Heute in den Feuilletons

Die Zukunft hat immer recht

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2013. Die NZZ hält fest: Es ist nicht die Schuld der Habsburger, dass das Ungarische zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie gehört. Alle feiern Quentin Tarantino, aber nicht die Amerikaner, die taz und die SZ.  Alle trauern um Nagisa Oshima. In der FAZ begrüßt Bernard-Henri Lévy den französischen Einsatz in Mali und warnt vor der Wüste.

NZZ, 16.01.2013

Nationalistische Kreise in Budapest haben - anders als die Wissenschaft - festgestellt, dass Ungarisch nicht zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie gehört; ihrer Ansicht nach ist diese Verwandtschaft eine Erfindung böswilliger Habsburger, erzählt Gábor Fónyad-Joó kopfschüttelnd: "Der ungarische Linguist, Dichter und Übersetzer Ádám Nádasdy widerlegt diese Verschwörungstheorie mit einem Gedankenspiel: Stellen wir uns vor, es würde bekanntwerden, dass Galilei ein türkischer Geheimagent war, der im Auftrag des Sultans die Macht der katholischen Kirche untergraben sollte. Selbst wenn das wahr sein sollte, stimmen Galileis Gesetze vom freien Fall: Ein Apfel und ein Klavier fallen auch heute noch aus derselben Höhe mit der gleichen Geschwindigkeit."

Anlässlich einer Ausstellung im Neuen Museum Nürnberg widmet sich Ursula Seibold-Bultman sehr sachkundig dem Schaffen des Architekten Helmut Jahn, dessen gläsernen Wolkenkratzern sie aber wenig abgewinnen kann: "Stets strebt Jahn danach, die Technik mittels seiner Bauten zu popularisieren und eine Synthese aus moderner Architektur und globaler Massenkultur - im Gegensatz zu lokalspezifischen Kulturen - zu bilden. 'Die Zukunft hat immer recht', lautet sein Motto."

Besprochen werden die Frankfurter Aufführung von Prokofjews erster Oper "Der Spieler" an der Oper Frankfurt, Zsuzsanna Gahses Brevier "Südsudelbuch" sowie Maria-Sibylla Lotters Reflexionen "Scham, Schuld, Verantwortung" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 16.01.2013

Wer sich für Mathematik UND Scrabble interessiert, wird möglicherweise auch an dieser Geschichte seine Freude haben.

(via Gawker) Der Autor Teju Cole hat sieben Kurzgeschichten über Drohnen getwittert. Darunter diese:


TAZ, 16.01.2013

Cristina Nord kann sich nicht ganz mit Quentin Tarantinos Spaghetti-Western zur Sklaverei "Django Unchained" anfreunden, dessen reflexive Ebene sie im Gegensatz zur ausgestellten Gewalt "verkümmert und unscharf" findet: "Wenn Broomhilda ausgepeitscht wird oder ein Brandzeichen verpasst bekommt; wenn ein flüchtiger Sklave von Hunden zerrissen wird; wenn ein Aufseher damit droht, Django die Hoden abzuschneiden, dann fehlt den Bildern eben die Vielschichtigkeit, die nötig wäre, um das Spektakel der Grausamkeit nicht nur zu betrachten, sondern es auch reflektieren zu können."

Silke Burmester lästert über den Abgang der Stern-Chefredakteure Andreas Petzold und Thomas Osterkorn: "Was ist das Irre daran? Dass mit Petzi und Osti zwei Chefredakteure gehen, die man mit nichts verbindet! 14 Jahre, in denen der Stern mit rein gar nichts in Verbindung zu bringen ist. Keine Reform. Kein Scoop. Kein legendärer Titel. Nur die Idee, ohne Models zu arbeiten. Geschichten mit echten Menschen zu machen. Oder war das die Brigitte?"

Weiteres: In seiner Kolumne erinnert Najem Wali daran, wie der Irak Deutschland vor siebzig Jahren den Krieg erklärte. Katrin Bettina Müller stellt Hans-Werner Kroesingers Rechercheprojekt "Failed States One: Somalia" vor.

Und Tom.

