Heute in den Feuilletons

Sie aßen nur, schliefen, putzten sich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2013. Die SZ beklagt reaktionären Infantilismus in dem Streit über politisch korrekte Sprache in Kinderbüchern. Das Cabinet Magazine erinnert an ein kulturkritisches Mäuseexperiment. Die Welt meditiert über die Dialektik des Arguments, Antisemitismusvorwürfe schadeten nur der Bekämpfung des Antisemitismus. Die taz wittert Korporatismus in der einhelligen Verteidigung Jakob Augsteins durch Kollegen.In der Berliner Zeitung rät Götz Aly Peer Steinbrück, nach unten zu blicken. Der Tod Aaron Swartz' löst nach wie vor Diskussionen aus.

NZZ, 15.01.2013

Eigentlich auch ganz lustig findet Marc Zitzmann die Maßlosigkeit, mit der Gerard Depardieu seine Steuerflucht hochgeschaukelt hat, sieht aber nicht nur verletzte Selbstüberhöhung am Werk: "Depardieu befindet sich auf einer Flucht nach vorn, die kein Ziel kennt. Es jagt ihn von einem Film zum nächsten, von einem Land ins andere, von einem großen Geschäft zum nächsten, noch größeren - mit einer Bulimie, die sich von der Fress- und Trunksucht, an der er schon lang leidet, kaum mehr unterscheidet."

Apropos: Depardieu tritt in einem Musikvideo der Tochter des usbekischen Diktators Islom Karimov auf. Gulnara Karamaziva hat unter dem Namen Googoosha gerade ein englischsprachiges Popalbum veröffentlicht, meldete gestern Jenna Sauer auf Jezebel:



Weiteres: Uwe Justus Wenzel fragt, wieviel Selbstekel beziehungsweise Selbstüberschätzung im nunmehr ausgerufenen Anthropozän liegt, im geologischen Zeitalter des Menschen. Andreas Klaeui berichtet vom Festival "Höhenfeuer" am Theater Chur.

Besprochen werden eine Ausstellung zum hundertsten Geburtstag der Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim im Kunstmuseum Bern, Charles D'Ambrosios Erzählungen "Museum für tote Fische" (den Angela Schader im Aufmacher als völlig inkompativbel mit dem Literaturbetrieb empfiehlt) sowie Paula Morris' Maori-Roman "Rangatira" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 15.01.2013

Zum Gedenken an den Netzaktivisten Aaron Swartz, der sich angesichts eines Verfahrens wegen eines JSTOR-Hacks das Leben genommen hat (siehe gestrige Feuilletonrundschau), haben sich zahlreiche Wissenschaftler einem Aufruf auf Reddit angeschlossen und verlinken auf Twitter unter dem Hashtag #pdftribute ihre per Open Access veröffentlichten wissenschaftlichen Aufsätze. Hier wird die Aktion koordiniert und auf einer dazugehörigen Website die Links gesammelt.

Aaron Swartz war nicht der erste Hacker, der zu drastischen Strafen verurteilt wurde, die in keinem Verhältnis zu seinen Taten stehen, schreibt Gabriella Coleman in der Huffington Post. Neu sei aber die allgemeine Betroffenheit über den Fall: "Maybe now we can begin the slow but necessary process of transforming perceptions of hackers and reform the existing statutes which enable prosecutors to seek long jail sentences for "crimes,"such as violating a website's terms of service. Maybe now we can start to appreciate, instead of criminalize, those bright kids who are doing things that we depend on, that often make our lives better, and are undaunted by powerful people trying to stop them."

Für Gawkers Adrian Chen ist das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen Swartz Teil einer großen Einschüchterungskampagne gegen Hacker: "The vindictive nature of Swartz's persecution, more than the charges themselves, is what spurred such anger among former friends and colleagues. The U.S. Attorney's office wanted to drive home its intolerance of law-breaking dissent online by breaking Swartz. 'It was a threat that had nothing to do with justice and everything to do with a broader battle over systemic power,' wrote the internet sociologist danah boyd, a friend of Swartz's, in an angry blog post."

TAZ, 15.01.2013

Deniz Yücel misstraut der Einhelligkeit, mit der die hiesigen Leitartikler Jakob Augstein verteidigen: "Journalisten, insbesondere die Leitartikler unter ihnen, halten es für ihr edles Vorrecht, an allem herumzumäkeln, reagieren aber patzig, wenn ihr eigenes Tun in die Kritik gerät. Den Ausdruck 'kritisch' haben sie gepachtet wie Dönerverkäufer das Wort 'komplett'." (Yücel selbst erkennt bei Augstein einen "notorischen Israelhass").

