Heute in den Feuilletons

Das Nordkorea Afrikas

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.01.2013. Im Tagesspiegel erklärt Michal Hvorecký, warum es gut war, dass die Slowakei abstürzte. Die FR erzählt, wie Programmkinos in Frankreich und Belgien das Internet nutzen. Die NZZ wirft einen deprimierenden Blick auf Eritrea. In der Welt kritisiert Wolfgang Petersen die Risikoscheu Hollywoods. Die Debatte um Jakob Augstein und den Unterschied zwischen Israelkritik und Antisemitismus geht weiter.

NZZ, 04.01.2013

Die Hoffnungen auf einen afrikanischen Musterstaat hat Eritrea nach seiner Unabhängigkeit 1991 nicht erfüllt, inzwischen gilt es als "Nordkorea Afrikas" und belegt auf der Rangliste der Pressefreiheit den letzten Platz, informiert Axel Timo Purr. Er spricht mit ansässigen und exilierten Künstlern und zeichnet ein düsteres Bild: "Polizisten im Straßenbild sind in einem solchen System nicht mehr nötig. Einem System, in dem die Universität aufgelöst wurde und die Zentralbank nicht größer ist als ein Laden an der Straßenecke. (...) Durch die obligatorischen Arbeitseinsätze im Rahmen eines inzwischen 32 Jahre dauernden Wehrdienstes kann kaum einer sein Leben planen."

Weiteres: Marco Frei gratuliert dem Dirigenten Mariss Jansons zum siebzigsten Geburtstag. Besprochen werden die laut Karin Leydecker "glanzvolle" Ausstellung über Architekten in der Münchner Pinakothek der Moderne und die Ausstellung von Johann Christian Reinharts Landschaftskunst in der Hamburger Kunsthalle.

Tagesspiegel, 04.01.2013

Der slowakische Autor Michal Hvorecký zieht zum 20. Jahrestag der Teilung der Tschechoslowakei eine positive Bilanz. Zwar hält er den Teilungsprozess bis heute für "einen geschmacklosen Betrug an den Bürgern und für einen groben Verstoß gegen die Verfassung", der die Slowakei in eine tiefe Krise gestürzt habe: Doch "heute weiß ich, dass das Land diesen Absturz gebraucht hat. Und es ein Fehler war, dass die DDR ihm ausgewichen ist. Der Tiefpunkt des politischen und wirtschaftlichen Verfalls war um das Jahr 1995 erreicht. Ich halte diesen Punkt nicht nur für eine historische Wende, sondern auch für einen Paradigmenwechsel in der slowakischen Identität. Danach wurden wir jemand anderes. Wir übernahmen Verantwortung."

Welt, 04.01.2013

Im Interview mit Rüdiger Sturm erklärt Wolfgang Petersen, warum er solche Schwierigkeiten hat, an seine Blockbuster-Erfolge in Hollywood anzuknüpfen: "Die Studios haben den Gürtel enger geschnallt, haben Verträge mit Produzenten und Regisseuren gekappt. Stattdessen wollen sie jetzt nur noch Produktionen machen, die auf etablierten Marken beruhen. So entstand der Trend der Comicfilme."

Außerdem empfiehlt Manuel Brug die Musical-Serie "Smash", die in diesen Tagen auf RTL 2 läuft. Und Gerhard Gnauck schreibt zum Tod der polnischen Journalistin Teresa Toranska.

In ihrer Kolumne auf den Forumsseiten feiern Maxeiner und Miersch "das neue Mensch": "Das neue Mensch raucht nicht und ernährt sich vegetarisch. Es trinkt allenfalls einen fair gehandelten Tee und verzichtet dabei auf Milchdöschen aus Plastik oder Zitrone aus Israel."

Außerdem erklärt Henryk Broder, warum er nicht mehr seine wöchentliche Kolumne im RBB schreiben und sprechen will: Der Sender hat ihn ausgeladen, um Jakob Augstein zu interviewen, der sich geweigert hatte, mit Broder zu diskutieren.

Weitere Medien, 04.01.2013

In zeit.de versteht Frank Drieschner partout nicht, was an Jakob Augsteins Israelkritik falsch sein soll: "Was ist antisemitisch daran, US-Republikaner und die Netanjahu-Regierung als Nutznießer der antiamerikanischen Ausschreitungen in Libyen zu bezeichnen?"