Weitere Medien, 16.01.2013

Ingeborg Ruthe betrachtet für FR/Berliner Zeitung Michael Schmidts "Lebensmittel"-Fotos, die im Berliner Gropiusbau ausgestellt sind: "Schmidt - der kein Vegetarier ist! - provoziert keinen Ekel, keine kurzzeitige Empörung. Genau damit aber bewirkt er etwas Nachhaltigeres, nämlich ein stilles, stummes, allmählich anwachsendes Begreifen - und Entsetzen."

Im Gespräch mit Joachim Frank erklärt die Historikerin Heike Bungert in FR/Berliner Zeitung, warum Präsident Obama in diesem Jahr zweimal vereidigt wird: "Es wäre in den USA undenkbar, dass der offizielle Festakt zur Inauguration an einem Sonntag stattfindet. Damit nun das Land nicht ohne vereidigten Präsidenten ist, wenn der verfassungsmäßig festgesetzte Termin des Amtswechsels am 20. Januar auf einen Sonntag fällt, gibt es seit dem 20. Jahrhundert an diesem Tag eine Vereidigung im Weißen Haus im kleinen Kreis, am Montag wiederholt der Präsident seinen Schwur in aller Öffentlichkeit."

Welt, 16.01.2013

Gerhard Midding schreibt zum Tod des japanischen Filmregisseurs Nagisa Oshima ("Im Reich der Sinne"), dessen stilistische Offenheit er bewundert: "Oshimas Werk ist nicht monolithisch. Es ist offen für vielfältigste Einflüsse aus Europa: in einigen Filmtiteln erweist er Alain Resnais und Jean Genet seine Reverenz, 'Max mon amour' (1986) ist eine der schönsten, kundigsten Hommagen an Luis Bunuel; das epische Theater Brechts und vor allem das expressionistische Drama eines Franz Wedekind oder Ernst Toller haben deutliche Spuren in Oshimas Filmen hinterlassen."

Hier der lange Trailer des "Reichs der Sinne":



Weitere Artikel: In der Glosse denkt Lucas Wiegelmann über Genie und die Berliner Grünen-Politikerin Ramona Pop nach. Alan Posener missfällt die Wahl des Unworts des Jahres (Jörg Kachelmanns "Opfer-Abo"), auch wenn er es selbst scheußlich findet: "Sprachkritik, wenn sie mehr sein soll als Gesinnungszensur, muss die in der Struktur der Wörter angelegte Ideologisierung der Welt aufspüren", statt "mit dem Finger auf andere zu zeigen". Der Chamisso-Preis geht in diesem Jahr an Marjana Gaponenko für ihren Roman "Wer ist Martha", informiert uns eine Meldung.

Besprochen werden Quentin Tarantinos Film "Django Unchained" (den Hanns-Georg Rodek für seine Wut lobt) und Harry Kupfers Inszenierung von Prokofjews "Spieler" an der Oper Frankfurt.

Im Forum erinnert sich Matthias Matussek, wie er einst Möllemann verteidigte und setzt hinzu, dass er es heute bedauert. Gleichzeitig seien Möllemanns Ansichten, wie ihm Jakob Augsteins Kolumnen und Grass' Gedicht zeigten, heute Mainstream. Nur einer sei sich gleich geblieben: "Broder, der Polemiker und Börne-Preisträger, spielt den Narren für uns. Er sagt, was wir nicht hören wollen. Er geht an die Grenze, wenn er sich, als Trauer-Stele verkleidet, über unsere hohl gewordenen Trauerrituale zum Holocaust lustig macht. Wir brauchen ihn. Sätze wie jener aus der Frankfurter Rundschau dagegen - 'Es spricht für den deutschen Rechtsstaat, dass Henryk M. Broder bis heute frei herumläuft' - sind ruchlos. Auch das muss gesagt werden."

