obama mehr "Druck von links", verrät sie Ingo Arend im Gespräch. Waltraud Schwab spricht hier und hier mit südafrikanischen, bzw. türkischen Gender-Aktivistinnen über die queer-politische Situation in ihren Ländern. Torsten Kleinz berichtet von Streitigkeiten hinter den Wikipedia-Kulissen. Lady Gaga ist eine "großartige Entertainerin", schwärmt Julia Niemann nach dem Besuch deren Berliner Konzerts. Anne Fromm unterhält sich ausführlich mit der Hamburger Musikerin Bernadette La Hengst unter anderem über Geschlechterfragen in der Musik und politischen Protest. Auf Youtube finden wir ihr aktuelles Musikvideo:



Besprochen werden Bücher, darunter David Mitchells Roman "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet", den Cristina Nord als "kunstvoll ausstaffierte Wunderkammer" feiert (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Aus den Blogs, 22.09.2012

(via 3 quarks daily) Wie man freihändig einen perfekten Kreis zeichnet:


FAZ, 22.09.2012

Nils Minkmar liest die Erinnerungen Salman Rushdies an seine Zeit als "Joseph Anton" und erinnert an das eigentliche Skandalon der "Satanischen Verse", die ja im Grunde ein wenig gelesenes Buch sind: Sie erzählen, dass der Koran auch nur eine Erzählung ist und holen ihn auf den Boden der Tatsachen zurück: "Es ist der Stoff, aus dem eine aufgeklärte Geschichte dieser Religion geschrieben werden könnte, die Basis für eine neue islamische Kultur, die der schärfste Kontrahent des Islamismus wäre."

Weitere Artikel: Aufmacher ist die Dankrede Frank Schirrmachers für die Joseph-Neuberger-Medaille der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf (in der er sich auch gegen die Beschneidungsdebatte aussprach). Christian Geyer plädiert mit Blick auf Charlie Hebdo und die Hassfestivals in islamischen Ländern für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Meinungsfreiheit. Jürgen Dollase geht bei Thierry Marx essen, der aus dem Bordelais nach Paris gewechselt ist. Auf der Medienseite empfiehlt Jochen Hieber den neuen "Tatort" aus Dortmund. Für die letzte Seite fragte man, inspiriert durch die schon angesprochenen Konvulsionen in der islamischen Welt, sieben Autoren, was ihnen heilig ist. Eine Feuilleton-live-Beilage präpariert uns mit stimmungsvollen Artikeln für den Herbst.

Besprochen werden zwei Ausstellungen über die Welt der Kelten in Stuttgart, ein Konzert Lady Gagas in Berlin und Bücher, darunter Steve Sem-Sandbergs Ulrike Meinhof-Roman "Theres".

In Bilder und Zeiten erinnert sich der südafrikanische Autor Emanuel Derman an seine Kindheit in Südafrika. Irene Bazinger porträtiert die porträtiert die Theater-Requisiteurin Angelika König. Durs Grünbein erinnert sich an seine Jugend, in der ihn die Frage umtrieb, warum seine Eltern ihn nicht hatten taufen lassen. Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite stellt Eleonore Büning eine neue Recital-CD Cecilia Bartolis vor. Im Interview auf der letzten Seite unterhält sich Sandra Kegel mit dem neuseeländischen Tattoo-Künstler Mark Kopua.

Für die Frankfurter Anthologie liest Frieder von Ammon ein Gedicht Ernst Stadlers - "Vorfrühling:

In dieser Märznacht trat ich spät aus meinem Haus.
Die Straßen waren aufgewühlt von Lenzgeruch und grünem Saatregen.
(...)"

SZ, 22.09.2012

Das SZ-Feuilleton dokumentiert Jürgen Habermas' gestern gehaltene Rede vor dem Deutschen Juristentag, in der der Sozialforscher neuerlich sein Plädoyer für eine Einschränkung nationaler Souveränität zugunsten Europas bekräftigt: "Im Teufelskreis zwischen den Gewinninteressen der Banken und Anleger und dem Gemeinwohlinteresse überschuldeter Staaten sitzen die Finanzmärkte am längeren Hebel. ... Während sich die Politik den Marktimperativen unterwirft und die Zunahme sozialer Ungleichheit in Kauf nimmt, entziehen sich systemische Mechanismen zunehmend der intentionalen Einwirkung demokratisch gesetzten Rechts. Dieser Trend ist, wenn überhaupt, ohne eine Rückgewinnung politischer Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene nicht umzukehren."

Weitere Artikel: Auf dem Columbus Circle in New York hat der Künstler Tatzu Nishi die Kolumbusstatue mit einem Wohnzimmer umgeben, berichtet Peter Richter (hier einige Eindrücke). Laura Weißmüller inspiziert den Neubau der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Jens Bisky berichtet von der Eröffnung von Yadegar Asisis Mauerpanorama am Checkpoint Charlie in Berlin. Alex Rühle besucht in Köln eine Pressekonferenz zu Lars von Triers neuem Film "Nymphomaniac". Kristina Maidt-Zinke plaudert mit Donna Leon und der Sängerin Cecilia Bartoli über den Barockkomponisten Agostino Steffani. Gottfried Knapp gratuliert dem Bildhauer Joannis Avramidis zum 90. Geburtstag.

Auf der Medienseite beschreibt Bernd Graff, mit was für Vereinbarungen und Verträgen freie Fotografen bei Popkonzerten gegängelt werden.

Besprochen werden Andreas Gurskys Ausstellung "Bangkok" im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, eine Ausstellung zum 150-jährigen Bestehen des Gleimhauses in Halberstadt und Bücher, darunter Rolf Dobellis "Die Kunst des klugen Handelns" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Für die SZ am Wochenende begibt sich Hilmar Klute in die "Welt der wissenschaftlichen Studien", in der "kaum ein Irrsinn vergessen" wird. Alex Rühle porträtiert den Schriftsteller John Green, dessen Onlineaktivitäten er sichtlich bestaunt. Ex-Spiegel-Redakteur Dieter Wild erinnert an die Spiegelaffäre, mit der "die idyllische Zeit der alten Bundesrepublik" endete. Tim Neshitov besucht Menschen in Bosnien-Herzegowina, die bis heute unter den zahlreichen, im Land vergrabenen Minen leiden. Tanja Schwarzenbach spricht mit der Armutsforscherin Esther Duflo (siehe auch dieses Porträt im Telegraph).