Heute in den Feuilletons

Der Heiland war kein Single

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.09.2012. Im Perlentaucher skizziert Stephan Porombka die Zukunft des Schreibens. Felix Schwenzel nahm an einer Diskussion über "geistiges Eigentum" teil und verließ sie in tiefer Hoffnungslosigkeit. Die Tagesschau-App eines bestimmten Tages wurde gerichtlich verboten - und die FAZ feiert das als "Zeichen der Freiheit". Die NZZ beleuchtet die bewegte Geschichte der Inselgruppe Senkaku beziehungsweise Diaoyu. Die SZ verzweifelt an Berlin. Aber Kai Biermann weist einen Weg aus der Krise.

Aus den Blogs, 28.09.2012

Felix Schwenzel nahm an einer von Gruner und Jahr organisierten Podiumsdiskussion über den "Schutz geistigen Eigentums" teil und verließ sie in tiefer Hoffnungslosigkeit. Angetroffen hatte er: "rechtevertreter die aggressiv und tief emotional auf die lebenswirklichkeit von jugendlichen reagieren. rechtsanwälte die glauben mit rechtsdurchsetzung liessen sich alle gesellschaftlichen probleme und umwälzungen lösen. einen piraten der kaum zu wort kam und wenn er das wort hatte, die forderungen seiner partei nicht klar rüberbringen konnte. einen GEMA-vertreter der maximalforderungen stellt, aber auch legale angebote wie spotify als unbefriedigend und unzureichend für die urheber darstellt. menschen in leitenden positionen in medienunternehmen und berater die offenbar ratlos sind. medienunternehmer die von legalen angeboten schwadronieren, aber selbst unfähig sind attraktive angebote zu entwickeln."

Und hier noch eine Twitter-Mitteilung von @KaiBiermann: "Sehr geehrte @SBahnBerlin wg Störung im Betriebsablauf verzögert sich mein Fahrscheinkauf um wenige Stationen. Ich bitte um ihr Verständnis."

TAZ, 28.09.2012

Pascal Beucker stellt klar, dass das Urteil Kölner Landgerichts gegen die Tagesschau-App kein Grundsatzurteil ist. Verboten werde nur die Weiterverbreitung der Tagesschau-App vom 15. Juni 2011: "Eine allgemeine Aussage zur nach dem Rundfunkstaatsvertrag zulässigen Länge oder Ausführlichkeit von Texten enthalte das Urteil jedoch nicht, betonte das Gericht."

"Urlaub von der Realität" bescheinigt im Kulturteil Cornelia Siebeck einem Filmprojekt des Bundestagspräsidiums, "Dem deutschen Volke. Eine parlamentarische Spurensuche vom Reichstag zum Bundestag", das derzeit jeden Abend am Marie-Elisabeth-Lüders-Haus gezeigt wird: der halbstündige Film lasse "deutsche Nationalgeschichte für Dummies Revue passieren". Detlef Kuhlbrodt besuchte die Berliner Präsentation von Rainald Goetz' neuem Buch "Johann Holtrop". Thomas Abeltshause berichtet von den Filmfestspielen in San Sebastian, die sich durch den nationalistisch inspirierten Generalstreik im Baskenland nicht stören ließen.

Besprochen werden die Premiere des Musiktheaters "When the mountain changed its clothing" von Heiner Goebbels in der Bochumer Jahrhunderthalle ("ein sich geheimnisvoll gebender Folkloreabend"), das Album "Shields" der US-Band Grizzly Bear und das Album "Key to the Kuffs" der HipHop-Band JJ Doom.

Und Tom.

Perlentaucher, 28.09.2012

Heute findet in Berlin die Litflow statt, die sich mit der Zukunft des Buchs und des Schreibens befasst. Aus einem programmatischen Essay des Mitorganisators Stephan Porombka im Perlentaucher: "Dieses Jahr wird es in Frankfurt eine besondere Buchmesse geben. Nicht wegen der Anwesenden. Viel interessanter ist, was noch nicht da ist. Der Markt für literarische Produkte befindet sich in einem epochalen Umbruch. Und kaum jemand weiß, ob man im nächsten Jahr noch das machen wird, was man jetzt macht."

Wenn der lettische Autor Sergej Timofejew versucht, sich Europa vorzustellen, steht er "vor einer kilometerlangen und stummen Mauer, der Europäischen Mauer, der Mauer meiner eigenen Unfähigkeit, der Mauer eines tiefen Unverständnisses". Nur die Alten wissen, was Europa für sie ist.
Stichwörter: Berlin, Europa, Zukunft, Umbruch

NZZ, 28.09.2012

Der Japanologe Florian Coulmas beleuchtet die bewegte Geschichte der von Japan, China und Taiwan beanspruchten Inselgruppe Senkaku beziehungsweise Diaoyu. Zuletzt wurde die Frage bei Friedensverhandlungen zwischen Japan und China am 29. September 1972 vertagt: "Deng Xiaoping, Architekt von Chinas Rapprochement an Amerika und Japan, stellte fest: 'Es ist nicht schlimm, wenn diese Frage eine Weile offenbleibt, zehn Jahre vielleicht. Die nächste Generation wird klüger sein als wir und sicher eine für alle Seiten annehmbare Lösung finden.' Der Realpolitiker Deng täuschte sich."

Weiteres: Dass Jesus eine Frau oder Gefährtin gehabt habe, wie ein unlängst entzifferter koptischer Papyrus nahelegt, ist nichts sensationell Neues, klärt der Theologe Bernhard Lang auf: bereits im Johannes-Evangelium findet sich der verschlüsselte Hinweis, dass der Heiland kein Single war.