SZ, 16.01.2013

Die ganzen USA diskutieren darüber, ob Tarantinos neuer Film "Django Unchained", eine Hommage an Italowestern und Blaxploitation-Filme, rassistisch ist. Eine Frage, die Tobias Kniebe - wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen - unumwunden bejaht: Der Film ist rassistisch, aber "nicht, weil in jedem zweiten Satz das Wort 'Nigger' fällt. Er ist rassistisch gegenüber männlichen Weißen. ... Die erstaunlichen Kleindarsteller, die diese Figuren spielen, (...) müssen [in Hollywood] eine Art Lumpenproletariat sein, wahrscheinlich kann man sie für ein Taschengeld mieten". Dass Tarantino sich selbst als Nebendarsteller in diese Reihe stellt und dabei buchstäblich verpufft, findet Kniebe dann aber doch witzig und nicht zuletzt symptomatisch: "Zwei von drei heterosexuellen, weißen, männlichen Amerikanern wollten Barack Obama zuletzt mit aller Macht abwählen, und was ist passiert? Die Geschichte hat nicht einmal mehr mit den Schultern gezuckt."

Weiteres: Laura Weissmüller streift über die Kölner Einrichtungsmesse Imm Cologne. Fritz Göttler schreibt den Nachruf auf Nagisa Oshima (bei Fandor finden wir dazu einen internationalen Pressespiegel). In der Popkolumne listet Jan Kedves seine Lieblingsplatten von 2012 auf, darunter auch das Album "Visions" von Grimes, deren elfenhaftem Technopop Kedves ganz und gar erliegt:



Besprochen werden die Ausstellung "Shock of the News" in der National Gallery in Washington, Theresia Walsers "Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel" am Nationaltheater Mannheim, Karin Henkels "Elektra"-Inszenierung am Schauspielhaus Zürich und Bücher, darunter zwei deutsche Erstveröffentlichungen aus dem Werk von Guy de Maupassant (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 16.01.2013

Bernard-Henri Lévy begrüßt den französischen Einsatz in Mali und macht gleich auf strategische Unwägbarkeiten aufmerksam: Zu glauben, die Wüste sei ein übersichtliches Terrain sei ein Irrtum: "Das Gegenteil ist der Fall: Wer je, wie in Libyen, die Kämpfer mit dem Wüstensand hat verschmelzen sehen, wer je gesehen hat, wie eine Pick-up-Kolonne, von allen Satelliten unentdeckt, aus dem Nichts hervorkam, in dem sie sich verborgen hatte, weiß, dass dieser Krieg lang dauern und tückisch sein wird - die Mali-Taliban zu besiegen wird kein Spaziergang."

Weitere Artikel: Mark Siemons schickt Nachrichten aus dem Pekinger Smog, den auch die chinesischen Behörden nicht mehr verschweigen können, seit die amerikanische Botschaft Messwerte veröffentlicht. Dirk Schümer notiert amüsiert, dass ausgerechnet der alte Aristokrat Karel Schwarzenberg mithilfe von Twitter und Punk in die Stichwahl der tschechischen Präsidentenwahl vorrückte. "Ein großer Spaß", wenn auch ein wenig lang geraten, ist für Verena Lueken Quentin Tarantinos neueste Gewaltfantasie mit PC-Lizenz, "Django Unchained". Andreas Kilb schreibt zum Tod des großen japanischen Filmregisseurs Nagisa Oshima. In der Reihe der Betrachtungen vermeintlicher Nebenwerke der Gemäldegalerie schreibt der Kunsthistoriker über Jan Davidsz de Heems Stilleben "Blumenstrauß in einer Glasvase".

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass der WAZ-Konzern kurzerhand die 120 Mitarbeiter der Westfälischen Rundschau entlässt, die künftig, gefüttert mit WAZ-Standardnews, als Schatten ihrer selbst erscheint. Gemeldet wird auch, dass auf der schematischen Europakarte des heute-Journals die russischen Exklave Kaliningrad fehlt (statt dessen ist eine schicke Bucht eingezeichnet), worüber sich das deutsch-polnische Wochenblatt kräftig amüsierte.



Besprochen werden Wolfgang Fortners Oper "Bluthochzeit" in Wuppertal, Theresia Walsers neues Stück "Ich bin wie ihr, ich liebe Äpfel" in Mannheim, eine große Ausstellung des Malers George Bellow im Metropolitan Museum in New York und Bücher, darunter Gertrud Höhlers Abrechnung mit Angela Merkel (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).