Heute in den Feuilletons

Ein herzförmiges Loch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.09.2012. Die Welt erzählt, wie  Glenn Gould und Elisabeth Schwarzkopf einmal nicht zusammen musizierten. Dafür spielt Lang Lang auf dem Klavier von Gould Bach, und zwar recht schnell. Zu Goulds Achtzigstem. In der FR spricht sich Götz Aly für eine Velegung der Stasiakten ins Bundesarchiv aus. Die NZZ liest eine Studie, die herausgefunden hat, dass Deutschland von Fukushima doppelt so heftig betroffen war wie Großbritannien. Und in der SZ erklärt der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm zornigen jungen Männern, was es mit dem öffentlichen Frieden auf sich hat.

Welt, 25.09.2012

Zum Achtzigsten von Glenn Gould ist ein wirklich originelles, "substanziell Neues offerierendes" Doppelalbum erschienen, freut sich Manuel Brug. Michael Stegemann hat den legendären Versuch von Glenn Gould und Elisabeth Schwarzkopf, einige Strauss-Lieder aufzunehmen, zu einem Doku-Drama verarbeitet: "Die Sitzungen wurden ein Desaster, Gould improvisierte fröhlich vor sich hin, die Sängerin verkrampfte immer mehr ('ich verschließ mich'), hustete und röchelte ('I'm full of Schleim'), während 'der junge Mann, der offenbar Drogen nahm', nicht einmal die Ergebnisse abhörte. Nach dem Legge-Satz 'Ich glaube, du sollst aufhören, mein Schatz. Du wirst dir nur schaden...' war Schluss."

Weitere Artikel: John Cale informiert uns im Interview über sein neues Album "Shifty Adventures in Nookie Wood", dass "Nookie" ein "englisch-amerikanisches Slangwort für Sex" ist. Nach einem Blick auf die Zahlen, die die amerikanische Politikwissenschaftlerin Megan Reif über die Demonstrationen gegen das Mohammed-Video zusammengetragen hat, notiert Hannes Stein: "Den meisten Muslimen auf der Welt geht jenes YouTube-Video am Allerwertesten vorbei". In seiner Feuilleton-Kolumne ist Marc Reichwein heute bei H wie Hornist. Hannes Stein porträtiert die amerikanischen Mormonen als ganz normale Leute, die eine "merkwürdige, sehr milde, etwas fade Theologie" haben.

Besprochen werden eine Aufführung von Paul Hindemiths Einakter "Mörder, Hoffnung der Frauen" an der Oper Bonn, Utz Maas' Buch "Was ist deutsch? Die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse in Deutschland" und eine Ausstellung mit bisher unveröffentlichten Skizzen Goethes in der Casa di Goethe in Rom.

Und: "Warum dominieren in unserer säkularen Gesellschaft die Gefühle?", fragt entnervt Cora Stephan im Forum.

FR/Berliner, 25.09.2012

Götz Aly ist anders als Behördenleiter Roland Jahn nicht der Ansicht, dass die Stasiakten unbedingt in der ehemaligen Stasizentrale verbleiben sollen: "Jahns bescheidene Textbrocken ('authentischer Ort', 'engagierte Bürgervereine', 'Serviceleistungen'), setzen nämlich voraus, dass die papierenen, fotografischen und tönenden Reste der Stasi dauerhaft separat im Lichtenberger Ekelkomplex eingebunkert werden. Die Hinterlassenschaften der Stasi gehören jedoch ins Bundesarchiv, genauso wie alle anderen erhaltenswerten Überlieferungen der DDR-Ministerien und der SED."

Im Interview mit Doris Meierhenrich spricht Theaterregisseur Milo Rau über sein Ansinnen, Anders Breiviks Verteidigungsrede als Theatertext zu inszenieren. Ihn interessiert dabei gerade die Distanz von Text und Tat: "Für mich ist das ein Text aus Europa und das Ziel meiner Inszenierung ist, dass die Person Breivik ganz hinter diese 'Erklärung' zurück tritt. Mir scheint es fast zufällig, dass er es gerade ist, der diesen Text spricht. Man meint, es sei etwas ganz Abseitiges, was der da gesagt haben muss, aber sieht man den Text, merkt man, dass man diese Sprechweisen längst pausenlos erträgt."

