Heute in den Feuilletons

Lachend gegen eine Laterne

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2012. Die Blogs staunen über die amerikanische Verwertungsgesellschaft HFA, die Rechte auf den Radetzky-Marsch einforderte. In der Welt malt Hans-Ulrich Gumbrecht in düsteren Farben das postpolitische Zeitalter aus, dessen erster Präsident Barack Obama heißt. Atlantic diagnostiziert ideologische Verrücktheit bei den amerikanischen Konservativen, die zur Verkennung der Realität führte. Die FR empfiehlt das Brockdorff Klang Labor, eine politische Dancefloorband mit Retrotouch. Die SZ stellt den Goncourt-Preisträger Jérôme Ferrari vor.

NZZ, 08.11.2012

Der Literaturnobelpreis für Mo Yan wurde von dem Murren begleitet, der Schriftsteller sei regimetreu und wenig kritisch. Wei Zhang stellt die politische Anpassung in den Kontext von feudaler Tradition und konfuzianischen Lehre: "Es ist klar, dass nur eine Minderheit jemals zu einer Machtposition gelangen und davon profitieren wird. Unter solchen Umständen gilt es als integres Verhalten eines aufrichtigen und moralischen Intellektuellen, sich von der Politik fernzuhalten. Das entspricht der eremitischen Tradition, die als das wahre Heldentum gilt."

Weiteres: Karl Corino, Autor einer kapitalen Biografie Robert Musils, stieß im Nachlass von Leo Rosenthal auf einen Schnappschuss, der Musil mit seiner Frau 1932 als Zuhörer im Schöffengericht Berlin-Moabit zeigt. Corino rekonstruiert die Umstände für diesen Gerichtsbesuch: die Musils waren Freunde und Nachbarn des Strafverteidigers Dr. Alfred Apfel. Der Pariser Schriftsteller Jérôme Ferrari erhält Prix Goncourt, meldet Marc Zitzmann. Sieglinde Geisel berichtet von einer Diskussion über Diplomatie in der Schweizerischen Botschaft in Berlin.

Besprochen werden Ben Afflecks Thriller "Argo" (an dem Till Brockmann "die ungeschminkt patriotische Note" stört), Stephen Chboskys Verfilmung seines eigenen Bestsellers "The Perks of Being a Wallflower" und und Bücher, darunter Sofi Oksanens Romanerstling "Stalins Kühe" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 08.11.2012

Ziemlich angetan ist Andreas Busche von dem Film "Fraktus - Das letzte Kapitel der Musikgeschichte" des Hamburger Gaga-Trios Studio Braun über die Wiederbelebung einer Techno-Pionier-Band. "In den lichteren Momenten dieses ziemlich großartigen Klamauks macht sich die ganz und gar unzynische Lakonie alter Hasen im Unterhaltungsgeschäft bemerkbar. Studio Braun haben verstanden, dass man der Abgestumpftheit der deutschen Humorindustrie nur mit Sinnentzug begegnen kann: Der Fraktus-Hit 'Affe sucht Liebe' ist das 'Katzeklo' der Post-Rave-Generation. Jessens Film funktioniert dann auch am besten als böse Replik auf eine Musikindustrie, die ihr Heil im Recycling der Vergangenheit sucht."

Weitere Artikel: Stefan Reinecke unterhält sich mit Jan Korte von der Links-Partei über die NS-Vergangenheit bundesdeutscher Behörden, über die heute im Bundestag debattiert wird. Sven von Reden resümiert die Viennale, die sich dem österreichischen Avantgardisten Peter Kubelka widmete. Jan Feddersen und Daniel Schulz unterhalten sich mit Cem Gülay, Autor des Buchs "Kein Döner Land", über die Wiedervereinigung und Deutschsein oder eben auch nicht. Jürn Kruse berichtet über die Vorstellung des neuen Weimarer "Tatort"-Teams Christian Ulmen und Nora Tschirner. Jens Uthoff informiert über die nächste Runde im Tarifstreit zur Gebührenneuordnung der Gema.

Besprochen werden außerdem Christoph Marthalers Musiktheaterabend "Sale" am Zürcher Opernhaus ("grandioser Untergangsabend"), das Filmdrama "Pieta" von Kim Ki-duk, "der sein Publikum kaum, noch weniger seine Figuren, am allerwenigsten aber die Tiere vor der Kamera schont", und die DVD von Abel Ferraras "4:44 Last Day on Earth" von 2011.

