Heute in den Feuilletons

Dann erst stellt ein Sinn sich ein

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2013. Die Berlinale-Resümees fallen alles in allem etwas mau aus - laut Welt steckt das Festival in der Datumsfalle, die FAZ sah Kino aus aller Welt, aber kein Weltkino. Bei aller politischen Korrektheit: Der taz graut vor einem Sexualleben, das reguliert ist wie ein Verkehrsgarten. In der SZ will Ingo Schulze Bertolt Brecht wieder politisch lesen. Die NZZ bewundert schwarze Frauen in Heldenposen, wie sie von afrikanischen Künstlerinnen in Szene gesetzt werden. Und style.com präsentiert die definitive Wintertracht.

NZZ, 18.02.2013

Elisabeth Wellershaus beschreibt den Trend unter afrikanischen Künstlerinnen, schwarze Frauen in Heldenposen darzustellen: "Seit Mitte der neunziger Jahre ist eine weibliche Kunstszene zwischen Kairo und Kapstadt im Entstehen, die sich ästhetisch sowie inhaltlich von kolonialen und patriarchalischen Strukturen emanzipiert. Allerdings müssen junge Künstlerinnen auch heute noch um Förderung und Wahrnehmung auf dem innerafrikanischen Kunstmarkt kämpfen." Als Beispiel nennt Wellershaus Zanele Muholi, Pamela Phatsimo Sunstrum und Mary Sibande (deren Dienstmädchen-Superheldin "Sophie" in ihrem blauen Zauberkleid hier zu sehen ist).

Weiteres: Susanne Ostwald referiert die Berlinale-Preisträger und bilanziert: "Das Programm war thematisch weitaus breiter gefächert als in anderen Jahren." Besprochen werden eine Inszenierung der "Geschichte von Kaspar Hauser" in der Zürcher Schiffbau-Box ("komisch, unheimlich, herzzerreissend, kurz: von zauberhafter Wirkung", schwärmt Barbara Villiger Heilig) und ein Zürcher Ballettabend mit Stücken von William Forsythe, Edward Clug und Sol León/Paul Lightfoot.

Welt, 18.02.2013

Cornelius Tittel liest in der Welt am Sonntag Frank Schirrmachers neueste Generaldiagnose "Ego" als verschwörungstheoretischen Science Fiction-Thriller, der allerdings bei näherer Prüfung nicht den historischen Fakten standhält. Schirrmachers Theorie etwa, die Sowjetunion sei von neoliberalen Spieltheoretikern der Rand Corporation erledigt worden, "ist so absurd, dass ihr 23 Jahre nach dem Mauerfall wohl nur noch die Betonfraktion innerhalb der Linkspartei folgen kann". Tittel kann es auch nicht fassen, dass Schirrmacher Spieltheorie, Big Data und Digitalisierung mit totalitären Ideologien gleichsetzt: "Wenn die neue Ursünde tatsächlich nur sieben Jahre nach der Befreiung von Auschwitz von neoliberalen amerikanischen Wissenschaftlern begangen wurde und die Machtergreifung durch den Siegeszug des Personal Computers erfolgte - wer ist dann Frank Schirrmacher? Ein neuer Graf Stauffenberg?"

In seinem Berlinale-Resümee stellt Hanns-Georg Rodek fest, dass das Festival aus seiner Datumsfalle einfach nicht rauskommt: "Die frische Ware für den Kinoherbst schippert im September durch die Kanäle von Venedig, die heißen Oscar-Kandidaten laufen im Oktober Kür in Toronto, und die Kunstfilmwelt zieht es im Mai an ihren Sehnsuchtsort Cannes. Für Berlin bleiben die Franzosen, die Cannes nicht will, die Hollywood-Produkte ohne Oscar-Hoffnungen, größere Namen mit kleineren Filmen und die Deutschen."

Weitere Artikel: Wieland Freund konstatiert nach der ARD-Dokumentation über die Arbeitsbedingungen bei Amazon, dass sich die deutsche Buchbranche die Bedingungen längst von diesem Konzern diktieren lässt.

Besprochen werden die Yoko-Ono-Retro in der Schirn und Wagners Frühoper "Die Feen" in Leipzig.

TAZ, 18.02.2013

So überfällig die aktuelle Sexismus-Debatte auch ist, es graust Jan Feddersen doch vor ihren Auswirkungen: "Sexuelles, das so durchgeregelt ist wie ein Autoverkehrsübungsplatz irgendwo in der Provinz, vollgestellt mit Stoppschildern, Verbots- und Gebotsmahnungen, mit Symbolen für den Kreisverkehr oder für die Autobahn, ist kein Sexuelles mehr."

Weiteres: Cristina Nord zeigt sich insgesamt zufrieden mit der 63. Berlinale, die ihres Erachtens vor allem "als diejenige in Erinnerung bleiben [wird], die die Attraktionen des unabhängigen US-amerikanischen Kinos an den Potsdamer Platz holte." Island diskutiert über Porno-Internetzensur, berichtet Reinhard Wolff. Besprochen werden Bücher, darunter Tom Wolfes neuer Roman "Back to Blood" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 18.02.2013

Och, geht weg! Wer möchte jetzt Mode für den nächsten Winter sehen? Bei den pret-a-porter-Schauen der Sister of Sibling in London gab's dann aber doch einen Hingucker, der selbst das frühlingsbewegteste Herz kurz schmelzen ließ: Nächsten Winter gehen wir als wollig-molliges warmes Schaf!

Außerdem ist Montag, bitte aufwachen. Mit Darius Milhauds, "Le boeuf sur le toit".


