Heute in den Feuilletons

Ulla umschmeichelt das Publikum

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2012. In der FAZ ärgert sich Hermann Parzinger über türkische Kulturpolitiker. Die Welt bestaunt ein strammes rechtes Bein mit Netzstrumpf. VS Naipaul schwärmt in The New Republic von Thomas Mann. Im Telegraph ist Hanif Kureishi entsetzt über die faschistische Atmosphäre in Pakistan. In der taz erklärt Alissa Ganijewa warum die russische Landbevölkerung nicht gegen Putin rebelliert. Die FR sitzt gebannt in der Barockoper Suhrkamp. In der NZZ erzählt Matthias Politycki, was ihn zum Schreiben bringt. In der SZ bewundert Alexander Kluge die Abstände der Gedanken von Jürgen Habermas.

Weitere Medien, 15.12.2012

(via ald) Das Feuer lodert bei V.S. Naipaul nur noch selten auf. Im Gespräch mit Isaac Chotiner für The New Republic macht er einen so gebrechlichen und manchmal sogar ängstlichen Eindruck, dass die Lektüre ungemütlich wird. Immerhin sagt er etwas Nettes über Thomas Mann, dessen "Buddenbrooks" er gerade gelesen hat: "Ich war wie vor den Kopf geschlagen. ... Es ist so weise. Wunderbares erzählerisches Talent. Seine Sprache ist wunderbar. Wenn er spricht, wechselt er die Tonlagen. Und es ist immer großartig. Er muss sich mit Typhus beschäftigen, der eine seiner Figuren tötet, und er macht das, indem er sich distanziert. Er versetzt sich in den Leidenden und erzählt, was mit einem Typhuspatienten geschieht. An einem bestimmten Moment spricht das Leben aus ihm selbst. Sehr schöne Art zu schreiben. Ich fühle mich kläglich, wenn ich zu paraphrasieren versuche. Sehr, sehr bewegend. Es hat mich geblendet."

(via 3quarksdaily) Cathy Galvin führte für den Telegraph ein langes Gespräch mit dem britischen Autor Hanif Kureishi - über Sex, Liebe, Eltern, Psychotherapie und seine neuen Bücher. Seine Kurzgeschichte "This Door Is Shut" schrieb er nach einem Besuch in Pakistan, wo er zwanzig Jahre nicht mehr gewesen war. "Die Veränderungen haben ihn tief getroffen: 'Ich erinnere mich an Karatschi in den Achzigern und wie der Liberalismus, unter dem meine Familie lebte, bedroht war', sagt er. 'Jetzt ist er vollkommen verschwunden. Es gibt keine Juden mehr, keine Christen, keine Hindus. Es gibt keine chinesischen Restaurants. Es herrscht eine schrecklich tote faschistische Atmosphäre. In den Achtzigern kommen man noch Frauen in Sommerkleidern sehen, die ins Café gingen. Jetzt sind alle Frauen schwer verschleiert, nicht nur, weil sie religiös sind, sondern weil sie Angst haben, von Männern angemacht zu werden. Es ist ein sehr verängstigter Ort. Niemand würde dort freiwillig hinziehen." Wenig begeistert war Kureishi übrigens auch von Deutschland: "Die Leute dort fragen: Sind Sie wirklich englisch? Und ich denke, was zum Teufel reden die da? Wie können sie es wagen, so mit mir zu sprechen? Hier [in Britannien] stellt einem niemand mehr solche Fragen."

Nur zur Erinnerung: Eine Szene aus Kureishis "Wunderbarem Waschsalon" von 1985 mit Daniel Day Lewis, bevor er zum monstre sacré wurde:

Weitere Medien, 15.12.2012

Arno Widmann halluziniert sich für die FR ins prunkvolle Spielhaus: Kein Dramolett, kein deutsches Lustspiel, sondern "in Wahrheit eine Barockoper" wird in der Sache Suhrkamp gegeben, die Kulisse liefert die versammelte deutschsprachige Nachkriegsintelligenz: "Hans und Ulla stehen auf der riesigen Bühne, unter, neben, über ihnen alles zwischen Theodor W. Adorno und Peter Weiß, also Thomas Bernhard, Paul Celan, Hermann Hesse - nein, nein, nein, nicht anfangen mit der Aufzählung, sie nähme kein Ende - und singen wieder und wieder die gleichen wenigen Sätze. Ulla umschmeichelt das Publikum, wirft ihm stolze Blicke zu ... Hans dagegen sitzt in einem Sessel in seiner 700 Quadratmeter großen Villa im Hamburger Stadtteil Winterhude und gibt mit Zigarre und Cognac-Glas den baritonalen Bescheidwisser". Angst und bang wird Widmann vor dem Bescheidwisser dann aber doch, wenn er sich dessen Geschichte als Zeitungsauf- und -weiterverkäufer ansieht: Unter keinen Umständen will er den Traditionsverlag in dessen Händen wissen.

