Heute in den Feuilletons

Dann geht das gestelzte Elend weiter

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2013. Die Berlinale-Seiten der Zeitungen befassen sich Călin Peter Netzers rumänischem Wettbewerbsfilm "Child's Pose" und mit Jane Campions Mystery-Thriller "Top of the Lake". In seinem Blog lästert der Regisseur Dietrich Brüggemann über die Berliner Schule. Die FAZ ist ergriffen vom Rücktritt  Benedikts XVI. - Martin Mosebach würdigt noch mal seine konservative Mission, so auch The Onion. Im Perlentaucher bekommt Klaus Müller, inspiriert von Karl Leonhard Reinhold sowohl  Vernunft als auch Religion unter einen Hut. Außerdem stellt sich heraus: Der Perlentaucher hat die zweitwichtigsten Literaturseiten im Netz. Die drittwichtigsten hat die FAZ.

Welt, 12.02.2013

Jan Küveler ist schwer beeindruckt von Călin Peter Netzers rumänischem Wettbewerbsfilm "Child's Pose", der sich um eine obsessive Mutter-Kind-Beziehung dreht: "Das Zentrum seines Lebens ist das Beharren auf Hygiene und Sterilität. Als er einmal fürchtete, seine von der Mutter ungeliebte Freundin geschwängert zu haben, zwang er sie, sich besonders ausgiebig zu waschen. Einen Monat rührte er sie nicht an und erkundigte sich panisch nach dem Einsatz der Regel. Solcherart ist sein Verständnis von Hygiene. Wie die Eindringlichkeit der mütterlichen Massage spottet es jeder geistigen Gesundheit."

Im Forum schildert Hanns-Georg Rodek die "Bärenfalle", in der die Berlinale sitzt, seit vor neun Jahren die Oscars vorverlegt wurden. Dazu kommt die Verbreitung der Filme, die heute dank Digitalisierung viel schneller stattfinden kann als früher. Und: "Die Aussicht auf einen Goldenen Bären schmeichelt dem Ego, doch im Zweifel ist dem Produzenten die Aussicht auf einen Weltvertrieb wichtiger. In Deutschland operiert eigentlich nur ein Filmvertrieb weltweit, das ist The Match Factory, in Frankreich sind es fast ein halbes Dutzend. Und wenn ein französischer Vertrieb einen Film unter seine Fittiche nimmt, landet er in Cannes, nicht in Berlin."

Weiteres: Felix Stephan hörte bei den Grammys Musik, "die bereits 1979 nicht mehr neu geklungen hätte". Besprochen werden eine "ungemein erlesene" Ausstellung mit griechischen Skulpturen im Frankfurter Liebieghaus ("Schönheit wird zu einem Kennwort für die ganze Fülle gottmenschlicher Überlegenheit", schwärmt Hans-Joachim Müller), Robert Carsens Inszenierung von Janáčeks "Das schlaue Füchslein" an der Straßburger Opéra du Rhin, vier Filme der Langzeitdoku "Berlin Ecke Bundesplatz" und Richard Linklaters Wettbewerbsbeitrag "Before Midnight".

Aus den Blogs, 12.02.2013

Der Regisseur Dietrich Brüggemann lässt nach Thomas Arslans Berlinale-Beitrag "Gold" eine inspirierte Tirade über die Berliner Schule ab: "Kann mir bitte mal einer erklären, was daran toll ist, wenn hölzerne Schauspieler hölzerne Dialoge hölzern aufsagen, das ganze in 80er-Jahre-Fernsehfilm-Ästhetik, gelegentlich kommt eine Abblende, und man freut sich auf die Werbung, aber dann geht das gestelzte Elend weiter? Wenn ein Film mir zwei Stunden lang den Rücken zukehrt? Wenn Nina Hoss, die bestimmt eine wunderbare Schauspielerin ist, fünf Filme lang herumlaufen muß wie ein abgeschalteter Roboter?"

Perlentaucher, 12.02.2013

In der von Jan Assmann angestoßenen Monotheismus-Debatte im Perlentaucher plädiert der katholische Theologe und Philosoph Klaus Müller wie Assmann für das "Sowohl als auch" und nimmt dabei Bezug auf den frühen Kantianer Karl Leonhard Reinhold: "Umbildung des blinden Glaubens in Vernunft" sei sein Programm: "Diese Vermittlungsabsicht erfüllt Reinhold durch eine zentrale These seiner 'Hebräischen Mysterien', der gemäß Gottes Namenskundgabe aus Ex 3,14, 'Ich bin, der ich bin', mit dem All-Einen der ägyptischen Mysterien koinzidiert."