Stichwörter: London, Pret-A-Porter

Weitere Medien, 18.02.2013

Im Merkur hat Joachim Rohloff zwar noch nicht das neue Buch von Frank Schirrmacher gelesen, aber zur generellen Strickart der Bücher des FAZ-Herausgebers hat er einiges zu sagen, etwa zum Zusammenspiel von schwellender Rhetorik mit einem schlechten Lektorat, was dramatisch klingende, doch unklare Diagnosen ergebe: "Viele Sätze muss man zwei- oder dreimal lesen, bevor man den Fehler entdeckt und beheben kann. Dann erst stellt ein Sinn sich ein, von dem man aber nie mit Gewissheit annehmen darf, er treffe das, was der Autor sagen wollte. Das Internet fresse unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit, behauptet Schirrmacher. Bei der Lektüre denkt man eher, es sei die Verkommenheit der hiesigen Verlagsbranche."

Auf Zeit online berichtet Kai Biermann, wie Kulturstaatsminister Bernd Neumann einen Gesetzentwurf der Justizministerin verhinderte, der Abmahnungen bei Filesharing deckeln sollte, für die oftmals viel zu hohe Streitwerte angesetzt werden: "Offenbar passte der schon ausgehandelte Kompromiss der Industrie nicht, gerade die Deckelung des Streitwertes finden die Verbände unpassend. Dank Neumann können sie nun nachträglich noch Zugeständnisse herausholen. In seinem Entwurf sind die Ausnahmen jedenfalls nun so ausgedehnt, dass der Deckel praktisch nicht mehr deckelt."

(Via Litflow) Für alle Freunde englischsprachiger Lyrik empfiehlt npr.org den neuen Internetdienst Pentametron: "Pentametron - which you can follow at @pentametron - watches all the public tweets created in a day. 'It picks out the ones that happen to be in iambic pentameter,' says Ranjit Bhatnagar, an artist and the inventor of the program. 'When it finds some of those, it looks for a pair that rhyme, and then it tweets out a couplet.'"

FAZ, 18.02.2013

Den Berlinalefilmen fehlt ein genauer Blick, meint ein insgesamt enttäuschter Andreas Kilb in seinem Resümee des diesjährigen Wettbewerbs. Drei Filme sind für ihn dabei beispielhaft - "Gloria", "Pardé" und "An Episode in the Life of an Iron Picker": "Was allen drei Filmen fehlt, ohne dass man es ihnen vorwerfen kann, ist ein Bild der Wirklichkeit, ein Horizont, der über den jeweiligen Fall hinausreicht. Sie klammern sich dort fest, wo sie ihr Thema gefunden haben, sie zeigen im Ausschnitt nicht das Ganze, sondern geben sich mit dem Rahmen zufrieden, den sie füllen wollen. Sie sind Kino aus aller Welt, aber kein Weltkino, und das gilt genauso für die Berlinale als Ganzes."

Weitere Artikel: In der Kolumne "Modelle, die sich nicht benehmen" sucht Emanuel Derman nach einem Schema für Geschlechterzuschreibungen. Jürgen Stolzenberg schreibt zum Tod des Philosophen Konrad Cramer.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Medici. Menschen, Macht und Leidenschaft" im Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim (man liest in der lobenden Besprechung von Tilman Spreckelsen doch einigermaßen fassungslos, wie selbstverständlich heutzutage Schädelabdrücke und Röntgenbilder mit "Verwachsungen und Verkrüppelungen" im Museum vorgeführt werden), eine Leipziger Inszenierung von Richard Wagners früher Oper "Die Feen", Katie Mitchells Filmtheater "Die gelbe Tapete" an der Berliner Schaubühne und Lee Toland Kriegers Film "Celeste & James".

SZ, 18.02.2013

Ingo Schulze wünscht sich in seiner Dankesrede zum Bertolt-Brecht-Preis, dass man Brechts politischen Gehalt wieder ernster nimmt: "Heute", schreibt der ausgezeichnete Schriftsteller an Brecht, "erklären wir Sie für historisch. ... Lassen Sie es sich aber bitte zu Ihrem Geburtstag sagen: Nicht Sie, Bertolt Brecht, sind historisch geworden - unsere Gegenwart scheint es zu sein, und wir mit ihr. Denn wir verhalten uns so ruhig und still, als hätten wir das Gerede vom Ende der Geschichte tatsächlich akzeptiert. Man muss auch gar nichts mehr entlarven, die Dinge werden in aller Öffentlichkeit verkündet. Schon im Jahr 2000 sprach Rolf E. Breuer in der Wochenzeitung Die Zeit die Kriegserklärung aus, die bis heute Gültigkeit hat: 'Politik muss (...) heute mehr denn je mit Blick auf die Finanzmärkte formuliert werden.'"

Außerdem: Martina Knoben resümmiert den Berlinale-Wettbewerb, "der etwas hilflos zwischen dem politischen (und künstlerischen) Anspruch des Festivals und seiner Sehnsucht nach Glamour lavierte". Joachim Käppner erinnert an die Geschwister Scholl, die vor 70 Jahren verhaftet wurden. Wolfgang Schreiber porträtiert die Sopranistin Barbara Hannigan, die im Nebenberuf auch Dirigentin ist. Joseph Hanimann berichtet von Auseinandersetzungen um die Wasserprivatisierung in Frankreich. Die Seite 3 ist Heino gewidmet, der, so Holger Gertz, jetzt ein ganz "cooler Hund" sei.

Besprochen werden Katie Mitchells Inszenierung von "Die gelbe Tapete" an der Berliner Schaubühne, ein von Beyoncé selbst gedrehter Dokumentarfilm über ihr Leben und ein Münchner Konzert von Cameron Carpenter.