ein Vorbild für Deutschland! Der Standard guckt sich mal die Anzeigen der öffentlichen Hand in österreichischen Zeitungen an, die in Österreich nach dem Medientrasparenzgesetz veröffentlicht werden müssen: "Das Innenministerium setzt andere Schwerpunkte auf dem Boulevard: 450.000 Euro, davon 150.000 in Österreich und 123.000 in Heute, 45.000 in der Presse, aber keinen Werbe-Cent in der Krone - und übrigens auch nicht im Standard."

NZZ, 15.12.2012

In Literatur und Kunst erklärt Matthias Politycki, was ihn zum Schreiben bringt - außer unglücklich verliebt sein: "Ein durch untätiges Verzagen sich selbst aufschaukelnder Missmut (gleich welchen Ursprungs) bekommt durch Phantasie und Sprache ein plötzliches Ventil und, mehr noch, eine unvermutete Richtung weg vom konkreten Anlass. Der Missmut verwandelt sich spontan in Schaffensfreude; erst viel später erkennt man den Preis, den man für diese unverhoffte Problemlösung in der Folge noch zu zahlen hat: indem man das, was man als schieren Druck in seine Erstnotate hineingepumpt hat, über Jahre hinweg zu Literatur zusammenbaut."

Außerdem: Eva-Maria Brandstädter und Rasim Mirzayev stellen den aserbeidschanischen Aufklärer und Literaten Mirza Fatali Achundov (1812-1878) vor, dessen Schriften heute noch im Iran verboten sind. Manfred Koch bespricht Bücher von und über James Joyce.

Im Feuilleton ist Arno Geiger schlaflos. Besprochen werden die Ausstellung "Verführung Freiheit" im Deutschen Historischen Museum Berlin, eine Ausstellung über Schmuck aus Perlen im Schmuckmuseum Reuchlinhaus in Pforzheim, die Hindemith-Oper "Mathis der Maler" in Wien und Bücher, darunter der Roman "Morgenröte" des haitianischen Schriftstellers Yanick Lahens (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 15.12.2012

Staunend zieht Hans-Joachim Müller durch die große Rosemarie-Trockel-Schau in New York: "Kann das alles aus einem Atelier stammen? Hier das stramme rechte Bein mit Netzstrumpf und rosa Flip-Flop in der runden Glasvitrine und dort die kristallinen Keramiken, die aussehen, als seien ein paar Brocken Lava veredelt worden?" Und dann natürlich diese Courbet-Variation...

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings freut sich über die Berufung des Schriftstellerverlegers Jo Lendle als Nachfolger des Schriftstellerverlegers Michael Krüger. Marc Reichwein meditiert aus Anlass der Suhrkamp-Krise und eines Bandes der Zeitschrift für Ideengeschichte über Theorie als Pop. Andrea Seibel geht mit dem Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky essen - natürlich in Neukölln, im Schloss Britz.

In der Literarischen Welt begrüßt Henryk Broder Tuvia Tenenboms Diagnose von der anhaltenden jüdischen und israelischen Obsession der Deutschen. Tilman Krause findet nicht, dass man auf einen Großvater wie Ernst Barlach allzu stolz sein sollte. Der Autor und Anwalt Georg M. Oswald gibt im Interview mit Wieland Freund seine Einschätzung des Falls Suhrkamp bekannt. Hans Mommsen bespricht die von Jochen Hellbeck herausgegebenen Augenzeugenbericht über Stalingrad ("Die Stalingrad Protokolle"). Wieland Freund erinnert an das erste Erscheinen von Grimms Märchen vor 200 Jahren - dazu wird auch Karin Duve interviewt, die eine modernisierte Fassung einiger Märchen veröffentlicht hat. Besprochen werden außerdem Nadine Gordimers Roman "Keine Zeit wie diese", eine neue Biografie über Theodor Heuß und die "Building Stories" von Chris Ware.

