Heute in den Feuilletons

Und quatsch nicht so viel

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2012. Die Welt lernt von Tom Krell, dass sich Kant mit Soul verträgt. Die NZZ träumt vom kosmopolitischen Thessaloniki, bevor es griechisch wurde. In der FR erklärt Abdolkarim Soroush: Mit Gott darf man streiten - und mit Theologen auch. Die FAZ lässt sich von den HBO-Chefs erklären, wie man gutes Fernsehen macht. In der Zeit erinnert sich Michael Caine an drei Ratschläge von John Wayne.

NZZ, 31.10.2012

Barbara Spengler-Axiopoulos erinnert an das kosmopolitische Thessaloniki, das vor hundert Jahren griechisch wurde: "Jeder Bewohner sah anders aus. Stark verhüllte Musliminnen drängten sich an schwarz gekleidete Nonnen. Die Kopfbedeckungen orthodoxer Popen sahen wie Ofenrohre aus. Der weiße Turban der Imame hob sich ab von den grün plissierten Kappen des Bektaschi-Ordens und den hohen, sandfarbenen Kegelhüten der Derwische. Die spitze, mit einem Schleierchen umhüllte Haube armenischer Priester korrespondierte mit Bowlerhüten, Offiziersmützen und roten Fezen... 1913 schrieb ein griechischer Offizier, der länger in Saloniki stationiert war, an seine Frau: 'Wie kann man eine Stadt mit so einer kosmopolitischen Bevölkerung mögen, von denen neun Zehntel Juden sind? Sie hat überhaupt nichts Griechisches an sich, auch nichts Europäisches. Sie hat gar nichts.'"

Weiteres: Der Autor Gregor Hens schickt Beobachtungen aus dem amerikanischen Wahlkampf, den er als Dozent an der Ohio State University verfolgt. Carsten Hueck trifft den israelischen Schriftsteller Nir Baram, der sich sehr kritisch zur Politik in Israel und einem allgegenwärtigen Rassismus äußert.

Besprochen werden Elisabeth Edls Neuübersetzung von Flauberts "Madame Bovary", Eric Hobsbawms Marxismus-Schrift "Wie man die Welt verändert" und Winfried Wilhelmys Studie "Seliges Lächeln und höllisches Gelächter" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 31.10.2012

Felix Stephan stellt den Soulsänger Tom Krell alias How to Dress Well vor, der besser - und leiser - singt als Mariah Carey. Auch sonst ist er nicht der typische Soulman: "Tom Krell schreibt neben seiner Bühnenkarriere an der Chicagoer DePaul University seine Dissertation über das nihilistische Potenzial des deutschen Idealismus, den er zwei Semester lang in Bonn studiert hat. Ein weißer Amerikaner mit akademischem Schwerpunkt auf Kant und dem späten Wittgenstein, der schwarzen Soul interpretiert." Das klingt dann so:



Der Künstler Günther Uecker wird gerade in einer großen Ausstellung in Teheran gezeigt. Im Interview erzählt er, wie es dazu kam: "Meine Ausstellung solle der Beginn einer neuen Museumspolitik sein, sagte mir der Museumsdirektor. Man möchte dieses Institut, das zu Zeiten des Schahs gegründet wurde und eine der besten modernen Kunstsammlungen außerhalb der westlichen Welt besitzt, wieder für internationale Positionen öffnen ... Ich wurde in keiner Weise beeinträchtigt. Das ist erstaunlich. Das Museum wurde leergeräumt, um meine Werke in den zwölf Räumen zu präsentieren. Ich durfte feststellen, dass die Menschen die Öffnung annehmen."

Weitere Artikel: Hurrikan Sandy macht Hanns-Georg Rodek klar, wie störanfällig unsere Infrastruktur heute ist. Alan Posener erklärt Jan Fleischhauer noch einmal, warum der Euro eher kein linkes Projekt ist.

Besprochen werden der neue Bondfilm ("'Skyfall' markiert Bonds wahre Menschwerdung", urteilt ein nicht unbeeindruckter Jan Küveler) und Sebastian Nüblings Inszenierung von Shakespeares "Wie es euch gefällt" in Zürich.