NZZ, 25.09.2012

Auf der Medienseite berichtet Stephan Russ-Mohl von einer Studie der Kommunikationsforscher Hans Mathias Kepplinger und Richard Lemke, die zeigen will, wie tendenziös Zeitungen in Europa über Fukushima berichtet haben: "Die untersuchten deutschen Medien brachten in den vier Wochen nach dem Reaktorunfall 577 Beiträge über Fukushima, in der Schweiz waren es 521, während die Forscher in Frankreich 319 und in England nur 271 zählten. Die deutschen Journalisten schenkten dem Thema also mehr als doppelt so viel Aufmerksamkeit wie die britischen. Noch verblüffender sind die Differenzen bei der Bewertung des Ereignisses. Die britischen und die französischen Medien beschäftigten sich weit intensiver mit dem Reaktorunfall in Japan selbst, während die deutschen und die Schweizer Redaktionen das Unglück vor allem zum Anlass nahmen, die Situation im eigenen Land auszuleuchten."

Weiteres: Joachim Güntner berichtet vom deutsch-chinesischen Gesprächsforum in Neuhardenberg. Aldo Keel meldet, dass ein Mäzen das Osloer Ibsenmuseum rettet.

Besprochen werden Andreas Homoki Einstand am Opernhaus Zürich mit Leoa Janaceks "Jenufa" ("ein starkes Stück, ein starker Abend", freut sich Peter Hagmann), eine Inszenierung von Strindbergs "Fräulein Julie" mit Juliette Binoche in London, A. L. Kennedys neuer Roman "Das blaue Buch" und Lars Brandts Roman "Alles Zirkus" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Perlentaucher, 25.09.2012

Der Abbau der inneren und äußeren Grenzen Europas bedeutet, dass der schon beinahe metaphysische Beweis der Möglichkeit der Freiheit trotz allem erbracht werden konnte, schreibt der ungarische Autor György Dragomán: "Denn mit den Erfahrungen der Diktaturen im Rücken ist es offensichtlich, dass dies der einzige Sinn von Europa sein kann, die immer wieder von Neuem durchlebte Freiheit, dafür ist das Ganze da, dafür, dass jeder europäische Bürger sie erlebe. Man darf niemals vergessen, dass das keineswegs selbstverständlich ist..."
Stichwörter: Dragoman, György, Europa

Aus den Blogs, 25.09.2012

Lang Lang spielt auf dem Piano von Glenn Gould und noch viel schneller als dieser:



Der bekannte Filmkritiker Roger Ebert erklärt Mitt Romney mithilfe einer Sequenz aus "Goldfinger", warum die Idee, Fenster in Flugzeugen zu öffnen, nicht opportun ist: "Why the windows on airplanes don't roll down."

Wie wird man 107 Jahre alt? Juliana Koo, die es geschafft hat, gibt diesen guten Rat: "Kein Sport, soviel Butter essen, wie man mag und nie zurückschauen."

TAZ, 25.09.2012

Etwas erschöpft berichtet Sonja Vogel vom Steirischen Herbst, der sie mit einem siebentägigen Programmmarathon rund um die Uhr ziemlich mitnahm: "Der bekannteste Gast des Festivals ist Antanas Mockus. Der Mathematiker und Philosoph infiltrierte erfolgreich die kolumbianische Politik mit künstlerischen Strategien. In seiner Amtszeit als Bürgermeister von Bogotá, das von Bandenkriminalität und Drogenkartellen zerfressen ist, ersetzte er Polizisten durch Pantomimen, trat mit einer kugelsicheren Weste auf, in die ein herzförmiges Loch gestanzt war, und ließ Waffen gegen Spielzeug tauschen... Die Statistiken gaben Mockus recht: die Zahl der Morde und Verkehrstoten in Bogotá sank drastisch."

Isolde Charim beklagt in ihrer Kolumne, dass die Schulen keine Citoyens mehr ausbilden, sondern Humankapital optimieren: "Eben dies subvertiert natürlich die alte Vorstellung, dass Bildung gleichbedeutend mit Emanzipation ist. Genau jene Attribute des Subjekts, die im Dienste der Emanzipation stehen sollten - von Selbstverantwortung bis Eigensinn -, haben sich zur Ressource der neoliberalen Subjektivität verwandelt."