TAZ, 15.12.2012

Die russische Autorin Alissa Ganijewa erklärt Klaus-Helge Donath, warum bei den Protesten in Russland die ländliche Bevölkerung so schwer zu mobilisieren ist: "Sie vergleichen die Putin-Zeit mit dem Umbruch in den ökonomisch schwierigen 1990er Jahren. Seit Putin an der Macht ist, kommt der Lohn wieder pünktlich. Er ist zwar lächerlich niedrig und reicht gerade mal für die Strom- und Gasrechnung, das ändert aber nichts an ihrer Zufriedenheit. Eigentlich haben sie nichts, sind aber trotzdem dankbar." Dazu passend macht sich Irina Serdyuk Gedanken über die Fortdauer postsowjetischer Mentalität in Russland und Ukraine.

Weiteres: In der Causa Suhrkamp erblickt Christoph Schröder auf allen Seiten nur noch Borniertheit - und eine im Verlagsgewerbe "destruktive Energie" ohnegleichen. Der portugiesische Regisseur Miguel Gomes hat überhaupt keine Lust, sich auf geradliniges Erzählen zu beschränken, wie er Cristina Nord im Gespräch über seinen Film "Tabu" verrät: "Das ist, als wollte man Mozart sagen, er verwende zu viele Noten in seinen Kompositionen." Sebastian Erb verfolgt Liquid-Feedback-Experimente in Friesland. Antisemit und israelkritisch, aber keine Lust auf lästige Diskussionen? Philip Meinhold gibt für diesen Fall wertvolle Tipps zum Verfassen entsprechender Pamphlete.

Besprochen werden Bücher, darunter Akira Iriyes und Jürgen Osterhammels "Geschichte der Welt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 15.12.2012

Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ärgert sich maßlos über türkische Kulturpolitiker, die ihre Kulturgüter verkaufen, während sie lauthals die "Rückgabe" älterer Grabungsfunde verlangen: "Anstatt aber über die gängige Praxis der Fundteilungen vor über hundert Jahren aufzuklären und damit die Mitverantwortung der früheren Regierungen dieser Länder deutlich zu machen, inszeniert man sich lieber auf schrille Art und Weise als ahnungsloses Opfer von verwerflichem Kulturimperialismus. ... jeder weiß doch, dass die wunderbaren hellenistischen Reliefs des Pergamon-Altars gerade in die Kalköfen des Dorfes Bergama wanderten, als Carl Humann in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts dort auftauchte und sie im wahrsten Sinne des Wortes für die Nachwelt rettete."

Weitere Artikel: Jürgen Dollase wünscht sich zu Weihnachten kulinarisch mündige Bürger. Niklas Maak nimmt den Selbstmord der Krankenschwester Jacintha Saldanha zum Anlass, die Prankster-Anrufe von Radio- und Fernsehmoderatoren zu verurteilen: Sie habe "wenig mit Satire zu tun - schon, weil sie sich selten gegen Macht richten, sondern selbst eine sind". Felicitas von Lovenberg hält die Wahl von Jo Lendle zum neuen Hanser-Verleger ab 2014 für eine gute. Helmut Mayer schreibt zum Tod des Ökonomen Albert O. Hirschman. Auf der Medienseite erklärt Fridtjof Küchemann, warum die meisten westlichen Länder nicht das Abschlussdokument der Weltkonferenz zur Telekommunikation unterzeichnet haben: "Repressive Regime könnten die Interpretationsmöglichkeiten der Vereinbarung nutzen, um eine stärkere nationale Überwachung des Internets zu legitimieren." Online lesen kann man jetzt auch das Gespräch mit dem Max-Planck-Juristen Reto Hilty, der gestern in der FAZ erklärte, warum ein Leistungsschutzrecht für Verlage Unsinn ist.

