Heute in den Feuilletons

Mainstream von gestern

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2013. Die Welt weiß, was Paul Celans "Kumi-Ori" wirklich bedeutet. Die taz erkennt in David Sievekings Film über seine demente Mutter, wann Objektivität in Aggression umschlägt. In der FR/Berliner Zeitung erklärt Götz Aly, warum auch Hitler für Mindestlöhne war. Die SZ findet das Leistungsschutzrecht plötzlich gar nicht mehr so gut. In der FAZ fragt sich Sujata Madhok, ob Indien die Herausforderung des Patriarchats akzeptieren wird. In der Zeit erklärt Christian Petzold, warum sich die DDR so gut als Filmstoff eignet. 

Welt, 31.01.2013

Im Forum erklärt Kathrin Spoerr, warum sie ihren Kindern Wörter wie Zigeuner oder Eskimo nicht verbieten will: "Einen Begriff zu verbieten, weil er schon mal missbraucht wurde, ist ein einfacher und brutaler Weg ... Es macht das Entstehen einer Haltung zum Missbrauch unmöglich."

Anlässlich von Christine Nöstlingers umstrittenen (hier und hier) Kinderbuch-Schurken "Kumi-Ori", was angeblich die Stadt Jerusalem meine, erinnert sich Marko Martin an seinen Besuch bei der letzten Geliebten Celans, Ilana Shmueli: "Wie laut war das Lachen von Ilana Shmueli in ihrem Alterswohnsitz in Jerusalem, als sie über ihre 1965 aufgefrischte Jugendliebe zu Paul Celan sprach. 'Sollen sich die Germanisten was dran abbeißen - ich weiß, was Paul meinte, als er 'Kumi, ori, erhebe dich, leuchte' schrieb. Es war ein Preisen eines Teils der eigenen Anatomie, die bei einem Besuch hier in Jerusalem wieder erwachte.'"

Besprochen werden eine Doppelausstellung mit Werken Alberto Giacomettis in der Hamburger Kunsthalle und im Bucerius Kunstforum ("Ausstellungskunst vom Feinsten", verspricht Hans-Joachim Müller, Bild: Giacomettis "Main prise", 1932) sowie einige Filme, darunter Juan A. Bayonas Katastrophenfilm "The Impossible".

Weitere Medien, 31.01.2013

Gestern im Print, heute auch online: Götz Aly schreibt in der FR/Berliner Zeitung über Hitlers Aufstieg zur Macht vor 80 Jahren: "Immer wieder wird gesagt, Hitler habe seine Macht nach dem 30. Januar 1933 mit den Mitteln des Terrors gefestigt. Das ist nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit. Nach kaum vierwöchiger Amtszeit senkte die NS-Regierung die Krankenscheingebühr von 50 auf 25 Pfennige. Im Dezember wurden zudem die Rezeptgebühr halbiert, Mindestlöhne für Heimarbeiter eingeführt und die Steuerlast für Ehepaare mit Kindern deutlich gemindert. Am 10. April 1933 erklärte die Regierung den 1. Mai zum Feiertag und erfüllte damit eine alte Forderung der Arbeiterbewegung."

TAZ, 31.01.2013

"Von der Intention her über jeden Zweifel erhaben" findet Lukas Foerster David Sievekings ("David Wants to Fly") Dokumentarfilm "Vergiss mein nicht" über seine an Alzheimer erkrankte Mutter. In einer Szene jedoch, in der die Mutter etwas in die Kamera fragt und keine Antwort erhält, erweist sich die objektive Ezählkonstruktion als fadenscheinig: "Für einen Moment bricht die kommunikative Anordnung des Films, die darauf basiert, dass das Blickobjekt nicht zurückblicken darf, egal, wie aufdringlich das mechanische Auge ihm auf den Leib rückt, zusammen; und macht sie als ein implizit aggressives Blickregime sichtbar, von dem ich mir nicht sicher bin, ob es diesem Gegenstand - oder überhaupt nur irgendeinem - angemessen ist."

Weiteres: Christian Broecking würdigt im Nachruf den amerikanischen Jazz- und Improvisationsmusiker Butch Morris. Besprochen werden eine Ausstellung von rund 100 Kleidern und Schmuckstücken aus Palästina aus der Sammlung von Widad Kamel Kawar im Historischen Museum in Basel, zwei Berliner Ausstellungen sowie ein Sammelband zur Erinnerung an Htlers Machtübernahme vor 80 Jahren, Berengar Pfahls Film "Die Männer der Emden" ("eine Fusion von angeberischen production values und Trash") und die DVD von Marcel Carnés Klassiker "Hafen im Nebel" aus dem Jahr 1938.

