Heute in den Feuilletons

Ungeheuerlich chinesisch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2012. Über Mo Yan wird weiter kontrovers diskutiert: die FR sammelt Stimmen zu seinen dubiosen Äußerungen über Zensur, in der FAZ befindet seine Übersetzerin Karin Betz: Mo Yan kokettiert mit seiner Exotik. Die Welt wünscht sich staatliche Regulierung des haifischkapitalistischen Internets. Nicht nur die Prophezeiungen der Apokalypse haben sich mittlerweile erschöpft, meint Thomas Macho in der NZZ angesichts des bevorstehenden Weltuntergangs, sondern auch deren Dementis. Alaa al-Aswani erzählt in der SZ von Begegnungen mit dem verblüffend umgänglichen Mohammed Mursi.

TAZ, 08.12.2012

Thrillerautor Don Winslow stellt die USA und Mexiko auf den Kopf: Das "mexikanische Drogenproblem" ist seiner Ansicht nach ein Amerikanisches: "Was wäre, wenn mexikanische Drogenkonsumenten terroristische Organisationen in den Vereinigten Staaten finanzieren würden? Wie lange würde es dauern, bis Panzer rollen? Denn genau das machen wir mit Mexiko. Unser Drogengeld fließt - zusammen mit unseren Waffen - in den Süden, wo es die Macht der Kartelle stärkt".

Weitere Artikel: Rosa von Praunheim, gerade 70 geworden, gibt Martin Reichert Tipps fürs Leben: "Man muss einfach alle Schrullen blühen lassen." Philipp Brandstädter besucht Forscher, die einen Lift ins All bauen wollen. Bettina Gaus ärgert sich über die sprachlich schlampige Berichterstattung über den Aufstand in Ägypten. Jasmin Kalarickal protokolliert die Flüchtlingserfahrungen von Yassir Abdullah Ahmad, einem Aktivisten des Berliner Flüchtlingscamps. Reinhard Wolff berichtet von schwerem Zoff hinter den Kulissen der Nobelpreiskomitee um Tomas Tranströmers chinesischen Übersetzer Li Li. Im Berliner Kulturteil spielt Detlef Kuhlbrodt Billard.

Besprochen werden der Film "7 Psychos", das neue und letzte Album der mexikanischen Punkband Los Llamarda (hier viel Musik der Band) und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Peter Handke und Siegfried Unseld (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 08.12.2012

So allgegenwärtig Baustellen in Realität und Metaphorik sind, so gering ist unser tatsächliches Wissen von ihnen, bemerkt der Kulturtheorietiker Hartmut Böhme und plädiert für eine Wissenschaft des Unfertigen: "In den letzten Jahren fällt auf, dass bis in die TV-Nachrichtensendungen hinein über spektakuläre Baustellen berichtet wird: Das Taipei Financial Center, die Sportarenen der Olympischen Spiele in Peking und London, der Drei-Schluchten-Staudamm am Jangtse-Strom in China, die Großbaustellen in Dubai. Wohlbemerkt: Reportagen über die Baustellen, nicht über die fertigen Gebäude. Hier erscheinen die Attribute der neuen Baustellen-Faszination: gigantisch, erhaben, erregend, überwältigend. Charakteristisch ist, dass gerade das Unfertige mit seiner eigenen Ästhetik herausgestellt wird."

Außerdem ist Fleur Jaeggys Erzählung "Der schwarze Spitzenschleier" zu lesen. Michael Hampe denkt über Wissenschaft und Markt nach.

Im Feuilleton versucht Thomas Macho, den für die nächsten Tage drohenden Weltuntergang in den kulturtheorietischen Griff zu bekommen: "Allerdings haben sich inzwischen nicht nur die Prophezeiungen einer Kollision mit Nibiru, eines katastrophalen Polsprungs, einer kollektiven Erleuchtung, eines neuen Zeitalters in der fünften Dimension oder einer ersten Begegnung mit den Ausserirdischen erschöpft, sondern eben auch die Dementis der Apokalypse."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel wird nicht ganz schlau aus dem allein von Autorinnen bestückten Dezember-Heft des Merkurs. Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung mit Zeichnungen von Markus Raetz im Kunstmuseum Basel, Walter Buchebners Gedichtband "ich die eule von wien" und Elisabeth Schmidauers Romanerstling "Sommer in Ephesos" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR/Berliner, 08.12.2012

Dirk Pilz gerät angesichts "vollgepfropfter digitaler Archive", wie die kürzlich ans Netz gegangene Deutsche Digitale Bibliothek eines darstellt, schwer ins Keuchen: Wo bleibt da die Ordnung, wo der, der einem sagt, was wichtig ist? Bei Aleida Assmann liest er nach, "dass an den Menschen geknüpfte Kategorien wie Erinnern und Vergessen 'immer unangemessen erscheinen'. Sie waren bislang an eine gemeinsame Kultur des Wertens und Auswählens geknüpft; jetzt aber, so scheint es, sind zwar die Archive voll und allen zugänglich, aber die Kriterien für das Vergessen und Erinnern sind zum unscharfen Privatvergnügen geworden."

