Heute in den Feuilletons

Die schöpferische Zerstörungskraft des Internets

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2012. Die New York Times legt den Finger auf den wunden Punkt der Stadt Berlin: Man ist zwar kreativ, aber das heißt noch lange nicht, dass man etwas schafft. In der Welt will Marc Reichwein den "kollektiven Print-stirbt-Taumel" nicht mitmachen. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten müssen sich dringend neu legitimieren, findet Peter Littger auf vocer.org. In der FR fordert Andreas Huckele: Schließt die Odenwaldschule.  Die FAZ schließt sich ihm an. Und bringt einen Bocksgesang aufs Internet.

Weitere Medien, 26.11.2012

Die FR druckt die Dankesrede zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, die Andreas Huckele heute abend in München halten wird. Huckele hatte unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers seine Missbrauchsgeschichte an der Odenwaldschule öffentlich gemacht. "Zur Odenwaldschule habe ich nicht mehr viel zu sagen, außer: Sperrt den Laden endlich zu! Wer nun denkt, der Dehmers, oder nun, der Huckele, der lebt in der Vergangenheit, den möchte ich wissen lassen: Ich habe in diesem Jahr mit gegenwärtigen Lehrkräften und mit gegenwärtigen Schülerinnen und Schülern gesprochen und ich war vor Ort und habe dem Alltag in Ober-Hambach zugeschaut. Im Großen und Ganzen ist dort alles beim Alten, der Geschäftsführer Meto Salijevic zum Beispiel, der Ende der neunziger Jahre, als die Frankfurter Rundschau die Verbrechen an der Odenwaldschule publik machte, bereits im Amt war, ist es heute immer noch. Bekanntlich stinkt ja der Fisch vom Kopf her."

Aus der Mitteilung "In eigener Sache" der Financial Times Deutschland, die im Netz schon am Freitagnachmittag publiziert wurde: "Wir haben die schöpferische Zerstörungskraft des Internets zwar seit unserer Gründung so intensiv beschrieben wie kein anderer in Deutschland. Es ist uns allerdings nicht gelungen, darauf aufbauend ein Geschäftsmodell zu entwickeln, das unseren Anspruch an Journalismus zu finanzieren vermag."

Im Magazin der New York Times legt der australische Musiker Robert F. Coleman den Finger auf den wunden Punkt von Berlin. Er lebte einige Monate mit seiner Band in Neukölln, wo sie ihr Album vorbereiten wollten. Aber alles war so billig und immer gab es irgendwo Party, so wurde nichts draus. "Es schien, als wäre jeder, den wir trafen, künstlerisch ambitioniert und nach Berlin aus den gleichen Gründen gekommen: Um Kunst zu machen. Nur dass sehr wenige von ihnen eine Ausstellung, eine Buchveröffentlichung oder einen Auftritt in Aussicht hatten. 'Ich verbrachte viel Zeit, bei Bier und Kaffee über Kunst zu reden, oder ab vier Uhr morgens vor einem Spiegel', erkannet Pat kürzlich, 'aber ich sah nicht viele, die wirklich künstlerisch tätig waren.' Ich konnte ihm schwerlich widersprechen."

NZZ, 26.11.2012

Kerstin Stremmel feiert die Großschau "1912 - Mission Moderne", mit der das Wallraf-Richartz-Museum die große Ausstellung des Sonderbundes vor hundert Jahren wiederauflegt. Doreen Daume, Übersetzerin des polnischen Autors Bruno Schulz, schickt Eindrücke von ihrer Reise in dessen galizische Geburtstadt Drohobycz. Jürg Huber berichtet von den Konzerten des Klavier-Festivals in Luzern. Peter Hagmann war beim Sinfonieorchester St. Gallen.

Welt, 26.11.2012

"Bis zur Selbstbeschau verrückt" findet Marc Reichwein in seiner Feuilletonkolumne die in der letzten Zeit publizierte Nabelschau der Medienhierarchen, die für das Zeitungssterben nur einen Schuldigen kannten: das Internet mit seiner grässlichen Kostenlosmentalität: "Dass ein gescheitertes Stadtmagazin wie Prinz in jeder anständigen Großstadt noch ein meist besseres lokales Pendant kennt, blieb im kollektiven Print-stirbt-Taumel ebenso außer Acht wie die Tatsache, dass vor zehn Jahren zum Beispiel auch die Woche dichtgemacht hat, ohne zuvorderst ein Opfer des Internets zu sein. Wie die FTD hatte sie den Turnaround schlicht nie geschafft!"

Weitere Artikel: Heimo Schwilk berichtet über die Eröffnung einer "Bibliothek des Konservatismus" in Berlin. Matthias Heine schreibt zum Tod von Larry Hagman.

Besprochen werden Stefan Puchers Inszenierung des "Sommernachtstraums" am Hamburger Thalia Theater und zwei neue Bücher von Walter Moers.

Aus den Blogs, 26.11.2012

Siehe da, es entsteht eine Diskussion über die Öffentlich-Rechtlichen. Hans-Peter Siebenhaar fordert in seinem Buch "Die Nimmersatten", das ZDF einzusparen. Sehr grundsätzlich stellt auch der Medienökonom Peter Littger auf Vocer.org die Legitimation von ARD und ZDF in Frage: "Was wir jedenfalls nicht mehr primär benötigen, sind rein öffentlich finanzierte Vertriebsangebote für Fernsehen und Hörfunk. Erst wenn die Debatte über die angemessene zeitgemäße Verwendung von Gebühren neu geführt, wenn alle Gebührenzahler daran teilnehmen und ein neuer Konsens über die kollektive Förderung von Medien erzielt worden, die unter Marktbedingungen nicht entstehen können - erst dann hat das öffentlich-rechtliche System die Legitimation erlangt, die in Teilen abhanden gekommen ist."