Weiteres: Katja Lüthge verbeugt sich tief vor Art Spiegleman, der am Sonntag in Berlin den Siegfried-Unseld-Preis erhalten hat und empfiehlt zur Klärung aller Fragen zu Comics und Holocaust sein "Meta-Maus". Ulrich Rüdenauer bespricht Reinhard Kaiser-Mühleckers Romanepos "Roter Flieder" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

SZ, 25.09.2012

Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm hat einen Grundsatzartikel zum Mohammed-Video verfasst, in dem er insbesondere gegenüber den Rücksichtsrhetorikern, aber auch den Mosebach-Anhängern unmissverständliche Ansagen trifft und den moderierenden Säkularstaat einer multireligiösen Gesellschaft stark macht: "Weiterhin wäre es ein Irrtum, eine Gefährdung des öffentlichen Friedens durch religionsbezogene Äußerungen (...) darin zu erblicken, dass die Betroffenen mit Gewaltakten reagieren. Eine religionsbezogene Äußerung gefährdet den öffentlichen Frieden, wenn durch sie die Sicherheit der Zielgruppe bedroht ist, nicht wenn die Zielgruppre ihrerseits die Sicherheit anderer bedroht."

Weitere Artikel: Johan Schloemann stimmt auf den Deutschen Historikertag ein, wo man sich in den kommenden Tagen unter anderem auch über die Renaissance der großen Ideen in der Geschichtsschreibung austauschen wird. Michael Stallknecht hätte sich gewünscht bei den Autorentagen in Schwalenberg mehr über den dort geehrten Martin Mosebach zu erfahren. Franz Himpsl berichtet von einer philosophischen Tagung über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Reinhart Meyer-Kalkus schreibt den Nachruf auf den Wissenschaftshistoriker Yehuda Elkana.

Besprochen werden eine Ausstellung in Florenz über italienische Kunst unter dem Faschismus der Dreißigerjahre, die Art-Spiegelman-Retrospektive im Museum Ludwig in Köln, Leos Janaceks "Jenufa" an der Oper Zürich, Martin Krumbholz' "Grandhotel Bogotá" am Schauspiel Darmstadt und Bücher, darunter die Neuauflage des Tagebuchs von Eva Zsolt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 25.09.2012

Andreas Platthaus hat in Köln Art Spiegelman getroffen, wo dem Autor und Zeichner eine Ausstellung gewidmet ist, und Spiegelman äußerte sich auch über den Film "Die Unschuld der Muslime": "'Natürlich habe ich den Film gesehen, und natürlich will ich darüber reden', sagt Spiegelman, 'es ist ein lächerliches Werk, nicht der Rede wert, aber gerade darum ist das, was daraus entstanden ist, so bemerkenswert. Niemand hätte sich dieses Filmchen je bei Youtube angesehen, wenn es nicht die Proteste dagegen gegeben hätte. Diejenigen, die ihn aus der muslimischen Welt skandalisierten, haben auf so einen Anlass gewartet. Sie benutzen ihn nur für etwas, das sie sowieso tun wollten.'"

Weitere Artikel: Alle freuen sich in Großbritannien auf Joanne K. Rowlings ersten Erwachsenenroman "A Casual Vacancy", schreibt Gina Thomas, nur die Bewohner ihres Heimatdorfs nicht, die in dem Roman offenbar nicht immer vorteilhaft porträtiert werden.Oliver Tolmein malt sich nach jüngsten Regelungen zur Sterbehilfe aus, wie"im schlimmsten Fall" im Jahr 2030 gestorben wird. Reinhard Veser berichtet über Streit um das Neue Theater Budapest, das ein Stück mit antisemitischen Verschwörungstheorien aufführen wollte - ein Plan, der nur provisorisch gestoppt zu sein scheint. Martin Bachmann und Felix Pirson vom Deutschen Archäologischen Institut feiern die Zusammenarbeit mit türkischen Behörden bei der Arbeit an der Pergamongrabung. Jan Wiele folgte einer Tagung über Thomas Mann und die Bildenden Künste. Für die Medienseite hat Thomas Thiel ein Symposion über die Spiegel-Affäre vor fünfzig Jahren besucht.

Bsprochen werden die Spiegelman-Ausstellung (und zwar in Form eines Comics von Ulf K.), zwei Janacek-Inszenierungen in Zürich und Basel und Bücher, darunter Carol Birchs Roman "Der Atem der Welt" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).