Heute in den Feuilletons

Moderner Weltverkehr

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2012. Auch die Intellektuellen in Ägypten interessieren sich nicht für die Rechte der Frauen, erklärt in der NZZ die Autorin Salwa Bakr. Kafka wollte keinen Sex mit Frauen, behauptet in der FR Saul Friedländer. In der SZ warnt der Jurist Stefan Huster vor dem Betroffenheitskitsch in politischen Debatten. Alle freuen sich über den Buchpreis für Ursula Krechel. Nur die SZ hätte sich etwas mehr ästhetischen Furor gewünscht.

NZZ, 10.10.2012

Die Schriftstellerin Salwa Bakr spricht im Interview mit Claudia Mende über die Lage der Frauen in Ägypten, die nicht nur unter den Muslimbrüdern zu leiden haben: "Heute sagen zwar alle, dass die Muslimbrüder und die Fundamentalisten für die Probleme der ägyptischen Frauen verantwortlich seien, aber das sehe ich nicht so. Meiner Meinung nach sind die Intellektuellen genauso verantwortlich, denn obwohl sie sich für die Elite der Gesellschaft halten, denken sie letztlich nicht viel anders über Frauen als die Muslimbrüder. Die ägyptischen Intellektuellen diskutieren über Politik und Kultur, aber Frauenrechte spielen in ihren Debatten keine Rolle."

Weiteres: Joachim Güntner berichtet vom Auftakt der Buchmesse und würdigt in einem weiteren Text den Wilhelm Fink Verlag zum fünfzigjährigen Bestehen als "modisch randständig und akademisch grundsolide". Besprochen werden eine Retrospektive zum Tessiner Bildhauer Remo Rossi in der Casa Rusca in Locarno und Julie Bondelis Briefe.

Aus den Blogs, 10.10.2012

(via) Vor 140 Jahren, genauer: Am 02. Oktober 1872 ließ Jules Verne den Gentleman und Sonderling Phileas Fogg zur berühmten Reise "In 80 Tagen um die Welt" aufbrechen. Eine Gruppe Kulturwissenschaftler feiert das Jubiläum mit einem sehr schönen Blogprojekt, das bis Dezember die tägliche Lieferung eines neuen Essays zu Vernes Abenteuerroman verspricht. Im Einleitungstext erfahren wir, dass das Erscheinungsdatum "einen besonderen historischen Moment in der Geschichte der Reisen um die Welt, einen Moment zwischen der Faszination ihrer Machbarkeit und ihrer Normalisierung [markiert]. Es ist der Moment, in dem das, was inzwischen Normalität geworden scheint, zum ersten Mal nicht nur Seeleuten, Missionaren und Wissenschaftlern zugänglich ist, sondern 'normalen' Dampfschiff- und Eisenbahnpassagieren, Touristen, Kolonialbeamten, Soldaten - oder Spielern. Denn genau in dem Moment, als der moderne Weltverkehr mit seinen Netzwerkstrukturen entsteht, entsteht auch ein spielerisches Interesse daran, die Möglichkeiten und Grenzen dieses Netzwerks auszuprobieren." Von besonderem Interesse für Perlentaucher-Leser dürften wohl Roman Lachs Überlegungen zu Phileas Foggs Zeitungen aus netzwerktheoretischer Sicht sein.

Welt, 10.10.2012

Auf der Buchmesse erzählt die neue Buchpreisträgerin Ursula Krechel Elmar Krekeler, dass sie mit ihrem Roman über einen Richter, der vor den Nazis fliehen musste und im Nachkriegsdeutschland um Wiedergutmachung kämpft, nicht nur die Lebensgeschichte Richard Kornitzers erzählen wollte, sondern auch eine Geschichte Nachkriegsdeutschlands: "Kalt war die frühe Bundesrepublik im Gegensatz zu anders lautenden Geschichtsbildern, weil es 'eine sich blind stellende Heimat war', sagt Ursula Krechel, 'sich blind stellend gegen alle, die ihre Heimat verloren haben. Es sind doch sowieso überhaupt nur fünf Prozent aller Emigranten zurückgekommen, mit großem Idealismus, mit so viel Hoffnung. Und gegen Widerstände.'"

Weiteres: In der Leitglosse verteidigt Mathias Kamann die Nominierung von Pussy Riot für den Preis "Das unerschrockene Wort" gegen Kritik von Friedrich Schorlemmer. Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Schauspielerin Martina Gedeck und Regisseur Julian Pölsler über die Verfilmung von Marlen Haushofers Roman "Die Wand" (daneben gibt es eine Besprechung). Sarah Elsing würdigt das Marketing von Hamburgs Hafen City. Besprochen wird René Jacobs' Aufnahme der frühen Mozartoper "La finta giardiniera".

TAZ, 10.10.2012

Heute erscheint die Literataz. Unter anderem feiert Shirin Sojitrawalla die satirische Raffinesse des Inders Kiran Nagarkar, "alles und jedem in einem verächtlichen Satz seine Liebe zu erklären" (hier unser Vorgeblättert zu seinem Roman "Die Statisten". Dirk Knipphals lobt Katherine Boos Mumbai-Reportage "Annawadi oder der Traum von einem besseren Leben". Und Detlev Claussen liest erschüttert Yiao Liwus Buch "Die Kugel und das Opium" über das Massaker am Tiananmen-Platz 1989: "Liao hat seine Bestimmung darin gefunden, dem Durchschnittschinesen wie der von China faszinierten westlichen Welt die Lehre des Gulag mitzuteilen, nämlich, es gebe Schlimmeres zu fürchten als den Tod."