Weitere Medien, 31.10.2012

Den Koran darf man nicht interpretieren? Unsinn, meint der im Exil lebende iranische Philosoph Abdolkarim Soroush im Interview mit der FR: "Der Koran ist Gottes Wort für uns Menschen. Also haben wir auch jedes Recht, es zu interpretieren und zu deuten. So wie das im Lauf der Geschichte beständig geschehen ist. Der Koran selbst ermutigt dazu, wenn darin etwa von der 'Verantwortung' die Rede ist, die Gott für seine Offenbarung, seine Verheißungen übernimmt - oder vom 'Streit des Menschen mit Gott'. Wenn der Mensch schon mit Gott streiten darf, dann erst recht mit den religiösen und politischen Autoritäten. Aber das hören die natürlich gar nicht gern."

Außerdem in der FR berichtet Nikolaus Bernau über einen Streit um die Restaurierung von Michelangelos Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle.

Und hier, weil's so schön ist, eine bezaubernd kurze Version von Becketts "Warten auf Godot":



TAZ, 31.10.2012

Ohne erkennbaren Anlass, vielleicht um zu zeigen, dass wir den Griechen noch etwas schuldig sind, schickt Stefan Reinecke eine Reportage aus dem griechischen Dorf Kommeno, in dem die Wehrmacht im August 1943 ein Massaker anrichtet hat: "Die 120 Gebirgsjäger brannten das Dorf nieder, stahlen Schafe und Vieh. Sie machten Kommeno dem Boden gleich, 317 Leichen ließen sie liegen. Vierzig der Toten waren Kinder unter vier Jahren."

Weiteres: Rene Hamann denkt darüber nach, was wohl Dr. Johann Holtrop zum Pinguinzufallshaus sagen würde. Silke Burmester betrauert den Weggang des taz-Medienredakteurs Steffen Grimberg. Besprochen werden Elfriede Jelineks München-Stück "Die Straße. Die Stadt. Der Überfall." und das Album "Metal Saint" von La Grande Illusion.

Und Tom.

SZ, 31.10.2012

Kia Vahland meldet erhebliche Zweifel an der Behauptung des Frankfurter Städelmuseums an, dass es sich bei dem dort ausgestellten Porträt von Papst Julius II. um mehr als nur eine Kopie aus der Werkstatt Raffaels handele (mehr dazu hier). Zu ihrem Wort offen stehen wollen Vahlands Kronzeugen aus der Wissenschaft indessen nicht: Sie merken an, "dass man sie um Himmels willen nicht zitieren dürfe. Die Gelehrten möchten bitte nicht involviert werden: Eine Kunstmarkt-Angelegenheit sei das, die systematische Aufwertung fragwürdiger Bilder, wie sie neuerdings immer öfter vorkomme. ... Vielleicht haben sie auch von den amerikanischen Verfahren gehört, in denen Kunsthistoriker sich verantworten müssen, weil sie die Eigenhändigkeit von teuren Gemälden anzweifelten." Hier ein Abbild des in London hängenden Originals.

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh würdigt Michael Caine, dem die Viennale gerade eine kleine Werkschau widmet. Bei ihrer Antrittsvorlesung als Gastprofessorin an der FU Berlin entfaltete Rosemarie Tietze "ihre Utopie einer blühenden Übersetzungskultur", notiert Jens Bisky. Max Scharnigg erlebt beim Konzert der Hot Chips, wie die Band den Vorwurf "zu geschliffenen Sphärenpops" verdampfen lässt. Thomas Steinfeld schreibt den Nachruf auf die Autorin Cordelia Edvardson. Rainer Gansera gratuliert dem Regisseur Edgar Reitz zum 80. Geburtstag (beim Bayerischen Rundfunk finden wir dazu passend ein Feature über Reitz von Georg Seeßlen und Markus Metz).

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen (darunter neuer "Neuschwanstein-Rock" von Aerosmith), Cate Shortlands Film "Lore", Philipp Stölzls "Parsifal" an der Deutschen Oper in Berlin und Heinz Schillings Buch über Martin Luther (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 31.10.2012

Richard Plepler und Michael Lombard, die Chefs des für seine Fernsehserien berühmten Bezahlsenders HBO, erklären im Gespräch mit Michael Hanfeld, wie es kommt, dass ihre Serien so gut sind: "Die großen Sender denken darüber nach, welche demografische Gruppe sie erreichen und ob das zu erwartende Publikum groß genug ist, dass sich ein Projekt rechnet. Bei uns ist es so: Da kommt jemand durch die Tür, und wir fragen uns: Ist das die originelle Idee, die wir suchen? Hat es einen Standpunkt? Haben wir so etwas noch nicht gesehen? Trauen wir diesem Autor ein Programm zu, das zu uns passt? Wenn wir diese Fragen mit Ja beantworten, springen wir auf und fangen nicht an, Marktanteilsforschung zu betreiben."