Und Tom.

Welt, 08.11.2012

Hans-Ulrich Gumbrecht sieht Barack Obama als ersten amerikanischen Präsidenten in einem "postpolitischen" Zeitalter. Und das kann sich ein deutscher Professor auch in Stanford offenbar nur duster vorstellen: "Nirgends ist die Umstellung von einer Zukunft als Horizont utopischer Gestaltung zu einer Zukunft unvermeidlicher Bedrohungen und Reduktionen deutlicher als in der amerikanischen Politik und in der amerikanischen Gesellschaft, wo eine Autofahrt durch manche Staaten zu einer Serienerfahrung eingestellter Zukunftsprojekte werden kann und wo die finanzielle Belastung der Zukunft durch eine verantwortungslose Vergangenheit viel bedrohlichere Dimensionen erreicht hat als irgendwo anders in der Welt."

Weitere Artikel: Gerhard Gnauck besucht das angeblich schmalste Haus der Welt, in das die Stadt Warschau Schriftsteller einlädt - zuerst den israelischen Autor Etgar Keret ("122 Zentimeter misst das Haus an seiner breitesten Stelle. Es enthält ein Bett, 90 Zentimeter breit, einen Arbeitsplatz, einen Kühlschrank, eine Spüle, und die Nasszelle mit Dusche ist deutlich bequemer als eine Flugzeugtoilette"). Iris Alanyali hat für die fernere Karriere Britney Spears' nur Spott übrig. Peter Zander liest einen neuen Bildband des großen Sempé.

Besprochen werden Filme, darunter Kim Ki-duks Venedig-Gewinnerfilm "Pieta" und eine neue CD des Jazzpianisten Brad Mehldau, der gerade auf Tournee geht.

FR/Berliner, 08.11.2012

Steven Geyer hörte in Berlin ein Konzert der besten Politband Deutschlands (naja, jedenfalls haben sie den von Spex und ByteFM ausgeschriebenen Protestsong-Contest gewonnen), Brockdorff Klang Labor, denen offenbar die Quadratur des Kreises gelang: "Alles ist weniger aggressiv als tanzbar, aber eben auch weniger ironisch als politisch. Die Rechnung geht auf: Im Club hört man alles als Synthiepop mit 80er-Rückbindung und Anspielungen auf 90er-House. Was die Frontleute Nadja und Sergej abwechselnd singen, funktioniert auch als Liebeslied und Alltagsblues. In Ruhe daheim darf man aber bemerken, dass die Band mit so viel Anspielungen, Zitaten und Assoziationen spielt, dass zwar nicht allein Protestsongs entstehen - aber oft genug politische."

Hier ihr Song "Festung Europa":



Außerdem: Cornelia Geißler erzählt, wie zwei Schauspieler vom Deutschen Theater in Berliner Klassenzimmern ein Stück von Sibylle Berg spielen. Besprochen werden die Modeausstellung "Trading Style" im Frankfurter Weltkulturen-Museum und einige Filme, darunter Markus Imhoofs Doku über das Bienensterben "More Than Honey".

Aus den Blogs, 08.11.2012

In FaustKultur unterhält sich die Schauspielerin Barbara Englert mit Clemens Setz über dessen Roman "Indigo" und über die wirksame Bekämpfung von Depressionen: "In Graz habe ich eine andere Beruhigungsform entdeckt: Man nimmt das Ohrstück eines Handy-Headsets, hängt es sich ans Ohr, verbindet es aber nicht mit dem Handy und geht dann durch die Stadt und redet. Man beschimpft Leute, die vorbeigehen, oder beschimpft die Wolken, was auch immer. Man darf alles sagen, das ist sehr befreiend und niemand hält einen für wahnsinnig, weil man ja das Headset am Ohr hat, man könnte ja telefonieren. So kann man Menschen, die an einem vorbeigehen, einfach anschreien und sie ignorieren das, das ist sehr kathartisch und reinigend."

(via Netzwertig) Die Verwertungsgesellschaften werden immer verrückter. Nun hat die amerikanische VG Harry Fox Agency (HFA), die die Rechte auf Musikaufnahmen verwaltet, ein thailändisches Jugendorchester abgemahnt, das auf Youtube den Radetzky-Marsch spielt. Das Werk ist 164 Jahre alt, und der Komponist, Johann Strauss, leider Gottes auch schon ein Weilchen tot. Mehr dazu bei Boingboing (hier) und Techdirt (hier). Hier spielen sie, recht temperamentvoll übrigens:



(Via Matthias Rascher) Eine erstaunliche Fotostrecke in Slate: Shawn Clovers Fotos aus dem heutigen San Francisco - überblendet mit Fotos, die nach dem Erdbeben von 1906 aufgenommen wurden.