Besprochen werden Shakespeares "Coriolanus" in einer Inszenierung von Rafael Sanchez am Deutschen Theater und Bücher, darunter Kurt Vonneguts Erzählband "Hundert-Dollar-Küsse" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten denkt Stefan Schulz darüber nach, wie Comedy-Sendungen wie die Daily Show und Fernsehserien wie West Wing unser Bild von der Politik prägen. Kerstin Holm stellt den russischen Kunsthistoriker Juri Markin vor, der gerade einen Bildband mit Werken von Arno Breker, Josef Thorak und anderen Nazikünstlern veröffentlicht hat und damit in Russland einen Überraschungserfolg landete. Sebastian Balzter schreibt zum 100. Geburtstag des norwegischen Kinderbuchautors Thorbjørn Egner. Christian Wildhagen unterhält sich mit dem Dirigenten Marc Minkowski über Bach, Wagner und Schubert, dessen Symphonien er gerade eingespielt hat: "Dieser weite Atem! Schubert ist für mich ein Meister der kompositorischen Entwicklung, obwohl - oder gerade weil - man bei ihm manchmal gar nicht merkt, dass sich die Musik entwickelt." Und Marco Schmidt unterhält sich mit dem Filmregisseur William Friedkin, der eigentlich am liebsten Musicals drehen würde, doch "muss ich offenbar akzeptieren, dass Filme wie 'Killer Joe' eher meiner Persönlichkeit entsprechen".

Besprochen werden eine Ausstellung über das Jazz-Label ECM im Münchner Haus der Kunst und CDs von Rihanna und Alicia Keys.

In der Frankfurter Anthologie stellt Norbert Mecklenburg ein Gedicht von Goethe vor:

"Ob der Koran von Ewigkeit sei?
Darnach frag ich nicht!
Ob der Koran geschaffen sei?
Das weiß ich nicht!
..."

SZ, 15.12.2012

Für die Theologin Eveline Goodman-Thau lassen sich die Auseinandersetzungen im Nahen Osten nur unter Einbeziehung religiöser Elemente in die Politik lösen: "Der Januskopf der europäischen Aufklärung kennt nur die Alternative zwischen Demokratie und Theokratie. Auf der Tagesordnung steht aber für Israelis und Palästinenser ein Paradigmenwechsel: Nicht nur Aufklärung von der Religion, sondern Aufklärung in der Religion."

Alexander Kluge blickt für seine ganzseitige Laudatio auf Jürgen Habermas in seine Heine-Gesamtausgabe, ins Firmament des Himmels und nicht zuletzt in das Arbeitszimmer des Soziologen: "Ich sehe Jürgen Habermas vor mir, wie er arbeitet. Wichtige Skizzen notiert er handschriftlich. Man sieht auf dem Blatt Papier die Proportion und die Abstände der Gedanken zueinander, graphisch-poetisch."

Außerdem: Kurz und bündig gibt Sibylle Lewitscharoff bekannt, dass sie, sollte sich "ein derart zwielichtiger Mann wie Hans Barlach" Suhrkamps bemächtigen, Reißaus nehmen werde. Maike Wetzel berichtet, wie es sich im einzigen Niemeyer-Haus in Deutschland lebt, das im Berliner Hansaviertel zu finden ist. Thomas Steinfeld erzählt aus dem Nähkästchen eines passionierten Jägers antiquarischer Balzac-Preziosen. Mit seinem Urteilsspruch (mehr) in der Auseinandersetzung zwischen Kraftwerk und Sabrina Setlur (die von ersteren Rhythmuselemente sampelte) engt der Bundesgerichtshof die Möglichkeiten des Samplens weiter ein, berichtet Wolfgang Janisch. Nur gut, dass Afrika Bambaataa sich bei der Geburt des HipHop aus dem Geiste der deutschen Elektromusik darum noch nicht scheren musste:



Besprochen werden Ronny Jakubaschks Theateradaption von Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" am Neuen Theater Halle, Christopher Wheeldons "Cinderella"-Bearbeitung am Nationale Ballet in Amsterdam ("ein Meilenstein", jubelt Dorion Weickmann), Simon McBurneys Inszenierung der "Zauberflöte" am Muziektheater in Amsterdam (die Reinhard J. Brembeck rundum beglückt), der portugiesische Film "Tabu" und Bücher, darunter ein von Bernd Graff bejubelter Bildband über Fußballstadien (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende hat der bisherige Apple-Aficionado David Pfeifer von Steve Jobs' Firma nach allzu viel Sperenzchen (bei Teuerungen im AppStore etwa "bezog Apple die Verhandlungsposition von, sagen wir mal, Darth Vader") endgültig genug. Frederick Obermaier trifft den dänischen Rocker Morten Storm, der erst radikaler Islamist wurde und später "Islamisten jagen" wollte. Jan Bielicki erinnert an das erfolgreiche Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme SRP im Jahr 1952. Der Historiker Faramerz Dabhoiwala erzählt Tobias Haberl von den Recherchen zu seiner Studie "The Origins of Sex".