(via 3quarksdaily) Die armen Norweger frieren sich zu Tode! Darum gibts jetzt eine Charitysingle aus Afrika, denn: "People don't ignore starving people, so why should we ignore cold people?"


Stichwörter: ARD, Norwegen, ZDF

TAZ, 26.11.2012

Gabriele Goettle setzt ihre Befragung von Renate Hartwig fort, die sehr deutlich über miese Praktiken im Gesundheitssektor spricht, zum Beispiel über das Abwimmeln schwerkranker Patienten: "Ich sage dazu Folgendes: Ich bin bei der Kasse versichert, Sie als Arzt oder Ärztin haben als Kassenarzt die Zulassung beantragt und erhalten, und folglich haben sie mich zu behandeln! Und zwar aufgrund meiner Krankheit und nicht aufgrund ihres Honorars!! Ja, warum ist er denn Kassenarzt geworden? Er hätte ja auch die Unsicherheit und den Konkurrenzkampf einer Privatpraxis wählen können."

Reinhard Wolff meldet, dass Herta Müller in einem Interview mit Dagens Nyheter den Nobelpreis für den chinesischen Dichter Mo Yan scharf kritisiert hat: "Als Ohrfeige für alle, die für Demokratie und Menschenrechte arbeiten."

Und Tom.

SZ, 26.11.2012

Der Politologe Dirk Lüddecke wägt das Für und Wider des "liberalen Paternalismus" ab, demzufolge der Staat Bewusstsein und Handeln der Bürger durch reglementierende "Stupser" zu lenken versucht. Dass eine Diskussionsveranstaltung über verbliebene Potenziale der Demokratie in München auch über Live-Videoschaltung mit Kairo und Madrid diskutiert wird, hält Bernd Graff für "das gebotene Verfahren der Stunde". Peter Richter besucht ein Konzert der Geriatrie-Rocker Aerosmith in Atlantic City, wo zuvor "Sandy" gewütet hatte. Michael Stallknecht lauscht beim Münchner Literaturfest einem Gespräch über Gott.

Online erfahren wir von Matthias Huber, dass einer aktuellen Studie zufolge der Coup gegen Megaupload womöglich doch nicht die erwünschten Konsequenzen für Hollywood nach sich zog.

Besprochen werden neue DVDs, darunter der nach einem Drehbuch von Jacques Tati gedrehte Animationsfilm "Der Illusionist" (hier ein Ausschnitt), Hans Neuenfels' Inszenierung von Mozarts "La Finta Giardiniera" an der Staatsoper in Berlin, Ausstellungen über die Architekten Labrouste und Baltard in der Cité de l'Architecture beziehungsweise im Musée d'Orsay in Paris, Dimiter Gotscheffs Shakespeare-Abend im Deutschen Theater Berlin, eine von Andris Nelson dirigierte Aufführung von Tschaikowskys "Pathétique" in München und Bücher, darunter Albrecht Koschorkes "Wahrheit und Erfindung" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 26.11.2012

Melanie Mühl fordert die endgültige Schließung der Odenwaldschule, denn: "Auch Orte haben eine Seele, und die Odenwaldschule ist ein traumatisierter Ort. Die Institution hat einen Schock erlitten, der sich in ihre DNA eingeschrieben hat."

Weitere Artikel: Der israelische Schriftsteller Etgar Keret sieht im Interview keinen Grund, sich Hoffnungen auf eine Lösung des Nahostkonflikts zu machen, hofft aber trotzdem. In der Glosse erzählt Dirk Schümer, wie raffiniert die italienischen Abgeordneten sparen. Stefan Schulz lässt keine gutes Haar an den Piraten, die auf ihrem Parteitag Redner nicht zu Wort kommen ließen, vorbereitete Entwürfe ruckzuck entkernt und sich ansonsten hauptsächlich mit ihrer Geschäftsordnung beschäftigt hätten. Kerstin Holm meldet, dass die Anwälte von Pussy Riot ohne Rücksprache ein Buch mit deren Texten veröffentlichen ließen. Katrin Rönicke und Marco Herack berichten von einem Kongress Berliner Collegium Hungaricum über das Verhältnis der zweiten und dritten Generation Ost. Jochen Hieber resümiert das Fernsehfilm-Festival Baden-Baden. Jordan Mejias schreibt zum Tod des "Dallas"-Schauspielers Larry Hagman.

Besprochen werden Hans Neuenfels' muntere Inszenierung der frühen Mozartoper "La Finta Giardiniera" in Berlin, Dimiter Gotscheffs Shakespeare-Revue am Deutschen Theater Berlin und Bücher, darunter Heinrich Deterings Gedichtband "Old Glory" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Unter der Überschrift "Das heilige Versprechen" singt Frank Schirrmacher in der Sonntags-FAZ auf einer ganzen Seite seinen Bocksgesang auf das Internet: das Versprechen der Demokratisierung von Information habe sich nicht erfüllt, statt dessen profitierten vom Netz nur einige Giganten, die jetzt allen ihre neoliberalen Ideologien aufdrücken.