Weitere Artikel: Anlässlich der Verfilmung von David Mitchells großem Roman "Cloud Atlas" durch Tom Tykwer und die Geschwister Wachowski, die demnächst ins Kino kommt, versucht Dietmar Dath im Aufmacher zu erklären, was "Slipstream" ist - offenbar eine Erzählweise, die Techniken der Science Fiction auf andere Gattungen der Literatur überträgt. Andreas Platthaus erinnert an Jean Améry, der vor hundert Jahren geboren wurde. Andreas Rossmann fügt dem Strom der traurigen Nachrichten aus Duisburg eine neue hinzu: Man erwägt, eines der Hauptwerke des Lehmbruck-Museums, Giacomettis Skulptur "Das Bein", zu verkaufen, um den Etat aufzubessern und das Haus zu sanieren. Der Psychotherapeut und Katholik Manfred Lütz versucht nachzuvollziehen, was Luther sah und Lütz' Meinung nach missverstand, als er Michelangelos Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle sah, das vor 500 Jahren entstand, und wie Luther mit Hilfe großer Kunst den Katholizismus am Ende vielleicht doch noch hätte verwinden können. Ulf Meyer inspiziert den von von den Architekten Volkmar Nickol, Felipe Schmidt und Thomas Hillig konzipierten Neubau der türkischen Botschaft in Berlin. Jörg Bremer schreibt zum Tod der schwedischen Publizistin Cordelia Edvardson.

Besprochen werden eine auf den amerikanischen Wahlkampf Bezug nehmende Installation Jonathan Horowitz' im New Museum in New York, ein durch viele Pannen besonders charmantes Konzert Amanda Palmers mit The Grand Theft Orchestra in Berlin und Bücher, darunter Sebastian Barrys Roman "Mein fernes, fremdes Land" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 31.10.2012

Im Interview mit Katja Nicodemus erzählt Michael Caine wunderbare Geschichten aus seinem Schauspieler-Leben, das in Südlondon seinen Anfang nahm: "Mein allererster Auftritt: wie ich als Dreijähriger dem Schuldeneintreiber aufmachte und sagen musste: 'Mama ist nicht da!', obwohl sie hinter der Tür stand." Hübsch auch die Episode, wie er John Wayne in Las Vegas traf: "Ein Hubschrauber landete, und John Wayne stieg aus und ging zur Rezeption. Er trug Cowboystiefel, einen Cowboyhut und sah aus, als käme er gerade aus einem Saloon. Plötzlich drehte er sich um und fragte: 'Bist du der Typ, der Alfie gespielt hat?' Der Film hatte sich gerade in Hollywood herumgesprochen. Wayne sagte: Du hast eine große Zukunft, Kleiner. Aber merk dir drei Dinge: Sprich mit tiefer Stimme. Sprich langsam. Und quatsch nicht so viel.'"

Hier sein wirklich lehrreicher Workshop "Acting in Film":



Weiteres: Die Schriftstellerin Irene Dische schickt ihre Wahlkampfbeobachtungen aus dem tiefen Süden Amerikas, wo sie "lieber für einen Mormonen stimmen als für einen Muslim". Zum Tod von Hans Werner Henze erinnert sich Christine Lemke-Matwey an ihren Besuch beim Maestro in dessen italienischem Domizil Marino. Kurzrezensionen widmen sich den Theaterpremieren der Woche mit Thalheimers "Elektra", Martin Kusejs Inszenierung der "Hedda Gabler" und Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Dea Lohers Stück "Am Schwarzen See".

Im Aufmacher des Literaturteils ruft Marie Schmidt dazu auf, den "massiven Charakter" des Dichters Ezra Pound auszuhalten: "Es ist schwer zu fassen, wie avancierteste lyrische Formen mit einer so bornierten und totalitären Pragmatik einhergehen können." Hier liest er selbst aus den Cantos:



Besprochen werden auch Christoph Ransmayrs Reisebuch "Atlas eines ängstlichen Mannes" und Harald Bodenschatz' Architekturband "Städtebau für Mussolini" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Außerdem erscheint heute ein Krimi Spezial, in dem unter anderem Ronald Düker Sara Grans New-Orleans-Krimi "Stadt bder Toten" vorstellt, Tobias Gohlis den Richter und Autor Giancarlo de Cataldo in Rom besucht und Adam Soboczynski Robert Littell zum Spion und Protagonisten seines neuen Buches Kim Philby befragt.