Im Interview mit Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen versucht Efraim Zuroff vom Wiesenthal Zentrum zu erklären, warum ausgerechnet ein relativ unbekannter Journalist zu den schlimmsten Antisemiten 2012 zählen soll: "Niemand hat jemals behauptet, dass man Israel nicht kritisieren dürfe. Es ist die Art und Weise der Kritik, die einen Antisemiten ausmacht. Und Augstein misst beim Thema Israel mit zweierlei Maß, macht aus Tätern Opfer, klammert den Terror der Hamas vollkommen aus." (Hier noch mal der Link zu Broders Brief an Augstein, der zusammen mit der Liste des Wiesenthal-Zentrums die Debatte ausgelöst hatte.)

TAZ, 04.01.2013

"Abstrus" und "ein übles diskursives Foul" nennt Stefan Reinecke den Vorwurf des Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, das den Publizisten Jakob Augstein kürzlich auf Platz neun der gefährlichsten Antisemiten weltweit verortet hat: "Anstatt sich einem rationalen argumentativen Wettbewerb zu stellen, greift das Wiesenthal-Center zur Waffe der Denunzination. Schon die nun ventilierte Frage, ob Augstein ein Antisemit ist (vielleicht doch ein ganz kleines bisschen), hat etwas Diffamierendes. Denn an wem dieses Etikett klebt, der ist im öffentlichen Diskursgeschäft erledigt. Diese Stigmatisierung dient also auch als Warnschuss. Wer Israel kritisiert, wird mit der Antisemitismus-Schrotflinte beschossen."

Eine epd-Meldung informiert darüber, dass der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) Jakob Augstein vor den Antisemitismus-Vorwürfen derweil in Schutz genommen hat; seine Artikel auf Spiegel online böten dafür keinerlei Anlass.

Weiteres: Christian Werthschulte porträtiert das erfolgreiche Elektronik-Label Plug Research als "sanften Zwerg" und "Teil der zuckrig-süßen Psychedelic-Internationale, die von der US-Westküste nach Brasilien reicht". Auf der Medienseite unterhält sich Stefan Mey mit Linus Olsson, dem Mitgründer des Onlinespendendienstes Flattr, der klarstellt, dass Flattr "nie ein nichtkommerzielles Hacker-Projekt", sondern immer ein ganz gewöhnliches Start-up gewesen sei.

Besprochen werden das Doppelalbum "Country Soul Sisters" mit historischen Songs des Londoner Labels Soul Jazz und das Buch "Ex Nihilio - Eine Geschichte von zwei Städten" mit Aufnahmen des Architekturfotografen Iwan Baan und einem Essay von Cees Nooteboom (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 04.01.2013

Anders als andere behauptet Will Oremus in Slate, dass Twitter bei Jugendlichen überhaupt nicht angesagt sei. Wirklich populär seien im Moment nur Foto-Apps: "Compared to the highly visual and intimate feel of apps like Instagram and Snapchat, Twitter is text-heavy, impersonal, and resolutely public. It trades in wisecracks and news bites, not photos or flirting. But this dispatch from the halls of high school does reinforce the amazing alacrity with which Twitter has transitioned from next-big-thing startup to establishment-media player-bypassing the 'cool with the kids' stage along the way."

(Via Atlantic) William Shatner, bekannt als Captain aus der Serie "Raumschiff Enterprise" hatte eine Twitter-Unterhaltung mit einem echten Astronauten, der sich gerade auf Erdumlaufbahn befindet - mit sensationellem Ergebnis:



(Via Matthias Rascher) Bitte nehmen Sie sich eine Stunde Zeit für Steve Reichs "Music for 18 musicians":


FR/Berliner, 04.01.2013

In der FR/Berliner Zeitung stellt Daniela Kloock neue Kino-Modelle in Frankreich und Belgien vor, die die neuen Medien nutzen. "La Septième Salle" zum Beispiel, eine Initiative von bisher 80 französischen Kinos, die Independents oder Filme aus dem arabischen Raum zeigen wollen: "Überhaupt alles, was auf den alten Vertriebswegen kaum Chancen hatte, je in einem Kino gezeigt zuwerden, kommt in den Film-Pool von 'La Septième Salle'. Auch hier ist die Anmeldung kostenlos; ein Klick - und der Film ist gewählt! Erhält er innerhalb einer Woche 30 weitere Zustimmungen, kommt er ins Kino. Die Macher der Plattform werben mit Teilhabe, aber auch mit der Chance, neue Communities zu gründen, da sich bei den Vorführungen Zuschauer mit ähnlichen Vorlieben treffen, die in Kontakt kommen können."

