Heute in den Feuilletons

Aus dem Schatten der heidnischen Götzen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2013. Die Welt setzt Jan Assmanns Begriff der "mosaischen Unterscheidung" den Begriff der "abrahamitischen Unterscheidung" entgegen. Die taz wundert sich, wie wenig welthaltig Martin Kippenberger war. Die NZZ sucht den Kommunismus im neuen China. Die SZ wirft Wolfgang Kraushaar vor, einen Generalverdacht gegen die Linke zu schüren. Die FAZ fordert die noch lebenden Haschrebellen auf, endlich zu sagen, was sie wissen.

Welt, 22.02.2013

Hannes Stein interveniert in der von Jan Assmann angestoßenen Monotheismus-Debatte und setzt Assmanns Begriff der "mosaischen Unterscheidung" den Begriff der "abrahamitischen Unterscheidung" entgegen - in Anspielung auf die Szene des in letzter Sekunde abgewendeten Sohnesopfers: "Gott ist alles Mögliche, aber eines ist er mit Sicherheit nicht: lieb. (Sondern unberechenbar.) Trotzdem tritt der Gott der hebräischen Bibel in diesen 242 Wörtern aus dem Schatten der heidnischen Götzen heraus. Denn jene haben eben nicht im letzten Augenblick einen Engel geschickt, der seine Flügel schützend über Vater und Kind gebreitet hätte." Im Verbot der Kindstötung, die von Römern weithin praktiziert wurde, sieht Stein die Errungenschaft dieser Unterscheidung.

Weitere Artikel: Tim Ackermann erinnert an Martin Kippenberger, der nächste Woche sechzig Jahre alt geworden wäre. Thomas Kielinger berichtet über schottische Bemühungen, den von Shakespeare in ziemlich schlechtes Licht gestellten Macbeth zu rehabilitieren. Christian Preußer stellt das Zwillingspaar Tegan and Sara vor, das den Pop erobert.

Besprochen werden die Verfilmung des Musicals "Les Misérables" und ein Band des Comiczeichners Lukas Jüliger.

Aus den Blogs, 22.02.2013

Möglicherweise wird das Leistungsschutzrecht für Presseverlage schon nächste Woche durch den Bundestag gepaukt, meldet Marcel Weiß in neunetz unter Bezug auf ein Blog der Linkspartei: "Da Christoph Keese, Cheflobbyist der Axel Springer AG und geistiger Vater des geplanten Gesetzes, am Springer-Betriebsausflug in das Silicon Valley teilnehmen darf und bereits seit 12. Februar bis Ende Juli dort sein wird, scheint man sich bei Axel Springer mittlerweile recht sicher zu sein, dass das geplante Gesetz in trockenen Tüchern ist."

TAZ, 22.02.2013

Brigitte Werneburg führt durch die Schau „"Sehr gut - very good“" im Hamburger Bahnhof in Berlin, eine große Retrospektive mit Arbeiten von Martin Kippenberger, der am kommenden Montag 60 Jahre alt geworden wäre. „Sehr lustig und ein bisschen fad“ sei das Ganze, und noch etwas anderes stieß Werneburg auf: "„So dokumentarisch hatte ich Kippenbergers Werk nicht in Erinnerung. Und so wenig welthaltig. Die Kreise, in denen er sich bewegt und deren Attitüden er sehr zeitnah in seinen Arbeiten festhält, sind doch sehr übersichtlich. Und sehr lokal.“"

Auf den vorderen Seiten informiert uns Felix Werdermann, dass die deutschen Bischöfe in speziellen Fällen - nach einer Vergewaltigung und wenn medizinisch sicher gestellt ist, dass "wirklich nur die Befruchtung verhindert" wird - die Verabreichung der Pille danach in katholischen Krankenhäusern gestatten wollen. Wie überaus großzügig!

Weiteres: Elias Kreuzkamp besichtigt beziehungsweise hört Postpunk aus Süddeutschland in Gestalt der Gruppen Candelilla (mehr) und Die Nerven (mehr) und entdeckt „Katzengold“. Besprochen wird außerdem das Album „House of Woo“ des Produzenten Maxmillion Dunbar aus Washington. Gemeldet wird, dass Tissy Bruns, Ex-tazzlerin und langjährige politische Chefkorrespondentin des Berliner Tagesspiegels, gestorben ist.

