Heute in den Feuilletons

Aus ihrem übervollen Herzen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2012. Der Streit um Suhrkamp geht weiter: Ulla Unseld-Berkéwicz' Position im Verlag ist sehr wohl legitim und sie hat sich nicht hineingedrängelt, betont Frank Schirrmacher in der FAZ. Die Welt erinnert an Fakten. Die FR spürt der Verknüpfung des Begriffs von individueller Freiheit und Waffenbesitz in den USA nach, ebenso ein ehemaliger Bush-Berater in der New York Times, der den Republikanern vorwirft, dass sie sich von der Waffenlobby erpressen lassen. Die NZZ zeichnet eine Debatte unter revolutionären ägyptische Künstlern nach: Dürfen besondere Graffiti versiegelt werden oder müssen sie flüchtig bleiben?

NZZ, 20.12.2012

Eine tolle Geschichte erzählt Mona Sarkis aus Kairo. Dort ist eine Debatte zwischen den Graffiti-Künstlern entbrannt, die fast täglich in der Straße Muhammad Mahmoud den Stand der Revolution kommentieren: Dürfen besondere Graffiti versiegelt werden oder müssen sie flüchtig bleiben? "Vor allem Alaa Awad sorgte für hitzige Debatten. Der junge Dozent für schöne Künste von der Universität Luxor verbrachte nahezu den gesamten letzten Winter in der Straße und schuf im Stil altägyptischer Wandmalereien großformatige Szenen, wie etwa diejenige, die einer Darstellung im Totentempel von Pharao Ramses II. nachempfunden ist: Eine Schar von Frauen erklimmt eine Leiter, die laut Awad die Revolution symbolisiert. Mit diesem Tribut an den Wagemut der Ägypterinnen 2011 und der Referenz auf eine jahrtausendealte Respektbekundung gegenüber der Frau erteilt Awad der modernen salafistischen Dunkelkammerkultur eine doppelte Absage."
 
Besprochen werden die Retrospektive zu Frank Stella im Kunstmuseum Wolfsburg, Benh Zeitlins offenbar recht eigenwilliges Drama "Beasts of the Southern Wild", Andrei Zvyagintsevs Film "Elena", Jürgen Brôcans Gedichte "Antidot" und Sempés Erinnerungen "Kindheiten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.12.2012

Cristina Nord unterhält sich mit dem Filmemacher Benh Zeitlin, der in seinem Film "Beast of the Southern Wild" den Süden Louisianas erkundet: "Vor sechs Jahren zog ich nach New Orleans, und obwohl ich nicht lange bleiben, nur einen Kurzfilm drehen wollte, wurde ich süchtig, ohne genau zu wissen, wonach. Während ich versuchte herauszufinden, was das war, kam mir die Idee, eine Geschichte zu entwickeln, die dort spielt, wo die Straße endet. Wenn Sie sich eine Karte von Louisiana ansehen, sehen Sie dort, wo das Sumpfland ausfasert, eine Art Spinnennetz, und ich wollte herausfinden, was dort ist."

Brigitte Werneburg feiert die große Mike-Kelley-Retrospektive im Amsterdamer Stedelijk Museum. "Schockierend materialbesessen und vielseitig" findet sie Kelleys Arbeiten, aber: "Im Grunde genommen, so scheint es im Ausstellungsrundgang, handeln sie alle von diesem Kinderkram. Vom Verdrängten, dem unter den Teppich Gekehrten, den Kindersorgen und Kinderängsten, die die Gewalt und die Nötigungen der Erziehung auslösen - beim jungen Künstler auch die strikten Avantgarden der 1960er- und 1970er-Jahre." (Bild: Mike Kelley, 'Banana Man Costume', 1981. Mike Kelley Foundation for the Arts)

Besprochen werden Francis Ford Coppolas "Twixt" auf DVD (dem Ekkehard Knörer eine " betörende Selfmade-Altersradikalität" bescheinigt), Manuel von Stürlers Filmdokumentation "Winternomaden", eine Henry-Flint-Ausstellung im Düsseldorfer Kunstverein und die Kochbuch-CD "Soulfood".

Auf der Medienseite versteht Jürgen Bischoff nicht, warum sich ARD und ZDF nicht am Europasender Euronews beteiligen.

Und Tom.

Welt, 20.12.2012

Richard Kämmerlings erinnert die antikapitalistischen Barlach-Kritiker daran, dass Ulla Unseld-Berkéwicz (aber wohl auch andere Führungskräfte des Suhrkamp Verlags") sich in den Jahren 2003 und 2004 für 100.000 Euro beim "Archaeus Institut" "coachen" ließ: "Das von Susann und Walter Pfeiffer geführte Unternehmen bietet Kurse an wie 'Heilende Kommunikation mit Deinem inneren Kind' oder 'Entdecke die Wolfsfrau/den Wolfsmann in Dir' - aber auch 'Programmierung des eigenen Unterbewusstseins auf vermehrten Geldfluss und Selbstwert'."

Weitere Artikel: Einige Welt-Autoren warten mit ihren persönlichen Erinnerungen an die Grimmschen Märchen auf, deren Ersterscheinungsdatum 200 Jahre zurückliegt.

Besprochen werden Filme, darunter Benh Zeitlins "Beasts of the Southern Wild" (mehr hier) und ein Film über die Köchin Mitterrands, "Die Köchin und der Präsident" (mehr hier).