FR/Berliner, 12.02.2013

Katia Lüthge sah auf der Berlinale Jane Campions sechsstündige Fernsehserie "Top of the Lake" vor. Der Schluss war ihr zu versöhnlich, aber die Konstruktion hat ihre Reize: Hier eine chauvinistisch-kriminelle Siedlung, dort eine radikal weibliche. "In einer majestätischen Bucht namens Paradies baut eine Gruppe mittelalter desolater Frauen, die gern auch nackt im riesigen eiskalten See badet, ein Containerdorf. Unter der schroff-spirituellen Leitung ihres weiblichen Gurus (ziemlich ulkig: Holly Hunter), suchen die 'bekloppten Frauen' ihr Seelenheil, mitunter aber auch einfach nur Sex. Das ist bisweilen saukomisch. Gewissermaßen zwischen diesen Polen stehen die verratenen Kinder und deren seelenverwandte Robin, die sich von ihrer sterbenden Mutter sagen lassen muss, sie würde Härte mit Stärke verwechseln."

Außerdem: Auch Anke Westphal ist beeindruckt von Calin Peter Netzers Wettbewerbsbeitrag "Pozitia Copilului (Child's Pose)": "Nicht zufällig wird das rumänische Filmschaffen so gefeiert in der Welt. Das hier ist ein Kino, das etwas will. Im besten Sinn trägt es die Unruhe des Gewissens der Jahre vor 1989 weiter." Christian Bos schreibt über eine Ausstellung mit Fotoporträts von Bryan Adams im NRW-Forum Düsseldorf.

NZZ, 12.02.2013

Die Medienfreiheit in Ungarn ist nicht in Gefahr, gibt Rolf Hützeler Entwarnung und sieht die Auseinandersetzung um die Presse als Teil der politischen Dauerkonfrontation im Land. Die Lage ist komplizierter: "Die Regierung als größter Anzeigenkunde der ungarischen Medien halte sich mit Aufträgen zurück; so habe sich die Landeslotterie ebenso zurückgezogen wie halbstaatliche Unternehmen der Energieversorgung. Privatwirtschaftliche Anzeigenkunden springen anscheinend ebenfalls ab, um es mit Regierungsstellen nicht zu verderben. - Zutreffend oder nicht, der Ringier-Verlag bestätigt jedenfalls einen deutlichen Anzeigenrückgang bei Nepszabadsag. Allerdings räumt (der leitende Redakteur Marton) Gergely auch eine publizistische Vertrauenskrise linker Medien in Ungarn ein: 'Viele haben es bis 2010 nicht gewagt, die Misswirtschaft der linken Vorgängerregierung zu kritisieren.' Das sei bei der Leserschaft sehr schlecht angekommen."

Weiteres: In die Debatte um das korrekte Zitieren erinnert Uwe Justus Wenzel auch an ein Aperçu von Paul Valéry: "Der Geist stiehlt, wo er kann." Alfred Zimmerlin berichtet vom Eclat-Festival für Neue Musik in Stuttgart. Thomas Maissen war in Freiburg i. Ü. bei den Schweizerischen Geschichtstagen. Samuel Herzog schreibt zum Tod von Richard Artschwager.

Besprochen werden Jan Ross' Bekenntnisschrift "Die Verteidigung des Menschen", Peter Schünemanns Erzählungen "Brief aus dem Meer" und Kim Young Has Band "Ein seltsamer Verein" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 12.02.2013

Perlentaucher ist stolz! Das Portal 100-beste-bestseller-buecher.de hat eine Umfrage unter Literaturblogs durchgeführt, die die besten Literaturseiten im deutschen Netz benennen sollten. Kandidaten waren vor allem die Online-Literaturseiten der großen Printmedien. Perlentaucher landet nach der Zeit auf Platz 2: "Der Perlentaucher fällt neben der Zeit ohnehin als Liebling der Blogger auf. 'Die Zeit ist aktueller und schneller, dafür geht Perlentaucher in die Tiefe und findet mehr abseits des Mainstreams', findet etwa Matthias, ein Onlineredakteur aus Kitzen/Thesau."