Und Tom.

NZZ, 31.01.2013

Wilhelm Droste stellt den Wiener Nischenverlag vor, der sich auf bisher wenig beachtete ungarische Autoren spezialisiert. Adolf Muschgs Rede zur Gedenkfeier für die Schauspielerin Maria Becker ist in leicht gekürzter Fassung abgedruckt.

Besprochen werden Filme, darunter Kathryn Bigelows Film "Zero Dark Thirty" und Bücher, darunter Michael Köhlmeiers Roman "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 31.01.2013

Sieh mal einer an: Nach der gestrigen Verhandlung des Leistungsschutzrechts im Bundestag sieht sich die SZ nun auch zu einer Kritik desselben in der Lage. Karoline Meta Beisel fasst die unterschiedlichen Gutachten, die der Verhandlung zugrunde liegen, zusammen.

Und Johannes Boie präsentiert recht ausgewogen die Argumente der Leistungsschutzrechtgegner. Dass viele der im Vorfeld veröffentlichten Artikel die Leser allerdings an der Nase herumführten und so selbst eine Glaubwürdigkeitskrise auslösten, kann sich Boie allerdings nur halb eingestehen: Die Presse stehe "automatisch unter dem Verdacht ..., in eigener Sache parteiisch zu berichten - verdächtigt von einer Lesergeneration, die mit den hypertransparenten Maßstäben des Netzes aufgewachsen oder zumindest vertraut ist und die von Journalisten eine ostentativ kritische und distanzierte Berichterstattung erwartet". Nun, warum sollte man dies auch nicht?

Apropos Leistungsschutzrecht: Ohne den geringsten Hinweis darauf, dass er seine Informationen von CNN hat, berichtet Tobias Kniebe auf der Seite 3, dass es für die CIA-Agentin Maya in Kathryn Bigelows Film "Zero Dark Thirty" ein reales Vorbild gibt.

Außerdem: Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das es der christlichen Vereinigung Opus Dei gestattet, eine eigene, geschlechtergetrennte Schule zu betreiben (mehr), hält Matthias Drobinski trotz einiger Vorbehalten für "konsequent". Alex Rühle berichtet vom indischen Literaturfestival in Jaipur, wo viel über Gewalt gegen Frauen diskutiert wurde. Susan Vahabzadeh informiert über einen Streit in Frankreich über die Filmförderung, die der Filmverleiher Vincent Maraval in Le Monde mit einer Philippika über zu hohe Schauspielergagen losgetreten hat (hier antwortet ihm der Regisseur Philippe Loiret). In Schweden diskutiert man unterdessen, ob der Spielfilm "Play", in dem eine Gruppe schwarzer Jugendlicher blonde Schweden ausraubt, rassistisch sei, berichtet Jan Füchtjohann, der den Film als "Meisterwerk" verteidigt (unser Kritiker Nikolaus Perneczky traut dem Film nur halb über den Weg).

Besprochen werden eine Salzburger Aufführung von Mozarts "Lucio Silla", eine "Don Giovanni"-Aufführung am Hamburg Thalia Theater, Johan Lundborgs Film "Corridor" und Bücher, darunter Jan Plampers "Geschichte und Gefühl" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 31.01.2013

"Ganz wunderbar" findet es die indische Journalistin Sujata Madhok, dass bei den empörten Kundgebungen in Dehli nach der tödlich geendeten Vergewaltigung einer jungen Frau viele "neue, frische, junge Gesichter, nicht die vertrauten" auftauchten. Dennoch mischt sich ein auch durch frühere Erfahrungen gestützter, leicht skeptischer Tonfall in ihren Artikel, ob das Engagement dieser heterogenen Bewegung Früchte zeigen wird: "Die junge Demonstrantin, die ein Schild mit der Parole 'My voice is higher than my skirt' hochhielt, geht mir nicht aus dem Sinn. Werden die indischen Politiker auf diese selbstbewusste Herausforderung von Patriarchat und Autorität eingehen können?" Hier einige Eindrücke von den Demonstrationen.

Weitere Artikel: Jordan Meijas macht es sich für eine Home Story in Yoko Onos luxuriöser Küche in New York bequem, nicht ohne zuvor die Schuhe ausgezogen zu haben. Martin Kämpchen berichtet vom indischen Literaturfestival in Jaipur, das sich innerhalb von acht Jahren zum größten Festival seiner Art im asiatischen Raum gemausert hat (allerdings nicht ohne auch einige Kritik auszulösen, wie man im Guardian nachlesen kann). Eleonore Büning ist gespannt auf den "Musikzar" Valery Gergiev, den neuen Dirigenten der Münchner Philharmoniker. Andreas Kilb liest Bücher über Gerhard Lamprecht, der vor 50 Jahren den Grundstück zur Gründung der Deutschen Kinemathek legte. Carolin Weidner resümiert das Max-Ophüls-Filmfestival in Saarbrücken.