Die Schweizer Folksängerin Sophie Hunger spricht im Interview über ihr neues Album "The Danger Of Light". Besprochen werden die Uraufführung von Heiner Goebbels' Musiktheaterprojekt "When the mountain changed its clothing" bei der Ruhrtriennale und Bücher, darunter - am 70. Geburtstag der Autorin - Donna Leons neuer Krimi "Himmlische Juwelen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 28.09.2012

Heute werden, in verschiedenen journalistischen Formaten, vor allem Bücher besprochen. Es geht um die Autobiografie von Neil Young (hier), um die offenbar sehr idyllischen Erinnerungen Dieter Stoltes, des ehemaligen ZDF-Intendanten, der später (man höre und staune) Herausgeber von Welt und Berliner Morgenpost wurde (hier), und um einen Krimi im Altkreuzberger Bohème-Milieu (hier) von Christian von Ditfurth. Außerdem besucht Paul Badde das italienische Städtchen Calcata, wo das Sanctum Preputium Jesu, Jesu Vorhaut also verehrt wurde, bis sie 1983 veschwand.

Besprochen wird außerdem der Film "Messner" über die Bergsteigerkarriere des gleichnamigen Kletterers (mehr hier).
Stichwörter: Young, Neil, Morgenpost

FAZ, 28.09.2012

Etwas wird verboten - in diesem Fall die Tagesschau-App eines bestimmten Tages - und die FAZ feiert es als ein "Zeichen der Freiheit": "Das Landgericht stellt nämlich klar, dass die ARD hier ein rechtswidriges, weil presseähnliches, nichtsendungsbezogenes Angebot vorgelegt hat. Deshalb ist der Unterlassungsanspruch der Verlage begründet," schreibt Reinhard Müller auf Seite 1 der Zeitung. Und im Medienteil lautet der Titel des Berichts: "Sieg der Verlage". (Uns war gar nicht klar, dass die FAZ mit Informationsfreiheit Freiheit von Information meint!)

Der Erfolg der Datenschützer, die kürzlich Facebook dazu brachten, die automatische Gesichtserkennung abzustellen, sollte einen angesichts neuer Fortschritte der dafür nötigen Technologie nicht einlullen, warnt Constanze Kurz: So untersuchten Forscher "Profilfotos von unbekannten Personen auf einer Flirt-Plattform und glichen sie algorithmisch mit den öffentlich zugänglichen Profilfotos auf Facebook ab. Jeder zehnte Mensch wurde dabei sofort identifiziert. In einem zweiten Schritt nutzen die Forscher eine Webcam, um Fotos von vorbeilaufenden Studenten auf dem Campus aufzunehmen und diese abermals mit den Facebook-Profilfotos abzugleichen. Dabei wurde sogar jeder dritte der Studierenden innerhalb von drei Sekunden algorithmisch erkannt."

Weitere Artikel: Für den Aufmacher auf Seite 1 begibt sich der Satiriker Severin Groebner ins hessische Meerholz bei Gelnhausen, das Geografen als aktuellen Mittelpunkt der EU ermittelt haben. In den großen Berliner Buchläden herrscht wenig Interesse am neuen Roman von J. K. Rowling, beobachtet Andreas Platthaus vor Ort. Kein Wunder, schreibt Felicitas von Lovenberg, der Roman richte sich ja auch explizit an Erwachsene. Kerstin Holm besucht in Moskau eine Konferenz über Konservatismus in Deutschland und Russland, wo unter anderem - von deutschem Gelächter begleitet - von erblühenden russischen Großreichen geträumt wurde. Heinz-Elmar Tenorth schreibt den Nachruf auf den Sozialpädagogen Walter Hornstein.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Thomas Scheibitz im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, die Ausstellung "Expanding Horizons" in der Schottischen Nationalgalerie in Edinburgh, Völker Löschs "Rote Erde" am Schauspiel Essen und Bücher, darunter David Bezmogis Roman "Die freie Welt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 28.09.2012

Das bürgerliche Leben in Berlin erblüht zwar, doch von Widerstand gegen die Misswirtschaft des Senats keine Spur, ärgert sich Jens Bisky, der die Gleichgültigkeit des Berliners nicht fassen kann. "Galeristen, Literaturagenten, Professoren, Immobilienmakler rechnen im Gespräch gern vor, was das Flughafendesaster für eine Stadt bedeutet, die mit rund 60 Milliarden Euro verschuldet ist, in der Grundschulen, Theater, Bibliotheken um ein paar tausend Euro kämpfen müssen, während in Schönefeld ein paar hundert Millionen Euro mehr verpulvert werden. Aber das Unbehagen bleibt vorpolitisch, provoziert keine wutbürgerlichen Aktionen, Empörung verrauscht im sarkastischen Witz."

Weiteres: Das neue Album von John Cale klingt, als würde der Musiker "mit gefrorener Miene, Knautschledermantel und aufgeklapptem Rasiermesser durch die Popgeschichte schreiten wie der Mörder durch einen Dario-Argento-Horrorfilm", stellt Joachim Hentschel erstaunt fest. Joseph Hanimann spricht mit der Schriftstellerin Yasmina Reza. Kristina Maidt-Zinke gratuliert Donna Leon zum 70. Geburtstag. Die Historikerin Astrid M. Eckert berichtet von Plänen, das Staatsarchiv in Georgia zu schließen.

Besprochen werden eine "üppig bestückte, sehenswerte" Frank-Stella-Retrospektive im Kunstmuseum Wolfsburg, Terence Davies' neuer Film "The Deep Blue Sea", Franz Wittenbrinks "Aida" am Schauspielhaus Hamburg und Gedichte von Olga Martynova (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).