Weitere Artikel: Aram Lintzel weist darauf hin, dass der Fall Suhrkamp zwar zum "Herrenstreit" zwischen Frank Schirrmacher und Richard Kämmerlings um Ulla Berkewicz geführt hat, dafür aber zur Versöhnung von Peter Sloterdijk und Axel Honneth. Die Indologin Maritta Schleyer erklärt, dass die sexuelle Gewalt gegen Frauen in Indien auch vom Staat selbst ausgeht. Julian Weber war auf einer Tagung zur Frage "Was erzählt Pop?".

Besprochen werden die Ausstellung "Abschied vom Ikarus" im Neuen Museum Weimar und Jiro Taniguchis und Masayuki Kusumis Comic "Der geheime Garten am Nakano Broadway" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Weitere Medien, 15.01.2013

Glötz Aly schreibt in der Berliner Zeitung über die Stolperer des Peer Steinbrück: "Das Kanzlergehalt finde ich wie Steinbrück verglichen mit den Einkünften des Chefredakteurs der Zeit zu gering. Allerdings werden auch Polizisten oder Krankenschwestern zu schlecht bezahlt. Gemessen an deren vielfach prekären Gehältern hat die Kanzlerin recht, wenn sie die Einkünfte von Politikern als 'auskömmlich' bezeichnet. Steinbrück fehlt die Fähigkeit, auf der Einkommensskala nach unten zu blicken."

(Via Thomas Knüwer) Die Musikhandelskette HMV mit ihren berühmten riesigen Plattenläden in London droht Pleite zu gehen, meldet CNN.

Welt, 15.01.2013

Auch im aktuellen Spiegel-Gespräch mit Dieter Graumann macht Jakob Augstein den als Israelkritik getarnten Antisemitismus in Deutschland salonfähig, meint Matthias Küntzel. "Da kann Dieter Graumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, in seinem Streitgespräch mit Augstein sagen, was er will: Der junge Aufsteiger ('Für mich ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust die prägende, politisierende Kindheitserfahrung') weiß nun einmal besser, was den Kampf gegen den Antisemitismus schwächt oder nutzt. Graumanns Kritik sei 'anmaßend', sie wolle 'Debattenverläufen den Riegel vorschieben' und - sie spiele 'den Antisemiten in die Hände' (Spiegel 3/2013). Der Jude macht es eben selbst, dass die Welt ihm immer feindseliger wird."

Weitere Artikel: Richard Kämmerlings wird entgegen der Empfehlung von Random House zum Valentinstag wohl eher nicht die "50 Shades of Grey" verschenken, entnehmen wir seiner Glosse. Dresden (mit Thielemanns "Lohengrin") und Graupa (mit einem Wagner-Museum) verweisen im Wagner-Jahr Berlin und Bayreuth auf die hinteren Plätze, meldet Manuel Brug. Mara Delius resümiert die amerikanische Debatte um Hanna Rosins These vom Ende der Männer.

Auf der Forumsseite fragt Perlentaucher Thierry Chervel, warum die adipösen Öffentlich-Rechtlichen gerade in dem Moment abgesichert werden sollen, wo sie obsolet zu werden drohen.

Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken von William Klein und Daido Moriyama in der Tate Modern in London.

Weitere Medien, 15.01.2013

Als der Wissenschaftler John B. Calhoun 1972 Universum 25 baute - ein Paradies für Mäuse - wollte er nachweisen, dass Überbevölkerung eine Gesellschaft vernichtet, lange bevor Hunger und Durst beginnen. Zu fressen gab es immer genug im Universum 25, "die Hölle, das waren andere Mäuse", erzählt Will Wiles im Cabinet Magazine über dieses Experiment, das einen lehrt, dass Mäuse auch nur Menschen sind. Am ersten Tag setzte Calhoun vier Mäusepaare ins Paradies. Am 315ten Tag waren es über sechshundert Mäuse. "Die Mäuse wurden in eine Gesellschaft geboren, die jeden Tag überfüllter war, es gab viel mehr Mäuse als sinnvolle soziale Rollen. Die männlichen Mäuse gaben es bald auf, ihr Territorium zu verteidigen. Normale soziale Kommunikation brach zusammen und mit ihr die Fähigkeit der Mäuse, soziale Bindungen einzugehen. Die Versager und Aussteiger sammelten sich in großen Gruppen in der Mitte der Anlage, ihr apathischer Rückzug wurde gelegentlich unterbrochen von Krämpfen und Wellen sinnloser Gewalt. Die Opfer dieser zufälligen Attacken wurden selbst zu Angreifern. Die in ihren Nestern jeder Invasion schutzlos ausgelieferten Mäusemütter griffen ihre eigenen Jungen an. Die Zeugungsrate sank, die Aussetzung von Mäusekindern und die Sterblicheitsrate stiegen. Einsame Weibchen zogen sich in isolierte Nester auf Penthouselevel zurück. Andere Männchen - Calhoun nannte sie 'die Schönen' - begehrten keinen Sex und kämpften nie - sie aßen nur, schliefen, putzten sich, eingeschlossen in narzistische Selbstbetrachtung. Anderswo wurden Kannibalismus, Pansexualismus und Gewalt endemisch. Die Mäusegesellschaft war zusammengebrochen." Das Experiment war sehr beliebt bei Kulturpessimisten wie Thomas Wolfe und inspirierte zahlreiche Filmemacher.