Besprochen werden der Actionfilm "The Last Stand", in dem Arnold Schwarzenegger laut Dietmar Dath einen Auftritt als "patiniertes Schnitzel auf renitenten Beinen" absolviert, und Bücher, darunter Max Goldts typografisch anspruchsvoll gesetztes "Sind wir denn nur in Cordbettwäsche etwas wert?" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 31.01.2013

Die Zeit schaltet sich in die Sexismus-Debatte ein: In einem Leitartikel ermutigt Tina Hildebrandt betroffene Frauen, sich "nicht ins Bockshorn jagen" zu lassen: "Diejenigen, die sich in dieser Debatte für den Anti-Mainstream halten, verkörpern in Wirklichkeit den Mainstream. Nur ist es der Mainstream von gestern." Weitere Artikel widmen sich dem Stand der Diskussion in Schweden und den USA. Auf Zeit online bedauert Nina Pauer, dass die Debatte zu einer "aufgebrachten Suche nach Regelwerken" verkommen ist.

In der Zeit im Osten stellen Journalisten, Filmschaffende und Politiker ihre Lieblingsfilme über die DDR und Ostedeutschland nach der Wende vor und erstellen so einen 22 Filme starken Kanon der "Filme des Ostens". Im begleitenden Interview erklärt der Rheinländer Christian Petzold, warum sich die DDR so gut als Erzählstoff eignet - und so eine gute Filmkulisse abgibt: "Du kommst nach Halle und hast die unberührte Innenstadt vor dir! Renovierung war der DDR halt zu teuer. Man baute einfach eine riesige Neustadt. Während im Westen immer weggehackt worden ist, blieb im Osten das Schöne für sich. Deshalb gefällt's mir in Halle so."

Am Beispiel der Projekte "Getting Dumped" von Tawna Fenske und "Eine neue Version ist verfügbar" von Dirk von Gehlen beschreiben Maximilian Probst und Kilian Trotier in einem zweiseitigen Aufmacher im Feuilleton, wie E-Book-Autoren ihre Leser im Internet Einfluss auf ihre Bücher nehmen lassen: "Das neue Buch des digitalen Zeitalters zielt auf eine Partikularität, um die sich ein Kollektiv bildet. Die Leser treten im Schwarm auf und können in den Prozess des potentiell stets unfertig bleibenden Werkes eingreifen."

Weitere Artikel: Dem Leserecho auf die Titelgeschichte von letzter Woche ("Kinder, das sind keine Neger" mit Beiträgen von Ulrich Greiner und Ijoma Mangold) wird eine ganze Seite eingeräumt. Die Religionswissenschaftlerin Katharina Kakar berichtet von der Debatte über sexuelle Gewalt in Indien. Tobias Timm beschreibt den Architektur-Trend zu Recycling und Vergänglichkeit. Angesichts der Schwemme von bestsellerschreibenden Kommissaren, Rechtsmedizinern und Richtern macht sich der Bundesrichter Thomas Fischer auf einer ganzen Seite Sorgen um die Persönlichkeitsrechte von Personen, deren Fälle dabei ausgeschlachtet werden. Hanno Rauterberg erklärt, weshalb sich Giacomettis Skulpturen in Bankenfoyers und Chefetagen so gut machen: "Es ist eine Kunst, die ruhig stellt - die Skulpturen und ihre Betrachter." Christine Lemke-Matwey berichtet von den Bemühungen Thomas Hengelbrocks um eine möglichst quellentreue Aufführung von Richard Wagners "Parsifal".

Besprochen werden Kathryn Bigelows Film "Zero Dark Thirty" (der Folter zeigt, wie sie nun einmal ist, meint Thomas Assheuer: widerlich und wirksam), Arnold Schwarzeneggers Schauspiel-Comeback "The Last Stand" (bei dem Susanne Mayer feststellt: "Unterhautfettgewebe baut sich ab") und Bücher, darunter Michael Köhlmeiers Roman "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Wirtschaftsteil schildert John F. Jungclaussen den Fall des Guardian, der durch sein eisernes Festhalten an einem kostenlosen Internetauftritt existentiell bedroht ist (mehr dazu von Hugh Linehan in der Irish Times).