Steven Geyer führt ein beeindruckend ausführliches Gespräch mit Elektropop-Legende Dave Gahan von Depeche Mode. Darin möchte er seine Band von früheren Wegbegleitern streng abgegrenzt sehen: "Wir drehten die Drum-Maschine voll auf und legten los. Wir waren wie elektronische Ramones! Und wir waren nie so wie all jene 80er-Bands, die die 80er nicht überlebten, wie Duran Duran oder Spandau Ballett. Wir drehten keine Videos in Sri Lanka auf einem weißen Boot, wir drehten in Berlin, in einem Abbruchgebäude, in dem wir Autos zertrümmerten." Auf Youtube kann man sich davon überzeugen:



Außerdem sammelt Bernhard Bartsch Stimmen zu Nobelpreisträger Mo Yans dubiosen Äußerungen über Zensur ("Alle Falschinformationen, Verleumdungen, Gerüchte und Beleidigungen sollten zensiert werden").

Welt, 08.12.2012

Auf der World Conference on International Telecommunication (WCIT) in Dubai wird diskutiert, das Internet unter staatliche Kontrolle zu bringen, meldet Ulrich Clauss. Dem pawlowschen Aufschrei, dass dies das Ende der Freiheit im Netz bedeute, hält er entgegen, dass das Internet gegenwärtig mitnichten frei ist, sondern sich in der Hand von "Big-Data-Monopolisten" wie Google, Facebook, Apple und Microsoft befindet: "Sie haben in den unregulierten - also schutzlosen - Strukturen der Netzwelt ihre Geschäftsmodelle bis zur Monopolbildung eingenistet, das Netz zu ihrer Beute gemacht. Sie setzen Standards nach Belieben, greifen in den rechtsfreien Räumen der Netzwelt kostenlos Inhalte ab - im Namen einer 'Freiheit', die mitnichten die Freiheit der Nutzer und die Gewerbefreiheit kleinerer Konkurrenten ist."

Im Feuilleton wünscht sich Ulf Poschardt eine Wiederbelebung des Liberalismus, und zwar "aus dem Geiste des Skateboarding". Johnny Erling berichtet, dass es einem amerikanischen Reporterteam in Peking gelungen ist, zu Liu Xia, der unter Hausarrest stehenden Ehefrau des inhaftierten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, vorzudringen. Thomas Kielinger isst mit Ronald Reagans erstem Sicherheitsberater Richard V. Allen Fisch. Sascha Lehnartz hofft, dass die Eneueröffnete Zweigstelle des Louvre der abgewirtschafteten Bergbaustadt Lens neuen Glanz verleiht.

In der Literarischen Welt debattieren Francis Fukuyama und Jürgen Habermas über die Zukunft Europas. "Der status quo wird nicht zu stabilisieren sein", meint Habermas mit Blick auf die wirtschaftliche Ordnung, werde nicht zu stabiliseren sein: "Zum ersten Mal ist der Zusammenbruch des Finanzsystems, das zugleich sowohl der am höchsten entwickelte Sektor als auch der größte Profiteur des globalen Kapitalismus ist, nur durch den unfreiwilligen Beitrag der Bürger in ihrer politischen Rolle als Steuerzahler verhindert oder zumindest verzögert worden."

Weiteres: "Deutsche Schriftsteller auf der Schwelle zum Alter fordern sich intellektuell zu wenig ab", befindet Tilman Krause in der Literarischen Welt am Beispiel Ralf Rothmanns, Georg Kleins und Alain Claude Sulzers (etwas Hoffnung machen ihm Sibylle Lewitscharoff und Rainald Goetz). Viola Roggenkamp macht sich in ihrer Kolumne Gedanken über europäischen Antisemitismus. Georg M. Oswald berichtet von der Moskauer Buchmesse. Besprochen werden unter anderem Ezra Pounds "Cantos", die gesammelten Reportagen von Martha Gellhorn, ein neuer Essayband von Hans Sahl und eine Studie über "Iraks letzte Juden".

Tagesspiegel, 08.12.2012

Im Interview mit Caroline Fetscher und Christian Böhme sprechen der Berliner Rabbiner Daniel Alter und der deutsch-palästinensische Psychologe Ahmad Mansour über einen aggressiver werdenden Antisemitismus in Deutschland. Mansour: "Ich unterscheide drei Typen des Antisemitismus unter Menschen mit Einwanderungshintergrund. Die einen hängen Verschwörungstheorien an: Danach haben die Juden die Finanzkrise verursacht oder sind für die Anschläge von 9/11 verantwortlich. Bücher über angebliche Untaten des Mossad bestätigen die Anhänger der Verschwörungstheorien. Dann gibt es die arabisch-antizionistische Richtung. Für sie ist der Konflikt im Nahen Osten klar: Juden sind immer Täter, Muslime immer Opfer. Schließlich gibt es diejenigen, die religiös argumentieren und dafür Geschichten aus dem Koran zitieren, um ihre antijüdische Haltung zu begründen."

