Heute in den Feuilletons

Die wahre Tugend des Adels

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2012. Die Welt würdigt Leben und Werk des Pornofilmers José Benazeraf.  In der Berliner Zeitung fragt Götz Aly: In welchem europäischen Land ist der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen am höchsten? In der FAZ heilt der ägyptische Autor Alaa al-Aswani ein Stigma seines Präsidenten Mursi. Und Durs Grünbein fragt: Wie lebenswert ist ein Kapitalismus, der das Haus Suhrkamp gefährdet? 

Weitere Medien, 18.12.2012

Götz Aly setzt in seiner Kolumne für die Berliner Zeitung seine Serie über Ungerechtigkeit in Deutschland fort: "Kein anderes europäisches Land diskriminiert Frauen in dem Ausmaß wie das in Deutschland tagtäglich mit aller Selbstverständlichkeit geschieht." Die Zahlen dazu: "In Deutschland liegt der durchschnittliche Stundenlohn für Frauen um 22 Prozent unter dem der Männer - auch für Akademikerinnen. In Norwegen beträgt diese Lohndifferenz 8,7 Prozent, in Polen 10, in Spanien 12, in Frankreich 13 Prozent."

Bei Granta erklärt der amerikanische Mo-Yan-Übersetzer Howard Goldblatt, wie schwierig es ist, aus dem Chinesischen zu übersetzen: "Anyone who reads Mo Yan in English is reading Goldblatt. I don't say that with a sense of arrogance. It's just the truth. And it is pretty much true with all languages but with certain languages, like Chinese or Japanese, even more so. With Spanish or French the author pretty much tells you what to do. But in Chinese and Japanese the author just hopes that you will get it right. In Japanese, for example, the predicate always comes at the end of the sentence. You can't do that in English. The words are essentially mine, but I don't say this with pride. My goal in Chinese translation is that it won't read as if it were written by an American, but that it will read as if written by a Chinese author who wrote in pretty good English."

NZZ, 18.12.2012

Stefan Gronert hat sich eine Ausstellung mit neuen Werken von Andreas Gursky in dessen Heimatstadt Düsseldorf angesehen und fragt sich: "Muss man diese Ausstellung also gesehen haben? Man sollte!" Andrea Köhler berichtet, wie New Yorker Künstler in ihren Installationen das Publikum zu Akteuren machen.

Besprochen werden eine Inszenierung von Arthur Honeggers "Roi Pausole" am Genfer Grand Théâtre (bei der sich Peter Hagmann fragt: "Wann darf man sich in einem Opernhaus so königlich amüsieren wie hier?") und Bücher, darunter Arthur Rüeggs umfangreicher Werkkatalog "Le Corbusier - Möbel und Interieurs 1905-1965" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR/Berliner, 18.12.2012

Vor 200 Jahren wurde Grimms Märchen erstmals veröffentlicht. Seitdem ist es sehr schwer geworden, eine neue Märchenfigur zu entwerfen, erklärt Felicitas Hoppe, die lange vor Iwein Löwenritter als Kind eine ähnliche Figur erfand, im Interview: "Was mich so verblüfft, ist, wie schmal das Repertoire in der Literatur doch ist. Wir wiederholen immer wieder bestimmte Grundmuster. Deshalb lesen wir auch weiter diese Märchen mit demselben Muster: Da muss einer in die Welt hinaus, muss sich bewähren, sucht die Prinzessin, rettet sie. Trotzdem wird es nicht langweilig. Das ist wie eine Maschine, mit der man sich der Welt versichert und in ihr verankert."

Welt, 18.12.2012

Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des französischen Regisseurs José Benazeraf, dessen pornografische Filme selbst Henri Langlois in der Cinematheque zeigte: "Benazeraf vertrat zeitlebens die Theorie, nur die Sexualität ermögliche uns den Zugang zu den tiefsten, sublimsten Wahrheiten: 'Ich bin zu der Erkenntnis gekommen, dass die Pornografie das einzige literarische Genre darstellt, das wirklich am Leben ist. Nur dieses bietet einem Autor die Chance, eine authentische Bindung mit seinem Leser zu knüpfen.' Das war, anders als wenn deutsche Sex-Filmer volkserzieherischen Eifer vorschützten, kein reiner Vorwand. Benazeraf konnte, wenn er wollte, irritierende Effekte erzielen."

Zum Beispiel in seinem Film "Frustration" von 1971:



Weiteres: Wieland Freund hat keinen Zweifel mehr, dass Mo Yan, der eine Petition zur Freilassung Liu Xiaobos nicht unterschreiben wollte, den Nobelpreis nicht verdient hat. Besprochen werden die Ausstellung "Sowjetmoderne 1955-1991" im Architekturzentrum Wien, ein "Rigoletto" an der Bayerischen Staatsoper, die Uraufführung von Moritz Rinkes Stück "Wir lieben und wissen nichts" in Frankfurt und Angelika Wittlichs Film über den Schauspieler Alexander Granach.

TAZ, 18.12.2012

Anlässlich des zweihundertjährigen Jubiläums der Grimmschen "Kinder- und Hausmärchen" widerlegt Lea Streisand das Vorurteil, die Märchen würden ein protestantisches Weltbild propagieren, nach dem es vor allem auf Fleiß ankäme: "Prinzessinnen sollen nicht arbeiten, sondern an Brunnenrändern sitzen und mit goldenen Kugeln spielen. Demzufolge scheint es auch nur logisch, dass das faule Mädchen am Ende Königin wird, schließlich ist die Faulheit offensichtlich die wahre Tugend des Adels."