Weitere Medien, 20.12.2012

Sebastian Moll schreibt in der FR einen interessanten Hintergrundartikel über die Verknüpfung des Begriffs der individuellen Freiheit mit dem Waffenbesitz in den USA, der nicht nur eine Spezialität der Konservativen, sondern etwa auch des radikalen Flügels der schwarzen Bürgerrechtsbewegung war. Er zitiert auch Adam Winklers Buch "Gunfight", in dem man lernt, dass es im Wilden Westen dagegen keineswegs so wild zuging: "In Wirklichkeit, schreibt Winkler, mussten nämlich in den meisten Städten des Westens jeder Besucher seine Pistole beim Sheriff abgeben. Die Waffenkontrolle war wesentlich effektiver als im heutigen Amerika." Ein Thema, das vom konservativen Filmemacher Clint Eastwood in "Unforgiven" übrigens aufgegriffen wird - mit dem Sheriff Gene Hackman in der Rolle des Bösen!



Der Economist stellt eine wichtige Frage: "Which is worse: not being able to use a mobile phone while on board an aircraft - or being able to do so?"

(Via Lawrence Lessig) Richard W. Painter, ehemals Berater von George W. Bush, sieht die Republikanische Partei als Opfer von Schutzgelderpressung ("Protection rackets") - zu den Tätern zählt er in der New York Times etwa die Waffenlobby NRA: "These rackets are orchestrated by fringe groups with extremist views on social issues, which Republican politicians are forced to support even if they are unpopular with intelligent, economically successful and especially female voters. Their influence was already clear by the time I joined the Bush White House staff in 2005, and it has only increased in the years since."

FAZ, 20.12.2012

In der Causa Suhrkamp platzt Frank Schirrmacher der Kragen - nicht wegen Barlach, nicht wegen Unseld-Berkéwicz, sondern wegen des "billigen Dramas um Erbschleicherei und Selbstbereicherung", das sich viele Journalisten derzeit herbeischreiben. Schirrmacher bezieht sich dabei - ohne ihn zu nennen, wie das im Qualitätsjournalismus so üblich ist - auf einen Artikel Richard Kämmerlings' in der Welt am Sonntag, in dem es hieß: "Ulla Berkéwicz hat immer schon polarisiert. Seit die frühere Schauspielerin mit ihrer ersten Buchveröffentlichung 'Josef stirbt' 1982 quasi über Nacht in der Suhrkamp-Szene aufgetaucht und den für weibliche Reize ohnehin anfälligen Unseld in ihren Bann geschlagen hatte, beschäftigte sie ihre Umgebung". Dies findet Schirrmacher so unappetitlich wie unwahr (liest man allerdings den ganzen Artikel von Kämmerlings, dann ist dieser derselben Meinung). Schirrmacher macht im übrigen klar, dass Unseld-Berkéwicz' Position im Verlag keineswegs erschlichen ist: "Und nicht nur das: Den Suhrkamp Verlag gäbe es schon lange nicht mehr, wenn Ulla Berkéwicz auf dem Pflichtteil des Erbes bestanden hätte."

Weitere Artikel: Tilman Spreckelsen fragt sich, ob man die Märchen der Gebrüder Grimm wegen ihres sexistischen Frauenbilds eigentlich noch ruhigen Gewissens Kindern erzählen kann (und ob Kinder überhaupt die Adressaten dieser Märchen sind). Joseph Croitoru erklärt den Streit um die ägyptische Verfassung. Bert Rebhandl unterhält sich mit Benh Zeitlin, Regisseur des (von Verena Lueken besprochenen) Films "Beasts of the Southern Wild". Den Berliner Cinephilen empfiehlt Hans-Jörg Rother eine Reihe mit rumänischen Filmen im Rumänischen Kulturinstitut. Kerstin Holm stellt die quirlige Animationsserie "Mascha und der Bär" vor, die gerade Russland im Sturm erobert. Bei Youtube finden wir dazu eine (allerdings nicht einbettbare) Playlist mit zahlreichen Folgen.

Besprochen werden eine David Hockney gewidmete Ausstellung im Museum Ludwig in Köln, neue CDs mit Weihnachtsmusik, ein Konzertabend der "Late Night"-Reihe in der Berliner Philharmonie und Bücher, darunter passend zum morgigen Stichtag eins von Kerstin Schimandl über "Weltuntergänge" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 20.12.2012

So eindeutig wie oft angenommen ist das amerikanische Recht auf Handfeuerwaffenbesitz im Grunde gar nicht, merkt Andreas Zielcke an, der ausführt, dass der Supreme Court überhaupt erst im Jahr 2008 das wegen seines ältlichen Ausdrucks kaum eindeutig interpretierbare "Second Amendment" als individuellen Anspruch auf Waffenbesitz ausgelegt hat. Viel abgewinnen kann Zielcke dieser Auslegung dennoch nicht. Deprimiert, aber auch erhellt liest Lothar Müller die nun endlich vorliegenden Urteilsbegründungen des Berliner Landgerichts in der Causa Suhrkamp und schlägt Ulla Unseld-Berkéwicz eine "Entspannungspolitik" vor. Werner Bloch unterhält sich mit Bernhard Lauer über die Märchen der Gebrüder Grimm. Henning Klüver liest einen historischen Forschungsbericht über während des Zweiten Weltkriegs deportierte, italienische Militärinternierte. David Steinitz trifft sich mit dem Schauspieler und Regisseur Florian David Fitz.

Besprochen werden Peter Konwitschnys "Faust" im Schauspielhaus Graz ("ein großer Theaterspaß", delektiert sich Egbert Tholl), eine Gustave Caillebotte gewidmete Ausstellung in der Schirn in Frankfurt, der Copthriller "End of Watch" und die Komödie "Pitch Perfect".