Heute in den Feuilletons

Lügenmärchen von einer behaupteten Vielfalt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.11.2012. Das Aus für die Frankfurter Rundschau bewegt die Feuilletons: die Welt nimmt Abschied von einer verflossenen Liebe, die taz beantwortet pragmatische Fragen und Thomas Knüwer findet: selber schuld. In der Zeit denken Juli Zeh, Michael Krüger und Helge Malchow über die Zukunft des Buchs und der Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han über das Töten auf Knopfdruck nach. Die FAZ prophezeit Frankreich ein Rendezvous mit der Geschichte. Und alle gratulieren Daniel Barenboim zum Siebzigsten.

Welt, 15.11.2012

Thomas Schmid erinnert sich, wie er sich 1965 als Student in Frankfurt die Frankfurter Rundschau zur Lieblingszeitung machte. Der FAZ konnte er einen gewissen "scheuen Respekt" nicht versagen, und "anders als die Süddeutsche Zeitung, die immer schon für das runde, satte Bürgertum der Südmetropole geschrieben war und für die ein gewisses Halblinkssein einfach zum ortsansässigen Chic gehörte, war die FR eine Zeitung, die lange den Geist des Aufbruchs der späten 40er-Jahre atmete. Als zweite westdeutsche Zeitung am 1. August 1945 gegründet, war sie von Anfang an ein nach links geneigtes Blatt, in dem sich viele Persönlichkeiten versammelten, die in der NS-Zeit verfolgt, inhaftiert oder im Exil waren - auch der Kommunist Emil Carlebach." Schmid würdigt auch, dass sich die FR sehr früh intensiv für die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit einsetzte.

Im Feuilleton gratuliert Manul Brug "dem mächtigsten Klassikkünstler der Welt", Daniel Barenboim, zum Siebzigsten ("aber auch kein anderer trifft in seinen guten bis genialen Momenten so direkt und tief den Kern, das Innerste der Musik"). Heimo Schwilk berichtet von der Leipziger Luther-Konferenz. Lucas Wiegelmann meldet, dass die Jugendorganisation der Linkspartei den Rapper Xavier Naidoo wegen reichlich kruder Songtexte gegen Pädophilie und Abtreibung ("Ihr tötet Kinder und Föten, und ich zerquetsch euch die Klöten") verklagt. Auf der Kinoseite unterhält sich Hanns-Georg Rodek mit mit Tom Hanks und Halle Berry über "Cloud Atlas" und weiteres.

Aus den Blogs, 15.11.2012

Thomas Knüwer schildert in seinem Blog die seiner Meinung nach selbstverschuldete Misere des Lokaljournalismus und hält fest, dass die FR kein Einzelfall ist: "Die Münstersche Zeitung hat sich jüngst aus Rheine zurückgezogen, die Nürnberger Abendzeitung ist weg, bei der Nürnberger Zeitung wurde massiv zusammengestutzt, die Waz befindet sich in der unzählbarsten Kürzungsrunde, der Bonner Generalanzeiger schließt sein Berlin-Büro. Und es wird nicht aufhören."

Heute eröffnet in Köln eine Konferenz über den Einfluss von Computerspielen und Medienkunst auf die Künste. Bei der Nachtkritik hat Christian Rakow das Wechselspiel zwischen Theater und Computerspielen untersucht: "Mit ihrer Interaktivität lösen Computerspiele einen alten Traum der Moderne ein. Émile Zola hatte in seiner programmatischen Schrift "Der Experimentalroman" (1880) sein naturalistisches Schreibprojekt als Laborversuch skizziert: Man nehme einen biologisch in spezifischer Weise determinierten Helden und setze ihn in ein wissenschaftlich genau abgestecktes Milieu. Die Geschichte, die sich aus dem Zusammenspiel der Faktoren ergeben werde, dürfe als wissenschaftliche Erkenntnis von den Handlungsoptionen menschlicher Akteure gelten. Nur vermochte Zola sein (Gedanken-)Experiment natürlich nicht als solches zu reproduzieren."

TAZ, 15.11.2012

Steffen Grimberg beantwortet die dringendsten Fragen zur Insolvenz der Frankfurter Rundschau, etwa warum die Pleite so plötzlich eingetreten ist: "Man sei 'überrascht worden', hat DuMont-Vorstand Franz Sommerfeld am Dienstag gesagt. Das wird ihm aber nicht von allen geglaubt: Sommerfeld hatte schon im Juni laut über einen Verkauf der FR nachgedacht, dann aber dementiert. Und bei Betriebsräten im DuMont-Konzern heißt es recht unverblümt, die Insolvenz sei für den Konzern schlichtweg die bessere Möglichkeit, Personal abzubauen."