Und Tom.

Weitere Medien, 22.02.2013

Wie kommt es, dass immer wieder Fotos aus dem Nahostkonflikt, die die Palästinenser als Opfer darstellen, die großen Fotopreise (wie zuletzt den Preis für das beste Pressefoto des Jahres für Paul Hansen) abräumen, fragen Marco Limberg und Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen. Liegt es vielleicht an den komfortablen Arbeitsbedingungen? "Der Ben-Gurion-Flughafen ist von jedem Terminal der Welt aus schnell und leicht erreichbar. Von dort ist es nur ein Katzensprung nach Gaza oder in die Westbank, wo Hamas und Fatah hochprofessionelle PR-Büros betreiben, die die oft des Landes und der Sprache unkundigen Bildjournalisten zu Motiven bringen (oder solche notfalls auch inszenieren, wie in der Vergangenheit nicht nur in Einzelfällen geschehen)."

kress.de bündelt jüngste Meldungen zur Insolvenz der FR. Demnach wissen 340 von 450 Mitarbeitern jetzt, dass sie gehen müssen. "Es handle sich um Mitarbeiter, die bei keinem der zurzeit verhandelten Investor-Szenarien übernommen würden. " Sie haben in dieser Woche ein Vertragsangebot für den Wechsel in eine Transfergesellschaft erhalten.

NZZ, 22.02.2013

Der in Schanghai lebende Publizist und Berater Matthias Messmer beschreibt, wie nach dem Regierungswechsel in China wieder Normalität einkehrt. Mit landläufigen Vorstellungen von Kommunismus hat der Alltag wenig zu tun: "Sei es der mit Inbrunst zur Schau gestellte Prunk der Neureichen, die Dichte an Fünfsternhotels und Luxuswagen oder das Preisniveau auf dem Wohnungsmarkt. Auch die Zunahme an religiösen Aktivitäten in Tempeln und Kirchen passt nicht unbedingt in das kommunistische Ideal einer atheistischen Gesellschaft."

Weitere Artikel: Hanspeter Künzler schreibt zum Tod des Musikers Kevin Ayers. Eva Dietrich berichtet von einer Berner Ausstellung über die Farbenlehre Johannes Ittens und Paul Klees. Marion Löhndorf meldet, dass die britische Royal Institution aus Geldnot vor dem Verkauf steht.

Besprochen werden das Album "Electric" des britischen Gitarristen und Songwriters Richard Thompson, eine Genfer Balletaufführung von Igor Strawinskys "Sacre du Printemps" und "Les Noces" (die es "an Wucht und Eindringlichkeit keineswegs fehlen" lässt, findet Isabelle Jakob) und eine Konstanzer Inszenierung von Daniel Mezgers "Findlingen".

Tagesspiegel, 22.02.2013

Robert Birnbaum schreibt den Nachruf auf die Kollegin Tissy Bruns, die im Alter von 62 Jahren an Krebs gestroben ist: "Mit dem Ende von Christian Wulff fiel ihr letztes öffentliches Auftreten zusammen. Sie hat da abends in der Talkshow bei Beckmann übrigens um Gerechtigkeit für den stürzenden Niedersachsen gebeten. Was Wulff über die Integration gesagt hatte, fand sie, sollte Bestand haben über alle Fehler hinweg."

Am Samstag feiert Michael Hanekes Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" im Teatro Real in Madrid Premiere, am Sonntag geht er bei der Oscarverleihung ins Rennen. Im Tagesspiegel spricht er über den Spagat zwischen Oper und Film: "Ich bin natürlich vorrangig Filmregisseur. Opernregisseur zu sein, ist in erster Linie ein Vergnügen. Ich inszeniere natürlich nur Stücke, von denen ich glaube, dass sie mir einigermaßen gelingen können. Ich glaube außerdem, dass man an großen Komponisten und großen Werken, wie Mozart sie geschrieben hat, nur scheitern kann. Man kann nicht erfüllen, was er uns vorgibt. Es stellt sich nur die Frage, auf welchem Niveau man scheitert."