Weitere Medien, 08.11.2012

Die Konservativen in den USA haben verloren, weil sie ideologisch verblendet sind und weil ihre Medien so verrückt spielten, dass sie die politischen Kräfteverhältnisse schon gar nicht mehr wahrnahmen, meint Conor Friedersdorf im Atlantic: "Conservatives were at a disadvantage because their information elites pandered in the most cynical, self-defeating ways, treating would-be candidates like Sarah Palin and Herman Cain as if they were plausible presidents rather than national jokes who'd lose worse than George McGovern. How many months were wasted on them? How many hours of Glenn Beck conspiracy theories did Fox News broadcast to its viewers? How many hours of transparently mindless Sean Hannity content is still broadcast daily?"

(Via Christian Jakubetz) Sollte man Apple-Aktien kaufen? Oder doch lieber Put-Optionen? Dan Crow schreibt im Guardian: "The story of Apple Incorporated is far from over. It is the most valuable company in the world, by a large margin. Apple produces a range of exceptional and much loved products. It employs many of the most talented designers and engineers on the planet. But I think Apple has peaked and the story of the next few years will be one of a slow but real decline."

Sven Gantzkow berichtet für den WDR von einem Treffen deutscher Aphoristiker. Eine Verteidigerin von Twitter hatte es dabei nicht leicht: "Breite Zustimmung erntet sie eigentlich nur bei den Beispielen, die zeigen sollen, dass Twitter-User durchaus selbstkritisch mit ihrem Medium umgehen: 'Kucken, was die anderen im Supermarkt aufs Band legen, ist ein bisschen wie Twitter.' Oder: Facebook ist, wenn ihr Kind andauernd vorm PC sitzt. Twitter ist, wenn ihr Kind mit seinem Smartphone lachend gegen eine Laterne läuft.' Darüber zu lachen, fällt den meisten nicht schwer. Die Tweets bestätigen gängige Vorurteile."

FAZ, 08.11.2012

Seitenfüllend unterhalten sich Dietmar Dath und Verena Lueken mit den Wachowski-Geschwistern, Tom Tykwer und David Mitchell über die gleichnamige Verfilmung von Mitchells komplex verschachteltem Roman "Cloud Atlas", die kommende Woche ins Kino kommt. Tykwer warnt sein Publikum schon mal vor: Der Film ist "eine Art Verfilmung nicht des Buches, sondern der Nachwirkung des Buches im Kopf." Bereits im September hat Verena Lueken den Film anlässlich des Filmfestivals in Toronto für die FAZ besprochen.

Weitere Artikel: Carolin Weidner beobachtet beim Filmfestival DOK Leipzig Tendenzen zur "Hommage an den Nonkonformisten und Flucht in das kleine Universum des Privaten". Bei der Viennale unternimmt Bert Rebhandl "Zeit- und Weltreisen (...), die unvermutete Zusammenhänge erkennen lassen." Ingo Petz meldet einen Streit zwischen dem Goethe-Institut in Minsk und dem weißrussischen Künstler Michail Gulin, der dem Goethe-Institut vorwirft, ihn nach einer Verhaftung bei einer Kunstaktion im Stich gelassen zu haben. Beim Kölner Grönemeyer-Konzert verfällt Eric Pfeil dem Sänger trotz "reichlich Skepsis" spätestens, als dieser mit dem Mund Gummibärchen auffängt - "während des Singens wohlgemerkt".

Auf der Medienseite wundert sich Tobias Rüther über die Berichterstattung von ARD und ZDF zur US-Wahlnacht, bei der man zwar eifrig Tweets und Meme sammelte, aber wenig auf die eigenen Live-Bilder vertraute.