Weiteres: Ambros Waibel porträtiert den zweilichtigen Musikproduzenten Francesco Sbano, der mit Mafia-Folklore provoziert. Die antifaschistische Punkband Feine Sahne Fischfilet (FSF) bedankte sich mit einem Präsentekorb beim Mecklenburger Verfassungsschutz dafür, dass sie im Verfassungsschutzbericht erwähnt wurden, wie Jens Uthoff berichtet. Ihr Song "Komplett im Arsch" hatte sich daraufhin zum Youtube-Hit entwickelt.

Besprochen werden Filme, darunter das Partisanendrama "Im Nebel" von Sergei Loznitsa (das, wie Lukas Foerster findet, "einen eigenartigen hypnotischen Sog entwickelt"), das Album "Nó Na Orelha" des brasilianischen Rappers Criolo und Bücher, darunter Victor Serges Roman (Leseprobe) "Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 15.11.2012

Nils Metzger berichtet aus Aleppo, wo seit August ein erbitterter Stellungskrieg das historische Erbe bedroht: "Ob die Altstadt den Krieg überstehen wird, hängt nun von militärischen Faktoren ab. Wird Bashar al-Asad die Luftwaffe auch auf dem Gebiet der Altstadt einsetzen und die Freie Syrische Armee doch noch in den Besitz von schweren Waffen gelangen? Einstweilen jedenfalls bleibt die Altstadt der verfahrenste Kriegsschauplatz, und der anstehende winterliche Regen kann sich ungehindert durch jahrhundertealtes Gebälk fressen."

Weiteres: Georg-Friedrich Kühn gratuliert Daniel Barenboim zum Siebzigsten. Besprochen werden die Filme "I, Anna" von Barnaby Southcombe ("ein elegant verrätselter psychologischer Thriller", meint Christoph Egger) und "Killing Them Softly" von Andrew Dominik, die Wiener Inszenierungen der Gluck-Opern "Iphigénie en Aulide" und "Alceste" sowie Bücher, darunter Jenny Erpenbecks Roman "Aller Tage Abend" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 15.11.2012

Als "kalkulierte Investition" schätzt Felix Stephan die ab 2013 in Berlin auf Hotelübernachtungen erhobene "City Tax" ein, deren Erlöse von rund 20 Millionen Euro an die freie Kulturszene gehen sollen: "Während in New York, Paris oder London der Szenemythos stets zu Ausverkauf und Gentrifizierung geführt hat, versucht Berlin aus seinem freiheitlichen Image einen permanenten Standortvorteil zu machen".

Weiteres: Zum Kinostart von "Cloud Atlas" spricht Tobias Kniebe mit den Wachowski Geschwistern und Tom Tykwer. Volker Breidecker resümiert eine interdisziplinäre Tagung von Kulturwissenschaftlern und Schönheitschirurgen in Berlin. Henning Klüver berichtet von Goethes Italienreisen. Wolfgang Schreiber porträtiert Daniel Barenboim. Jens-Christian Rabe hat sich den Münchner Vortrag des Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle zum Thema "Präventionsstaat" angehört. Alexander Menden gratuliert Petula Clark zum 80., David Steinitz dem italienischen Regisseur Francesco Rosi zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden eine Ausstelung über "Fritz Winter und die abstrakte Fotografie" in der Pinakothek der Moderne in München, eine Ausstellung über das Kino der Weimarer Republik in der Versicherungskammer Bayern und Bücher, darunter Helmut Böttigers über "Die Gruppe 47" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 15.11.2012

Kerstin Holm sendet einen trostlosen politischen Lagebericht aus Russland: "Die Gewaltorgane halten die Zivilgesellschaft im Würgegriff. Dass der Kremlherrscher einen speziellen Ombudsmann für Unternehmer installiert hat, der deren Konflikte mit Ordnungshütern schlichten helfen soll, kommt einem Eingeständnis gleich, dass Polizei und Gerichte, statt ihre Arbeit zu tun, oft lieber Erpressungsgeschäfte machen."