SZ, 08.12.2012

Tim Neshitov trifft Alaa al-Aswani, Ägyptens größten Schriftsteller und erbitterten Mursi-Gegner, der von bizarren Begegnungen mit dem islamistischen Präsidenten seines Landes erzählen kann: "'Man kann sehr offen mit ihm sein, und er hört freundlich zu. Ich sagte: Sie sind Vertreter einer Organisation, deren Geldquellen im Verborgenen liegen. Ihre Verfassungsreform ist durch nichts legitimiert. Und er lächelte die ganze Zeit und sagte, er gebe mir in allen Punkten recht. Er sagte: Vielen Dank, lassen Sie uns ein gemeinsames Foto machen.'

Weitere Artikel: Helmut Mauró hat nach der Eröffnung einer kubanischen Dependance der Stiftung Mozarteum wenig Verständnis dafür, dass sich Deutschland vor der Kulturarbeit in Kuba spreizt. Nach den Restitutionen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz aus der einst von den Nazis zerschlagenen Sammlung Curt Glaser wünscht sich Ira Mazzoni, dass Kunstarchive "genauer hinsehen, was sie wo nach 1933 erworben haben". Max Fellmann traut seinen Augen kaum - und entdeckt dann doch "die Offenheit des Konzepts 'Popmusik'": Becks neues Album "Song Reader" kommt nicht als Aufnahme, sondern als altmodisch illustriertes Notenbüchlein zum Selber-Nachspielen daher. Im neuen, an Twitter orientierten Spotify-Feature "Music-Graph" (mehr) sieht Dirk von Gehlen einen "Relaunch des Prinzips des Kritikers, der seine Autorität nicht mehr nur im Reden über Musik begründet, sondern im Hören und Vorspielen."

Besprochen werden die "vorsichtige" Ausstellung "Im Licht von Amarna" im Neuen Museum in Berlin, die Ausstellung "Privat" in der Schirn in Frankfurt (bei der sich Catrin Lorch schwer am "zu pubertären Begriff des 'Privaten'" stößt), Faith Akins Dokumentarfilm "Müll im Garten Eden", Gísli Örn Gardarssons Kafka-Inszenierung "Die Verwandlung" am Cuvilliéstheater in München und Bücher, darunter "Der Preis des Geldes" von Christina von Braun (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende spricht unter anderem Antje Wewer mit der Schauspielerin Fritzi Haberlandt.

FAZ, 08.12.2012

Am Montag erhält Mo Yan den Nobelpreis. Seine Übersetzerin Karin Betz erklärt die große Magie, aber auch den Patriotismus seiner Literatur: "Im Nachwort zu 'Die Sandelholzstrafe' sagt er, sein Roman sei 'nichts für Liebhaber westlicher Literatur', er wolle vielmehr dem Erbe der volkstümlichen Literatur ein Denkmal setzen. Das stimmt natürlich nicht ganz. Mo Yan spricht keine Fremdsprachen, er ist wenig gereist - aber er hat eine umfangreiche Bibliothek und kennt die europäische und amerikanische Literatur gut genug, um ihr mit großer Souveränität Romane entgegenzusetzen, die in einer Zeit der globalisierten Literatur ungeheuerlich chinesisch anmuten."

Weiteres: Heute berichtet auch Sandra Kegel vom eskalierten Rechtsstreit zwischen Suhrkamp Verlag und Anteilseigner Hans Barlach: "Sein Wille zur Zerstörung scheint groß." Claudius Seidl war auf der Eröffnung der Borchardts-Dependance "George Grosz" am Kurfürstendamm. Matthias Grünzig lobt die Sanierung der Dresdner Studentenstadt Wundtstraße. Jürgen Dollase hat opulent und ausgesprochen kreativ bei Gerald Zogbaum gegessen. Andreas Kilb freut sich, dass Ellen von Unwerth eine Fortsetzung der Milliardärs-Erotik "The Story of Olga" vorgelegt hat.

In Bilder und Zeiten ermittelt Caroline Elsen in der kriminellen Königsklasse, dem spektakulären Kunstraub. Auch delirierenden Brokern kann Daniel Haas des "Blaue Buch" empfehlen, die Grundschrift der Anonymen Alkoholiker: "Ein Text der Weltliteratur". Patrick Bahners berichtet, dass die Liebesbriefe von Charles M. Schulz an Tracy Claudius in New York versteigert werden. Außerdem spricht der Dirigent Fabio Biondi über Barockmusik, den Klassikmarkt und seine Arbeit mit dem Sinfonieorchester Stavanger: "Was besonders auffällt, ist ein Idealismus in der Arbeit, den man außerhalb Skandinaviens kaum kennt, ich nenne es Aufopferungsbereitschaft."

Besprochen werden unter anderem Operninszenierungen von Meyerbeer und Vaughan Williams in London, das neue Album "King Animal" der guten alten Grungerocker Soundgarden, Neil MacGregors "Geschichte der Welt in 100 Objekten", Agnes Zsolt Erinnerungen an ihre in Auschwitz ermordete Tochter "Das rote Fahrrad" und Gabriele Riedles Roman "Überflüssige Menschen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Frieder von Ammon Hölderlins "Achill" vor:

"Herrlicher Göttersohn! da du die Geliebte verloren,
Gingst du ans Meergestad, weintest hinaus in die Flut..."