Weiteres: Die folgenlosen Debatte über die Verschärfung der US-Waffengesetze erinnert Ambros Waibel an die Diskussion um ein allgemeines Tempolimit hierzulande. Damian Zimmermann stellt bei der Andreas Gursky-Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf fest: Die 60 neuen Werke "sind fast immer sehr dekorativ - und passen deshalb gut zu den Design-Klassikern in den Villen von Gurskys Sammlern". Besprochen werden Bücher, darunter Heinz Röllekes Einführung in die Märchen der Brüder Grimm (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 18.12.2012

In Faust-Kultur stellt Michael Kegler den brasilianischen Autor Luiz Ruffato vor, dessen erster Roman "Es waren viele Pferde" gerade auf Deutsch erschienen ist: "Wie in vielen Erfolgsstorys von Armeleute-Kindern nicht nur in Brasilien muss erst ein Gönner kommen, damit das Kind eine Chance bekommt. Traurige Realität, die man auch in Deutschland findet. Aus Schüchternheit habe er angefangen zu lesen, erzählt Ruffato. Und weil in den Büchern nie von den Leuten, die er kannte, den Nachbarn der Eltern, den Armen, den Arbeitern, der unteren Mittelschicht die Rede war, er sich in der bürgerlichen Literatur also nicht wiedererkannte, habe er irgendwann, als er längst Journalist war, selbst beschlossen zu schreiben."

Peter Glaser hat eine bezaubernde Sammlung von Katzen auf Plattenhüllen zusammengestellt. Hier eine überzeugende Grace Jones!

FAZ, 18.12.2012

Die FAZ wirkt, wenn man sie als Papier in die Hand nimmt, schon so dünn wie eine weihnachtliche Notausgabe. Aber sie steckte heute voller gewichtiger Artikel.

Zunächst einmal die Erzählung von Alaa al-Aswani ("Der Jakubijân-Bau"): Dem Präsidenten Mursi wächst da ein Stigma in der Hand. Es ist unauslöschlich, der Privatarzt weiß keinen Rat. "Der Arzt warf das Stück Mull weg und sagte: 'Dr. Mursi, das ist wirklich seltsam. Das Blut stammt nicht aus einer Wunde. Es klebt an der Haut und lässt sich nicht entfernen.'" Es findet sich dann aber laut al-Aswani eine überraschende Therapiemöglichkeit.

Und Suhrkamp, klar. Zunächst die Meldung, dass die Familienstiftung bereit ist, mit dem Investor Hans Barlach zu reden und dafür Michael Naumann (der seine Position im Cicero bereits dargelegt hat) als Vermittler bestellte. Nun ist noch die Frage, ob Barlach reden will.

Dann Durs Grünbein, für den der Fall Suhrkamp Anlass ist zu fragen, "was die New Economy Buchhandel und Verlagswesen bisher gebracht hat", und der Suhrkamp Aug' in Aug' dem schlimmsten Feind gegenüber stehen sieht, dem Kapitalismus: "Ästhetische Qualität und intellektuelle Substanz gegen Termingeschäft und beschleunigte Gewinnmaximierung. Eine Familienstiftung sieht sich den Abstraktionen einer Mediengruppe gegenüber. In solcher Unverträglichkeit von Organisationsformen liegt der Kern des unversöhnlichen Streits."

Weitere Artikel: Gesine Schwan fragt, wie die EU zur politischen Union werden kann. Die ganze Medienseite widmet sich mit einem Pro und Contra und Hintergrundartikeln der neuen Zwangsgebühr für die öffentlich-rechtlichen Sender. Michael Hanfeld berichtet unter anderem, dass des Personal der GEZ schon mal kräftig aufgestockt wurde!

Besprochen werden Sibylle Bergs Stück "Die Damen warten" in Bonn, Verdis "Rigoletto" in München und Bücher, darunter Matthias Zschokkes Roman "Der Mann mit den zwei Augen".

SZ, 18.12.2012

Dem Historiker Salvatore Settis sind Modernisierungen und Hochhäuser in Venedig zutiefst zuwider: Sie bedrohten das "Bewusstsein für die kostbaren Eigenschaft einer Stadt nach Menschenmaß" zugunsten einer Maschinisierung der Stadt. "Den Venezianern (...) obliegt eine vitale Aufgabe und eine ernste Verantwortung: Zu bekunden, dass Diversität und Schönheit kein schweres Erbe aus der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart zu lebende Geschenke sind".

Weiteres: Die Fotogalerie C/O Berlin hat nach langer Suche im Amerika Haus in Charlottenburg endlich eine neue Bleibe gefunden, atmet Jens Bisky auf: "Eine der schönsten Geschichten aus der Stadt, die sich so viel auf ihre Kreativität und Coolness einbildet, drohte als absurde Posse zu enden, wie sie kein Provinznest zustande bringt." Andrian Kreye erklärt in einem historischen Überblick über die Versuche, Laster in den USA per Gesetz zu regulieren, warum eine Einschränkung des Rechts auf Schusswaffenbesitz in den USA so eine schwierige Sache ist. Für sein SZ-Blog hat Kreye außerdem eine sehr schöne Live-Aufnahme von Miles Davis ausgebuddelt, mit der sich's entspannt in den Tag gleiten lässt:



Besprochen werden eine Mary Heilmann gewidmete Ausstellung im Bonnefantenmuseum in Maastricht, Maxim Gorkis "Sommergäste" an der Schaubühne Berlin in der Regie von Alivis Hermanis (eine "unfreiwillig komische Parodie eines performativen Körpertheaters", meckert Peter Laudenbach) und Bücher, darunter Markus Färbers Comic "Reprobus", den Thomas von Steinaecker als "bestes deutsches Comic-Debüt des Jahres" feiert, und zahlreiche neue Veröffentlichungen zum Thema Rechtsextremismus (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).