Weitere Artikel: Olivier Guez zeichnet ein düsteres Bild eines von inneren Krisen zerrütteten Frankreichs und orakelt für den Fall, dass keine Besserung eintritt, dass die Nation "bald wieder ein Rendezvous mit der Geschichte haben" wird. Eleonore Büning führt ein Gespräch mit Daniel Barenboim anlässlich dessen 70. Geburtstags. Patrick Bahners hat sich in den USA bereits Steven Spielbergs Biopic über Abraham Lincoln sehen können, das die euphorisierte US-Kritik bereits für den Staatsbürgerkundeunterricht empfiehlt. Gina Thomas meldet die Gründung eines britischen Verbands zur Verteidigung der Universitäten gegen eine marktorientierte Hochschulpolitik.

Besprochen werden Sergei Losnitsas Film "Im Nebel", eine Ausstellung über "Hitlerbauten" im Nordico Stadtmuseum in Linz, Richard Tuttles Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München, eine CD-Neuauflage von Puccinis "Turandot" und Bücher, darunter Abdourahman Waberis Roman "Tor der Tränen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 15.11.2012

Juli Zeh unterhält sich im Dossier mit Hanser-Geschäftsführer Michael Krüger und Verleger Helge Malchow (Kiepenheuer & Witsch) über Internet, Digitalisierung und die Zukunft des Buches. Insgesamt überwiegen die kritischen Töne, wenn Krüger und Malchow etwa klagen, dass sie nach dem Erfolg von "Fifty Shades of Grey" lauter Nachahmer-Manuskripte geschickt bekommen. Von der neuen Vielfalt, die das Internet angeblich bietet, hat Michael Krüger noch nichts bemerkt: "Dauernd wird irgendetwas neu erfunden, aber das Einzige, was bis jetzt nicht geändert werden kann, ist, dass sich unser Gehirn für eine Seite zwei Minuten Zeit nimmt. Mehr kann es nicht leisten. Wenn ich daneben noch Musik habe und ein Ballett auf dem Bildschirm sehe und möglicherweise eine Amazon-Empfehlung in bewegten Bildern, dann sind das alles nur Lügenmärchen von einer behaupteten Vielfalt. (...) Es hat sich keine Netzkultur entwickelt, eher eine Netzunkultur."

Der Einsatz von Drohnen hat die Kriegsführung revolutioniert, schreibt der Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han im Feuilleton: Sie ermöglichen es, Feinde zu töten, ohne sich dabei selbst in Gefahr zu begeben. Dadurch werde dem Krieg allerdings seine moralische Legitimation entzogen: "Es ist pervers, vor dem Bildschirm sitzend eine ganze Region, eine ganze Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Es ist moralisch verwerflich, vom bequemen Sessel aus per Joystick Menschen zu töten. Joy heißt Freude. Der Habitus des Videospiels überträgt sich unweigerlich auf die Tötung per Joystick."

Weiteres: Ina Hartwig beschreibt in ihrem Nachruf auf die Frankfurter Rundschau den Aufstieg und Fall des FR-Feuilletons (im Wirtschaftsteil richten Alina Fichter und Götz Hamann mit der Financial Times Deutschland den Blick auf das mutmaßliche nächste Opfer im deutschen Blättersterben). Iris Radisch bedauert Philip Roths in Les Inrockuptibles verkündete Auszeit vom Romaneschreiben und macht sich Hoffnung auf ein Spätwerk: "In zehn Jahren ist er 88 und im besten Schriftstelleralter". Mohamed Amjahid berichtet von einem Treffen syrischer Intellektueller im Pariser Exil. Ijoma Mangold überlegt, was wohl mit dem Modewort 'urban' gemeint sein könnte. Robert Leicht nimmt Abschied von dem Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis.

Besprochen werden Kim Ki Duks preisgekrönter Film "Pieta" (den Katja Nicodemus "eine Zumutung im besten Sinne" findet), der Arthouse-Blockbuster "Cloud Atlas" (Tom Tykwer und den Geschwistern Wachowski gerät die Romanvorlage von David Mitchell zu "einer etwas verquasten Mischung aus Esoterik, Sonntagsschule und halb verdauten Philosophiebrocken", urteilt Georg Seeßlen), eine Ausstellung zur Druckerei Augustin im Detlefsen Museum Glückstadt sowie Bücher, darunter Durs Grünbeins neuer Gedichtband "Koloss im Nebel" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).