The Onion zitiert einen bisher unbekannten Rücktrittstext Benedikts XVI.: "While I'm proud of the strides the Church has made over the past eight years, from thwarting AIDS-prevention efforts in Africa to failing to punish or even admit to decades of sexual abuse of children at the hands of clergy, it has become evident to me that, in this rapidly evolving world, I now lack the capacity to continue guiding this faith back centuries."

(Via turi2) Die Holtzbrinck-Tochter Macmillan muss 20 Millionen Dollar an die Käufer von Ebooks zurückzahlen, meldet paidcontent.org, so die Vereinbarung mit dem amerikanischen Justizministerium, das verbotene Preisabsprachen mit Apple sanktionierte.

SZ, 12.02.2013

Michael Stallknecht resümiert das Stuttgarter Neue-Musik-Festival Eclat und verabschiedet sich von Hans-Peter Jahn, der das Festival dreißig Jahre lang organisiert hat: "'Skrupellos, charakterlos, ein Ignorant von Strömungen' nennt Jahn sich selbst. Nur das Experiment selbst ist ihm so heilig, dass er gern eben auch die 'Neue-Musik-Spießer' torpediert und verstört, die immer schon zu wissen glaubten, was 'neu' sei. Dass in seinem letzten Jahr die beiden Titanen und zugleich Antipoden der Szene, Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm, gemeinsam das Abschlusskonzert bestreiten, bestätigt sein Konzept."

Weitere Artikel: Im Aufmacher feiert Rudolf Neumaier das von den Münchnern Richard Oehmann und Josef Parzefall neu belebte Kasperletheater. Jens-Christian Rabe, Andrian Kreye, Helmut Mauro berichten kurz über die Grammys. Claudia Tieschky und Willi Winkler unterhalten sich mit Costa-Gavras über Griechenland, Europa und seinen neuen Film "Le Capital" (mehr). Wolfgang Schreiber gratuliert dem Regisseur Franco Zeffirelli zum Neunzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Zurück zur Klassik" im Frankfurter Liebieghaus (Johan Schloemann bewundert "lauter Glanzstücke von überallher"), einige Berlinale-Filme und Bücher, darunter eine neue Essaysammlung von Jonathan Franzen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 12.02.2013

Die ganze erste Seite des Feuilletons ist dem Rücktritt des Papstes gewidmet. Fundamentalkatholik Martin Mosebach beklagt noch einmal die "maßlose Kritik"an Benedikt XVI. in Deutschland:"Hier fehlte jedes Verständnis für die Aufgabe, die er sich gestellt hatte: die Kirche an ihre Überlieferung zu erinnern, eine theologische Fehlentwicklung seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu korrigieren, die so tat, als sei erst auf diesem Konzil die katholische Kirche gegründet worden." Außerdem würdigt Dirk Schümer den Rücktritt als "Fanal moderner Amtsführung". Und Hannes Hintermeier beleuchtet die Auswirkungen auf die mit dem Papst ökonomisch befassten Akteure wie Buchverlage und bayerische Marktflecken.

Weitere Artikel: Edo Reents legt ein Wort für den Autor Otto Ludwig ein, der wie Wagner und Verdi im Jahr 1813 geboren wurde (hier einige Werke). Verena Lueken feiert in ihrem Berlinale-Bericht Jane Campions fürs Fernsehen gedrehte Miniserie "Top of the Lake", einen in Neuseeland spielenden Mystery-Thriller mit Anklängen an "Twin Peaks". Andreas Kilb lässt weitere Berlinale-Filme Revue passieren.

Außerdem, stellt Joseph Croitoru eine Studie zu israelischen und palästinensischen Schulbüchernn vor. Und Julia Voss würdigt den Maler Otto Piene, der heute den Max-Beckmann-Preis erhält.

Besprochen werden ein neues Album des Gitarristen Richard Thompson, eine Choreografie Damien Jalets ind den Räumen des Louvre, eine Ausstellung mit malerischen und bildhauerischen Werken Le Corbusiers in Stockholm und Bücher, darunter Jörg Magenaus Biografie über die Gebrüder Jünger (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).