In der Kultur lobt Ulrich Rüdenauer die Jury des Buchpreises noch mehr als dessen neue Preisträgerin Ursula Krechel. Als typischen Olivier-Stone-Film - etwas unsubtil, aber sehr engagiert - genießt Barbara Schweizerhof dessen Verfilmung von Don Winslows "Savages".

Und Tom.

Weitere Medien, 10.10.2012

In der FR erklärt der Historiker Saul Friedländer im Interview, warum er ein Buch über Kafkas homosexuelle Neigungen geschrieben hat: "Die Kafka-Kenner haben es lange nicht zur Kenntnis genommen, obwohl es einen Dschungel voller Bücher über ihn gibt. Einfach unglaublich. Dabei zeigten seine Briefe, dass Kafka keinen Sex mit Frauen wollte, er sah den Koitus als eine Strafe an. Und in seinen fiktionalen Texten treten die Frauen als gefährliche Wesen auf. Doch keiner wollte das sehen und hat dieses heikle Thema angefasst, ob er ein Schwuler war oder nicht. Wie konnte das im 20. Jahrhundert sein? Das war schlecht für Kafka und für die Interpretation seiner Texte."
Stichwörter: Sex, Friedländer, Saul

SZ, 10.10.2012

Bei Fragen wie der Beschneidung oder der Stammzellenforschung, die als ethisch heikel gelten, wird gern das Gewissen der Abgeordneten bemüht. Doch wenn der Fraktionszwang aufhört, meint der Jurist Stefan Huster, fängt der Politkitsch an: Die "Hochachtung der individuellen Gewissensentscheidung ist nicht nur tendenziell demokratie-, sondern vor allem politikfeindlich. Sie will Politik durch Ethik ersetzen. Und dies kann für die verhandelten Probleme fatale Konsequenzen haben. Am deutlichsten wird dies, wenn in den einschlägigen Debatten eine weitere Zauberformel aus dem Hut gezogen wird: Das Recht sei ja schließlich auch eine 'Wertordnung'. Ist dies einmal gesagt, fühlt sich jeder bemüßigt, sein moralisches Innenleben nach außen zu kehren und alle politischen Rationalitäten über Bord zu werfen."

Leicht skeptisch stimmt Lothar Müller das "gute Gefühl des Lesers" bei der Lektüre von Ursula Krechels frisch mit dem Buchpreis prämierten Roman "Landgericht" auf der historisch und moralisch richtigen Seite zu stehen: Zu wünschen sei dem zeitgenössischen Roman, "dass er nach der verdienstvollen historischen Recherche nun ... die zweite Stufe zündet: den ästhetischen Furor, der den Ton der Zeitgeschichte und das Landgericht sprengt."

Weitere Artikel: Volker Breidecker stößt beim Flanieren durch den von Andrew Patterson entworfenen neuseeländischen Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse auf "manche Trouvaillen". Werner Bloch berichtet von der offenbar recht bizarren, von Saudi-Arabien finanzierten und ausgelobten Verleihung des Übersetzerpreises in Berlin (dessen früherer Preisträger Hartmut Fähndrich im übrigen mitteilt, das hohe Preisgeld nie im vollen Umfang erhalten zu haben). Mit einigem Befremden schreibt Tim Neshitov über den Aufruf des chinesischen Murakami-Übersetzers Lin Shaohua, der sich wegen des Inselstreits zwischen Japan und China trotz der zu Mäßigung aufrufenden Kommentare des japanischen Autors vehement gegen den weiteren Verkauf von dessen Werke in China ausspricht. Lothar Müller erzählt die Geschichte des seit 1996 leer stehenden und nun, trotz Denkmalschutz, zu verfallen drohenden Joachimsthalischen Gymnasiums in Templin. Gemeldet wird, dass der prognostizierte Siegeszug des E-Books die Diskussionen auf der Buchmesse bestimmt.

Besprochen werden der Saisonbeginn am Schauspiel in Bochum, eine Ausstellung über Land Art im Haus der Kunst in München und Paula Morris' Roman "Rangatira" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 10.10.2012

Mit dem Buchpreis für Ursula Krechel wird für Andreas Platthaus endlich die Tatsache gewürdigt, dass die Bundesprepublik auch vor 1989 brisanten Stoff zu bieten hatte. Nils Minkmar ist unzufrieden mit Angela Merkels Auftritt in Griechenland. Sachbuchautor Michael Jürgs erzählt im Interview von der mutigen Agentin Nancy Wake, die im Zweiten Weltkriegs die Resistance mitorganisierte, was der britische Geheimdienst würdigte, indem er ihr ein Drittel weniger zahlte als ihren männlichen Kollegen. Martin Lindinger stellt die beiden Quantenoptiker vor, die den Physiknobelpreis erhalten: David Wineland und Serge Haroche. Swantje Karich schreibt zum Tod des belgischen Malers Raoul de Keyser.

Auf der Medienseite berichtet Paul Ingendaay, dass die spanische Zeitung El Pais ein Drittel ihrer 464 Mitarbeiter entlässt, nachdem man das Jahr 2011 mit einem Verlust von 451 Millionen Euro abgeschlossen hatte.

Besprochen werden Arnold Schwarzeneggers gerade in Amerika erschienene Autobiografie "Total Recall", die Ausstellung "Für Burgel Zeeh, das Glück des Hauses" in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main, alle neun Beethoven-Symphonien mit Esa-Pekka Salonen und dem Philharmonica Orchestra beim Bonner Beethovenfest und Julian Roman Pölsers Verfilmung von Marlen Haushofers Roman "Die Wand" mit Martina Gedeck.