Hier ein Video über das Mäuseexperiment:



FAZ, 15.01.2013

Jordan Mejias berichtet auf Seite 1 des Feuilletons über die rabiate Gasförderungstechnik des "Fracking", das bisher unerschlossene Energiequellen auftut und den Amerikanern größere Rohstoffunabhängigkeit gibt, aber auch der Umwelt schadet. Große Sorgen macht sich auch Melanie Mühl über den sogenannten "Tipping Point", also den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt und zunächst in Großbritannien und Frankreich zu Jugendrevolten und jetzt in Indien zu Protesten gegen Vergewaltigungen führte, und fragt mit Blick auf Spanien und Griechenland: "Man wundert sich über die relative Ruhe. Wo bleibt eigentlich die Revolution?" Evgeny Morozov bekennt in seiner Kolumne seine Zweifel an Online-Lehrveranstaltungen. Kerstin Holm schreibt über Proteste gegen das russische Gesetz, das Amerikaner die Adoption russischer Waisen verbietet. Der Soziologe Daniel Kofahl blickt vierzig Jahre nach dem "Großen Fressen" zurück auf das "kulinarische Kino". Der Rechtssoziologe Klaus Lüdersen freut sich auf eine Fortsetzung der britischen Serie "Yes Minister", die in den achtziger Jahren zeigte, wie Politik funktioniert. Auf der Medienseite wird berichtet, dass sich Thomas Gottschalk gegen die gestern im Spiegel erhobenen Vorwürfe von Schleichwerbung zur Wehr setzt.

Besprochen werden Prokofjews "Der Spieler" an der Oper Frankfurt, eine Ausstellung über Le Corbusier und Italien in Rom, die Ausstellung "Die Sammlung außereuropäischer Kunst im Blickwechsel mit Künstlern der Moderne und Gegenwart" im Folkwang Museum, Karin Beiers Abschied mit den "Troerinnen" in Köln und Bücher, darunter eine neue Biografie des Habsburgerkaisers Ferdinand III. (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 15.01.2013

Im Streit über das Vorhaben, Begriffe wie "Neger" in Kinderbuchklassikern moderneren Ausdrucksweisen anzupassen, wird Burkhard Müller weder mit den Kritikern, noch mit den Befürwortern warm. Geheuchelt werde hier wie dort, auch wenn er mit ersteren deutlich härter zu Gericht zieht: Was wollen diese "wirklich schützen? Den dichterischen Wert von Lindgren und Preußler? Die beiden sind, mit Verlaub, dann doch nicht Goethe. Das Ethos der unverfälschten Quellen? Das wird allenfalls vorgeschoben. Um jene Bücher handelt es sich, von denen die beschwerdeführende Generation selbst in ihrer Kindheit sich hat begeistern lassen und die sie darum, aller zwischenzeitlich eingetretenen Veränderungen zum Trotz, den eigenen Kindern genauso wiedergeben wollen. Das ist reaktionärer Infantilismus."

Weitere Artikel: Gottfried Knapp inspiziert die unter dem neuen Direktor Christoph Thun-Hohenstein konzipierte Neupräsentation der Schausammlung des Wiener Museums für Angewandte Kunst und diagnostiziert: "Richtiges Vertrauen in das, was dieses große alte Museum der Welt zu bieten hat, scheint auch der neue Chef nicht zu haben." Catrin Lorch hat einen ersten Blick auf die von Georg Baselitz als "unsichtbar" angekündigten Bilder erhaschen können und meldet, dass es sich um Bilder "unter schwarzen Farbschichten" handelt. Anja Perkuhn stellt das Magazin Symbolia vor, das Reportagen in Comicform auf das Tablet bringt (hier eine Vorschau als pdf). Die als Sensation verkaufte Meldung, dass ein Philologe auf den ältesten Beleg unserer Schrift gestoßen sei, ist gar nicht so sensationell, bzw. das Artefakt bereits bekannt, meint Johan Schloemann. Mit ihrem Outing bei den Golden Globes, das eigentlich keines war, hat Jodie Foster allen die Show gestohlen, findet Susan Vahabzadeh. Auf Youtube gibt es davon eine Aufnahme:



Besprochen werden Karin Beiers Inszenierung von Sartres "Die Troerinnen des Euripides" in Köln, Volker Löschs Theateradaption von Robert Harris' Roman "Angst" in Basel, Prokofjews Oper "Der Spieler" in Frankfurt, Thomas Ostermeiers "Der Tod in Venedig / Kindertotenlieder" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter Thomas A. Szlezáks "Homer oder die Geburt der abendländischen Dichtung" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).