Heute in den Feuilletons

Zahnlos, dafür aber schulterfrei

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2012. In der SZ erzählt der kasachische Theaterregisseur Bolat Atabajew, wie ihm klar wurde, dass er auf die Weltbühne musste. Ähnliches hat laut Welt der Fantasy-Autor Christian Alexander Schreiber vor, der aber zunächst am Eingang der Frankfurter Buchmesse zu scheitern drohte. Die FR berichtet, dass Günter Grass auch im Alter von 85 Jahren an seinen Dummheiten festhält. Die FAZ empfindet dank einer Brüsseler Inszenierung neue Empathie für Lulu. SZ und FAZ befassen sich mit den Plagiatsvorwürfen gegen Annette Schavan.

TAZ, 16.10.2012

Das von Künstlern besetzte Theater Embros in Athen soll geräumt werden, Fatma Aydemir hat das Künstlerkollektiv Mavili besucht, das sich bisher gar nicht von der Krise betroffen fühlte: "'Der Avantgardist steckt immer in der Krise, mir persönlich geht die Finanzkrise Griechenlands nicht nahe. Ich musste schon immer mit wenig auskommen', erklärt Regisseur Vassilis Noulas im hölzernen Dachgeschoss des Theaters. Die mehrmals beantragten Projekt-Fördermittel seien schon vor der Krise nicht genehmigt worden."

Weiteres: Anke Leweke kann nach dem Besuch des Filmfestival in Busan bestätigen, dass auch in diesem Jahr exzessive Gewalt oder totales Schweigen die vorrangige Kommunikationsformen im koreanischen Kino sind. Julia Große findet die neue Londoner Kunstmesse Frieze Masters zwar noch cooler als die alte Frieze Art Fair, die sie aber für das Unfertige mag, für das Changieren "zwischen Manie, Zweifel und Depression". Fatma Aydemir berichtet Klaus Irler war beim großen Aufgebot, das sich zu Günter Grass' 85. Geburtstag in Lübeck versammelte.

Ines Pohl möchte lieber über Annette Schavan Bildungspolitik diskutieren als über ihre Doktorarbeit: Man sollte, meint Pohl, "sich zunächst über ihre miese Bilanz empören und beim Rest abwarten, was glaubwürdige und unabhängige Gutachter herausfinden."

Besprochen werden das Album "Observator" der Raveonettes, Neal Stephensons Mammut-Thriller "Error" und Simon Reynolds' Buch über Pop "Retromania" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 16.10.2012

Lisa Rüffer hat auf der Buchmesse den Autor Christian Alexander Schreiber begleitet, der einen Fantasy-Roman geschrieben hat und ihn nun im Selbstverlag herausbringen will. Die Probleme beginnen schon am Eingang: "Sein Onlineticket ist ungültig, die Abbuchung geplatzt. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn, und die Demütigung ist ihm anzusehen. 'Das fühlt sich so an, als würden die sagen: Du schaffst das nicht!', sagt er. 'Es ist ein Kampf.'"

Weitere Artikel: Andreas Rosenfelder staunt über Felix Baumgartners Sprung aus 39 Kilometern Höhe und seine Fernsehübertragung: "Es war, bis in die Details der Dramaturgie hinein, eine Wiederholung des ersten Fernsehereignisses der Menschheitsgeschichte, der Mondlandung vom 20. Juli 1969." Jan Küveler ist guten Mutes, dass der Kapitalismus Felicia Zellers neues kapitalismuskritisches Stück "X Freunde", das in Stuttgart Premiere hatte, unbeschadet überleben wird. Thomas Schmid verfolgte in der Oper Köln eine von Heiner Goebbels ersonnene Hommage auf Kasper König, den scheidenden Direktor des Museums Ludwig.

Besprochen werden ein neues Album des Jazzmusikers Donald Fagen und die Uraufführung von André Previns neuem Geigenkonzert für seine Ex Anne-Sophie Mutter in der "nicht vollen" Berliner Philharmonie, die nach Manuel Brug "zahnlos, dafür aber schulterfrei" geriet.

Aus den Blogs, 16.10.2012

Hilmar Schmundt twittert: "Dänischer Finanzminister erklärt Rücktritt per Facebook. Entlässt ihn die Regierungschefin dann heute per Like-Button?"

NZZ, 16.10.2012

Im Aufmacher des Feuilletons preist Bernhard Imhasly Katherine Boos Reportageband "Annawadi" über die Slums von Mumbai "Annawadi", die ihm nicht einmal "den Komfort der Hoffnung" ließ. Auf der Medienseite gibt es ein Interview mit Roger de Weck, der seit zwei Jahren an der Spitze des Schweizer Rundfunks steht.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Juwelier Van Cleef & Arpels im Pariser Musée des arts décoratifs, drei "Volksfeind"-Inszenierungen in Berlin und Potsdam, Michael Schefczyks Untersuchung "Verantwortung für historisches Unrecht" und Massimo Carlottos Krimi "Tödlicher Staub" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 16.10.2012

Sabine Vogel bringt für die FR Impressionen von der Feier zur Günter Grass' 85. Geburtstag mit ("und der schon immer rotgesichtige Chinaexperte Tilman Spengler erklärt, dass er den theatralischen Friedenspreisträger Liao Yiwu für etwas beschränkt hält") und meldet, dass der Nobelpreisträger auf seine Dummheiten auch noch stolz ist: "Ja, es war eine Torheit, das so auszusprechen", sagt er zu seinem antiisraelischen Gedicht, "aber es war eine notwendige Torheit".