Außerdem: In einem zweiseitigen Interview unterhält sich Arno Widmann mit der Berliner Bildhauerin Yasam Sasmazer über ihre Arbeiten in Holz. Für ihre Ausstellung "Doppelgänger" hatte sie Fotos von sich machen lassen: "Nach denen arbeite ich. Ich habe zum Beispiel ausprobiert wie der Alb, die Doppelgängerin der Doppelgängerin die Arme hält. Ich habe verschiedene Haltungen eingenommen und mir dann angesehen, was mir am besten gefällt. Und dann noch einmal alles neu überlegt. Wieder fotografiert. Vier, fünf Mal."

SZ, 04.01.2013

Stephan Speicher informiert über Herausforderungen bei den Restitutionsverfahren öffentlicher ostdeutscher Kunstsammlungen. "Das Unbehagen am Reichtum hat in Frankreich bis heute Tradition", stellt Joseph Hanimann in einer Umschau beim Nachbarn fest. Der Soziologe Stefan Kühl sieht im Drittmittelbeschaffungswesen an den Universitäten eine mittlerweile verschärfte Zweck-Mittel-Umkehrung: Es komme oft "nur noch darauf an, für vorhandenes Geld entsprechende Forschung aufzutreiben, statt für wohlbegründete Forschung Geld zu besorgen". Susan Vahabzadeh spricht mit Ulrich Seidl über dessen neuen Film "Paradies: Liebe".

Besprochen werden eine Ausstellung über Francesco Guardi im Museo Correr in Venedig, David O. Russells Komödie "Silver Linings" (Fritz Göttler staunt über "amerikanische Energie, amerikanischen Wahnwitz"), Pieter Wispelweys neue Aufnahmen von Bachs Cello-Suiten ("besonders die experimentellen Suiten 4 bis 6 ... geraten zum Abenteuer", freut sich Harald Eggebrecht) und Bücher, darunter Wolfgang Müllers "Subkultur Westberlin 1979-1989" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 04.01.2013

Joseph Croitoru weiß, für welche Persiflage der populäre ägyptische Satiriker Bassem Youssef sich jetzt womöglich gegen den Vorwurf der Präsidentenverunglimpfung verteidigen muss (mehr): "'Mursi ein Diktator?', fragte der Satiriker skeptisch und ließ zunächst Fotos 'echter' Gewaltherrscher wie Stalin, Mussolini und Hitler einblenden. Dann zog er überraschend ein rotes Kissen hervor, auf dem Mursis Konterfei prangte - für Youssef also ein Präsident zum Kuscheln, mit garantiert beruhigender Wirkung: 'Kaum legt meine kleine Tochter ihren Kopf auf das Kissen, schläft sie schon ein.'"

Außerdem: Constanze Kurz wünscht sich eine gesellschaftliche Debatte über den Ankauf hochklassiger Militärdrohnen für die Bundespolizei. Andreas Rossmann stellt den Verlag Seagull Books vor, der sich von Kalkutta aus unter anderem auch mit der Herausgabe deutscher Literatur auf Englisch einen Namen macht. Christian Geinitz stellt die frische und nur 260 Mitglieder zählende Bevölkerungsschicht der Milliardäre in China vor. Gina Thomas besucht britische Veranstaltungen zum Gedenken des britischen Komponisten Benjamin Britten. Der Soziologe Kai-Olaf Maiwald deutet das Phänomen an Brücken von Pärchen als Liebesschwur angebrachter Vorhängeschlösser als "Reaktion auf die Fragilität moderner Paarbeziehungen". Da die Samstagsbeilage Bilder und Zeiten abgeschafft wurde, ist Jürgen Dollases Gastrokolumne heute in der FAZ zu lesen (er lässt es sich im Pariser "Bistro Paul Bert" gut schmecken, muss aber sehr über das katastrophale Perlhuhn schimpfen) und auch die Schallplatten- und Phonoseite ist auf den Freitag gerutscht.

Besprochen werden David O. Russells Film "Silver Linings", die Lee-Child-Verfilmung "Jack Reacher", neue Schallplatten, darunter einige Wagner- und Schönberg-Aufnahmen, eine Ausstellung über "Deutschland in frühen Photographien 1840-1890" im Münchner Stadtmuseum und Bücher, darunter Thomas Stangls "Reisen und Gespenster" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).