SZ, 22.02.2013

Sehr verärgert ist Willi Winkler über die Arbeitsweise des Zeithistorikers Wolfgang Kraushaar, der in seinem neuen Buch darüber mutmaßt, ob der tödliche Brandanschlag auf die Israelitische Kultusgemeinde in München 1970 auf Fritz Teufel und sein Umfeld zurückzuführen ist (siehe dazu auch diesen Auszug in der FAZ). Und die Argumentation hält Winkler für ziemlich unseriös: Es soll "die freie Assoziation erbringen, was die Fakten nicht hergeben. Das ist zwar schlechter Journalismus und dient bestimmt nicht der Wahrheitsfindung, erzeugt aber jenes Grundrauschen, das allen vertraut klingt, die schon immer ein Generalverdacht gegen die Linke plagte." Jedoch wisse der Leser auch nach der Lektüre nur, dass die Anschläge in Berlin, München, Frankfurt und in der Nähe von Zürich 1969/70 "bis heute nicht vollständig aufgeklärt sind". (Mehr zum Komplex Winkler, Kraushaar, Kunzelmann hier.)

Weiteres: Stefan Hippler bilanziert Ratzingers Pontifikat aus afrikanischer Perspektive: "für Afrika als Kontinent und für die katholische Kirche in Afrika [hat es] wenig gebracht." Reinhard J. Brembeck schaut bei den Proben der Komponistin Isabel Mundry vorbei. Karl Lippegaus schreibt den Nachruf auf Kevin Ayers. Alexander Menden gratuliert dem Literaturwissenschaftler Terry Eagleton zum 70. Geburtstag.

Sehr erstaunt blickt Christian Zaschke für die Medienseite in die britische Presse, deren einst legendär galliger Deutschland-Hohn sich mittlerweile (etwa hier) in anerkennende Bewunderung gewandelt hat.

Besprochen werden eine Ausstellung über Herodes den Großen im Israel Museum in Jerusalem und Bücher, darunter Eva Menasses Roman "Quasikristalle" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 22.02.2013

Lorenz Jäger fühlt sich von Wolfgang Kraushaars neuem Buch über den Münchner Anschlag auf die Israelitische Kultusgemeinde nicht nur in alte Haschrebellen-Zeiten zurückversetzt, sondern findet auch literarischen Gefallen an der Veröffentlichung: "Das Panorama, das hier entrollt wird, ist umfassend, auch wenn nicht alle Einzelheiten neu sind. Noch nie wurden die Akteure und die Opfer dieser terroristischen Episode so klar in den Blick genommen". Wie direkt Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel und ihre Haschrebellen in die Morde von München verwickelt waren, lässt sich am Ende nicht hundertprozentig benennen. Jäger mag Kraushaars Beweisführung zwar nicht in allen Punkten folgen, ruft aber die Überlebenden der Zeit - darunter Ulrich Enzensberger - auf, endlich zu sagen, was sie wissen.

Außerdem: Für die Medienseite verfolgte Andreas Kilb eine Anhörung von Presseverlegern im Bundestag, die nun bekanntgegeben haben, dass sie für ihre Online-Aktivitäten kein Geschäftsmodell finden und darum dringend an den Tropf der Leistungsschutzrechte wollen. Hubert Spiegel stapft mit Botho Strauß durch den Schnee einer menschenverlassenen Uckermark, in die sich der Schriftsteller vor zwanzig Jahren zurückgezogen hat. Viel skandalöser als das Pferdefleisch in Fertiggerichten findet Jürgen Dollase die ganz alltäglichen "Überwürzungen und Denaturierungen", mit denen einem der gute Geschmack gründlich ausgetrieben wird. Anke Richter verbringt in Christchurch einen Tag mit der isländischen Sängerin Hera Hjartardottir. Peter Kemper schreibt den Nachruf auf Kevin Ayers. Außerdem druckt die FAZ Auszüge aus Alfred Pringsheims kürzlich aufgetauchten Tagebuchnotizen über Wagners Ring-Proben im Jahr 1876.

Besprochen werden neue CDs, darunter ein Nachlassalbum von Jimi Hendrix, eine Ausstellung über Hilma af Klint im Stockholmer Moderna Museet, die ab Juni auch in Berlin zu sehen sein wird, das Filmmusical "Les Misérables" (Bert Rebhandl steht vor einem "prächtigen Irrläufer des Gegenwartskinos"), eine Ausstellung mit Zeichnungen von Meret Oppenheim im Sprengel Museum in Hannover und Bücher, darunter Eckhard Henscheids "Denkwürdigkeiten - Aus meinem Leben" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).