Besprochen werden Robbie Williams' neues Album "Take the Crown", eine Ausstellung über künstlerische DDR-Fotografie in der Berlinischen Galerie, ein gefaketer Dokumentarfilm von Lars Jessen und dem Studio Braun über die fiktive Techno-Band Fraktus, Christoph Marthalers Händel-Abend "Sale" am Opernhaus Zürich und Bücher, darunter "Grrrimm" von Karen Duve (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 08.11.2012

Joseph Hanimann stellt Jérôme Ferraris gerade mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Le sermon sur la chute de Rome" vor: "In den langen, kompakt verschlungenen Sätzen seines Buchs rollen (...) Jahrhundertereignisse daher. Das Korsika, von dem in all seinen Werken die Handlung ausgeht, ist keine folkloristische Bilderbuchkulisse. Es bildet eine Bühne, meistens mit einem Bartresen im Mittelpunkt, auf der die Akteure ihre Identität umso eifriger spielen, je offensichtlicher sie am Verblassen ist."

Weitere Artikel: Burkhard Müller freundet sich mit dem Gedanken an, dass der Aufwind separatistischer Bewegungen in Europa (etwa in Schottland) nicht unbedingt einen Rückfall ins nationalistische Zeitalter bedeutet. Reinhard Seiss rauft sich die Haare über Wiens Städteplanung. Pat Blashill hört sich mit amerikanischen Ohren Grönemeyers englischsprachiges Album "I Walk" an, dem es im Gegensatz zum deutschsprachigen Werk am "schicksalsschweren Brüllen" mangelt.

Für die Medienseite hat sich Anke Sterneborg den zwar kinoreifen, aber komplett fürs Netz gedrehten Agententhriller "Move On" mit Mads Mikkelsen angesehen, für den das produzierende Telekommunikationsunternehmen auf Ideen aus der Netzcommunity zurückgriff:



Besprochen werden der neue Film "Argo" (in dem Ben Affleck "von sehr tragischen Dingen komisch zu erzählen" weiß, erklärt Susan Vahabzadeh), Ursula Meiers Film "Winterdieb" und ein Konzert des Artemis-Quartetts in München.

Zeit, 08.11.2012

Korrigiert und aktualisiert um 12 Uhr.

Auf Arbeit und Struktur führt der an einem bösartigen Gehirntumor erkrankte Wolfgang Herrndorf Online-Tagebuch. Sein Freund Robert Koall, der Herrndorfs Roman "Tschick" mit großem Erfolg für das Dresdner Staatsschauspiel dramatisiert hat, spricht im Interview über Herrndorfs Blog: "Er war mit den Einträgen länger im Rückstand und hat jetzt wieder aufgeholt. Vervollständigt. Er möchte, dass es vernünftig endet. Ich finde das unfassbar bewegend. Seinen Perfektionismus. Ich wette auch, dass er schon weiß, was da stehen soll, wenn es passiert. Da hat ja jetzt immer dieses wahnsinnige Kürzel druntergestanden, tbc: to be continued."

Marian Blasberg, John F. Jungclaussen und Khué Pham berichten vom Missbrauchsskandal um den britischen TV-Moderator Jimmy Saville und fragen sich, ob sein Handeln durch ein "Klima des Sexismus" bei der BBC begünstigt wurde. Raoul Löbbert berichtet mit Unbehangen von den Plänen des Deutschen Historischen Museums, den NSU-Terror zum Teil seiner Ausstellung zu machen.

Im Feuilleton schaltet sich der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in die Tugendterror-Debatte ein. Nicht das Netz ist schuld, so meint er: "Es sind die technologischen Bedingungen, die medialen Konkurrenzverhältnisse, die gesellschaftlichen Moralisierungswellen im Verbund mit allgemein menschlichen Wahrnehmungsmustern, die in der Summe eine Skandalisierungsspirale in Gang setzen und eine beständig lauernde Erregungsbereitschaft erzeugen."

Weiteres: Auf drei Seiten wird der 50. Geburtstag der Rolling Stones gefeiert: Thomas Groß, Frank-Walter Steinmeier und Moritz von Uslar tragen Huldigungen bei. Abgedruckt ist außerdem Clemens Setz' Laudatio auf Christian Kracht anlässlich des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises. Christiane Lemke-Matwey nimmt Abschied vom amerikanischen Komponisten Elliott Carter. Birgit Steinmetz spricht mit Ben Affleck über dessen Iran-Thriller "Argo".

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Dostojewskis "Wirtin" an der Berliner Schaubühne, die Ausstellung "Privat" in der Frankfurter Schirn, Markus Imhoofs Bienen-Dokumentarfilm "More than Honey" und Bücher, darunter der von Erdmut Wizisla herausgegebene Briefwechsel zwischen Bertolt Brecht und Helene Weigel (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).