Ein weiteres Symptom der Krise der FR! Götz Alys Kolumne ist aus der Zeitung gekippt worden. Im Schwesterblatt Berliner Zeitung, die somit einen autonomen Markenkern ausbilden kann, ist sie aber noch zu finden. Aly denkt (wie schon in der letzten Woche) über Kinderkrippen nach.

SZ, 16.10.2012

Daniel Brössler trifft sich in Berlin mit dem in Deutschland gestrandeten, kasachischen Theaterregisseur Bolat Atabajew, dem in seiner Heimat wegen seines gesellschaftlichen Engagements Repressalien drohen. Bereits bei einer früheren Verhaftung in diesem Jahr lernte er die Vorzüge internationaler Solidarität kennen: "Der Westen, lernte der Theatermann, kann erfolgreich Druck machen. Wenn er will. Von da an war Atabajew klar, dass er auf die Weltbühne musste. Während der Prozess gegen Koslow und andere Angeklagte einem Urteil entgegenstrebte, nahm sich Atabajew vor, den Unantastbaren herauszufordern, der Kasachstans Geschicke seit 1989 bestimmt: Nursultan Nasarbajew."

Für Thomas Steinfeld stellt ein Plagiat wie in der Causa Schavan ein "Symptom für den Zustand einer Universität dar, die Wissenschaft vor allem als Gegenstand des Wettbewerbs kennt". Auf der Seite 1 der SZ beschreiben Roland Preuss und Johann Osel dagegen eher den Verlauf des Plagiatsverfahrens gegen Annette Schavan als skandalös: "Der Präsident der Humboldt-Stiftung, Helmut Schwarz, sagte der Süddeutschen Zeitung: 'Es gab schwere Fehler in dem Verfahren - die Universität sollte nun eine zweite Person bitten, die Vorwürfe sachlich zu prüfen.' Es sei 'skandalös', dass die Öffentlichkeit vor der Betroffenen von den schwerwiegenden Vorwürfen erfahren habe."

Weitere Artikel: Michael Stallknecht lauscht dem vegetativ wuchernden Klang der br-Symphoniker beim Wolfgang-Rihm-Konzert und wird dabei Zeuge, wie Dirigent Kent Nagano zum Schamanen wird. Mit Entsetzen ist sich Wolfgang Schreiber beim Blick in die Fusions- und Sparpläne diverser Rundfunkintendanten sicher: "Die Abschaffer, getarnt als Sanierer, haben Oberwasser." Adrienne Braun berichtet von einer Tagung in Ludwigsburg über moderne Anfordernisse an die Schauspielkunst.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Thomas Scheibitz im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt, Luk Percevals am Thalia-Theater in Hamburg aufgeführte Inszenierung von Falladas "Jeder stirbt für sich allein" (der Till Briegleb zugute hält, "über politische Handlungsfähigkeit (...) sehr konkret" zu sprechen), eine Wolfgang-Tillmans-Ausstellung in der Kunsthalle Zürich und Bücher, darunter der Erzählungsband "Stadt der Clowns" von Daniel Alarcón (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 16.10.2012

Auch die Musiker sind fabelhaft, beteuert Eleonore Büning irgendwann in ihrer Besprechung von Alban Bergs "Lulu" in Brüssel, aber es ist vor allem die Inszenierung Krzysztof Warlikowskis, die ihr Bild von Lulu verändert hat: "Lulu ist Taube und Freikugel, sie ist zugleich Odile und Odette. Für den Regisseur Krzysztof Warlikowski wird das Objekt der Begierde selbst zum Voyeur. Dies ist das geheime Passepartout zu seinem neuen Verständnis der 'Lulu': Voyeurismus. Und seltsamerweise schlägt dieses verdinglichte Begehren im Laufe des durch allerhand Zutaten von Tanz, Wort und Film auf fast fünf Stunden gedehnten Opernabends alsbald um in eine neue Empathie."

Vor dem Gesetz sind eben doch nicht alle gleich, klagt der Jurist und Schriftsteller Wolfgang Bittner, der die Plagiatsvorwürfe gegen Annette Schavan und Bernd Althusmann durch die Gutachten erwiesen sieht. "Unabweisbar drängt sich die Frage auf, ob heute in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft vor allem die rücksichtslosen Durchsetzer, die Blender und Betrüger in Spitzenpositionen kommen. Aber Staatsanwaltschaften und Gerichte reagieren, wenn überhaupt, mit ungewöhnlicher Milde auf diese kriminellen Machenschaften einer angeblichen Elite."

Weitere Artikel: Mark Siemons hat keinerlei Hoffnung, dass China in absehbarer Zeit seine Arbeitslager abschaffen wird (von denen auch westliche Konsumenten profitieren). Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld die amerikanische Serienautorin ("Girls") und Schauspielerin Lena Dunham vor. Ursula Scheer besucht die Dreharbeiten zu einem Film über Heinrich George, der von seinem Sohn gespielt wird.

Besprochen werden Katie Mitchells Dramatisierung von Friederike Mayröckers Erzählung "Reise durch die Nacht" am Schauspiel Köln als "grandioses Gesamtkunstwerk", Christian Spucks "wahnsinnig dramaturgen-edle" Romeo-und-Julia-Choreografie in Zürich und eine Ausstellung von Gillian Wearing in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf.