Heute in den Feuilletons

Dieser außerordentliche Wille zur Kunst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.03.2013. Leider, leider kann die taz der FR nicht so richtig zur Übernahme durch die FAZ gratulieren. Gegenwartstexte müssen kryptisch sein, ruft Diedrich Diederichsen in der Jungle World. Welt und FAZ denken anlässlich des Streits über den Umzug der Berliner Gemäldegalerie über den Sinn von Kunstmuseen nach. Die SZ weiß, warum die Italiener Beppe Grillo wählten. Die Welt besucht die Tillmans-Retrospektive.

FR/Berliner, 01.03.2013

"Die FR bleibt linksliberal", verkündet Claus-Jürgen Göpfert in eigener Sache und beruft sich dabei auf FAZ-Geschäftsführer Tobias Trevisan, der versichert hatte: "Wir respektieren die Demokratie - in einer Demokratie gibt es unterschiedliche Meinungen!" Die von heute an existierende neue Frankfurter Rundschau GmbH gehört zu 55 Prozent der Frankfurter Societät GmbH und zu 35 Prozent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung GmbH, die übrigen zehn Prozent hält die vom früheren FR-Herausgeber gegründete Karl-Gerold-Stiftung: "Die neuen Besitzer bedauerten ausdrücklich, dass so viele FR-Beschäftigte ihre Arbeit verlieren. Es überwiege aber die Freude, 'dass es gelungen ist, die Frankfurter Rundschau zu retten'."

TAZ, 01.03.2013

"Nicht Zeitungen, Verleger sind das Problem" überschreibt Jürn Kruse seinen Kommentar zur Übernahme der Frankfurter Rundschau durch die FAZ: "Die FR wird ab jetzt nur noch eine Hülle sein. Keine ganz so leere wie die Westfälische Rundschau, deren Redaktion von der WAZ komplett geschlossen wurde und die mittlerweile von der Konkurrenz mit Inhalt befüllt wird, aber doch für den Leser kaum noch interessant ist." Wirtschaftlich sinnvoll sei die Übernahme nur für die FAZ, die gegen Weiterbeschäftigung von nur 28 FR-Mitarbeitern im Gegenzug die Abonnentenkartei der FR erhalte.

Timo Reuter informiert über Einzelheiten des Deals und das zukünftige Profil der FR. Zu lesen sind auch einige Stellungnahmen, unter anderem von Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen: "Wenn die Zeitung überlebt, ist das gut; wenn sie wieder lebendig wird, ist das besser; wenn sie unabhängig bliebe, wäre es am besten." Auf der Medienseite liefert Heide Platen noch einen Nachruf und resümiert Entstehung und Geschichte der FR.

Weiteres: Christian Rath unterhält sich mit dem Gesellschafts- und Medienrechtler Rolf Aschermann über die Causa Suhrkamp und lässt sich von ihm "juristisch-nüchtern" erklären, worum es dabei rein rechtlich eigentlich geht. "Amüsiert und entgeistert", weiß Klaus-Helge Donath, seien Russlands Intellektuelle über den neuen russischen Staatsbüger Gérard Depardieu, der sich jetzt auch noch in Tschetschenien herumtreibt und einen großen Film über den Wiederaufbau Grosnys machen will. Er stellt außerdem ein Projekt des Schweizer Theaterregisseurs Milo Rau vor, der in Moskau drei Prozesse gegen kritische Künstler nachspielen lässt; das Besondere daran: "Seine Mitwirkenden sind Protagonisten auch des realen Geschehens gewesen. Selbst randalierende Frömmler sagten ihre Teilnahme zu."

Besprochen wird das Album "New Cross Boy" von Triad God, einem in London lebenden Briten mit chinesisch-vietnamesischen Wurzeln, der auf Kantonesisch und Englisch rappt.

Und Tom.

Jungle World, 01.03.2013

Anlässlich einer Buchveröffentlichung über die ersten 33 Jahre Spex unterhält sich Pascal Jurt ausführlich mit Diedrich Diederichsen. Die legendäre Verschwurbeltheit aus den berüchtigsten Jahrgängen der Popzeitschrift verteidigt Diederichsen auch heute noch mit Inbrunst: "Es war ja die größte Leidenschaft von Spex, auf Verständlichkeit geschissen zu haben - aus unterschiedlichen Gründen. Der Wunsch, Theorie zu machen, war ja nur einer, ein vielleicht stärkerer war Poesie. Sich davon zu distanzieren, heißt natürlich, etwas Entscheidendes zu verpassen. Es wird eher umgekehrt ein Schuh draus. Ich denke ja, dass die 'verständlichen' wie die 'unverständlichen' Texte heute als historische erläuterungsbedürftig sind. Gerade weil Gegenwartstexte kryptisch sein müssen - neue Namen sind geil -, weil man der Gegenwart nur habhaft werden kann, wenn man neue Namen und neue Begriffe entwickelt."
Stichwörter: Diederichsen, Diedrich

NZZ, 01.03.2013

Nach tiefgreifenden Umwälzungen wächst der Musikmarkt wieder, berichtet Max Nyffeler. Während der digitale Anteil rapide zulegt, geht der Verkauf von CDs nur noch leicht zurück - für Nyffeler ein Zeichen, dass die CD "alles andere als ein Auslaufmodell" ist: "Das gilt vor allem für die Klassik, deren Anteil am gesamten Musikmarkt stabil zwischen 7 und 8 Prozent liegt. Einer der Gründe, und nicht der unwichtigste, liegt in der schlichten Tatsache, dass der Käufer ein kulturelles Produkt auch anfassen und betrachten möchte, gerade wenn es noch attraktiv verpackt ist."

Weiteres: Gabriel Katzenstein berichtet von einer Lausanner Ausstellung über das Fenstermotiv von der Renaissance bis zur Gegenwart. Martin Meyer schreibt zum Tod des amerikanischen Pianisten Van Cliburn. Ein Porträt der Editions du Regard schließt die Reihe 7 Pariser Verlage ab. Besprochen werden eine Box mit Aufnahmen von Schubert-Liedern aus den Jahren 1898 bis 2012 und Bücher, darunter Tuvia Tenenboms Studie "Allein unter Deutschen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 01.03.2013

In der Presse fragt Bettina Steiner, welchen Sinn es hat, die Begriffe "Migrationshintergrund" und "Behindertentransport" durch andere Begriffe zu ersetzen, wie es die deutsche Armutskonferenz fordert. Schließlich hatte man erst das Wort "Ausländer" durch "Gastarbeiter" ersetzt, dann sprach man von "Migrant" und schließlich von "Menschen mit Migrationshintergrund" - und ausgerechnet dieser letzte Versuch, einen nicht diskriminierenden Begriff zu finden, "schafft es nun auf die 'Liste der sozialen Unwörter' der deutschen Armutskonferenz: Migrationshintergrund werde nämlich häufig mit einkommensschwach, kriminell und schlecht ausgebildet in Zusammenhang gebracht, so die Argumentation. Sie mutet wie ein Beleg zu Steven Pinkers These an, dass Euphemismen verlässlich von den alten Assoziation eingeholt werden - weshalb in der Folge ein neuer, unverbrauchter Begriff gefunden werden muss, bis der wiederum eingefärbt ist, und so fort. Steven Pinker fand für dieses Phänomen die Bezeichnung 'Euphemismus-Tretmühle'..."

Welt, 01.03.2013

Tim Ackermann berichtet über eine Tagung internationaler Experten über die Zukunft der Berliner Museumslandschaft, auf der Neil MacGregor, Direktor des British Museum in London und hochgelobter Buchautor den Vorteil einer Zusammenlegung von Gemäldegalerie und Skulpturen des Bodemuseums beschrieb: "'In einem Museum für die Kunst des Mittelalters würde niemand auf die Idee kommen, die Gattungen zu separieren', sagte MacGregor. Warum also solle sich diese Haltung ändern, bloß weil man auf der Zeitleiste das Jahr 1500 erreiche? Und weiter in der charakteristisch angelsächsisch-hemdsärmeligen Argumentation: 'Die Menschen besuchen keine reinen Skulpturmuseen. Wir können das bedauern, aber es ist eine Tatsache.'"

Hans-Joachim Müller ist nicht begeistert von der Retrospektive des Fotografen Wolfgang Tillmans im Düsseldorfer Ständehaus. Beim Rundgang entwickelt er einige kluge Gedanken, warum das so ist: "Wie Tillmans Bilder beides sein wollen, Weltzugang und Welt selber, das macht den Charme und die Intelligenz seines Ausstellungslayouts aus. Und es weist ihm zugleich seine Grenzen. ... Man kann die visuelle Wirklichkeit nur bestehen, wenn man scharf einstellt und wegblendet, wenn man wählt und gewichtet. Nur die Kunst tut so, als könne sie es besser. Und das ist es, was in den Tillmans-Präsentationen auch so deprimiert, dieser außerordentliche Wille zur Kunst."

Weitere Artikel: Der Germanist Alan Kirkness protestiert gegen die Einstellung der Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuchs: Er möchte von einer internationalen Kommission untersuchen lassen, ob das "Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache" wirklich den Grimm ersetzen kann. Marco Frei schreibt zum Tod des Pianisten Van Cliburn. Hollywood kauft die Rechte an "Kokowääh", Bradley Cooper soll die Rolle von Til Schweiger spielen, meldet mit leicht hochgezogener Oberlippe Hanns-Georg Rodek. Thomas Schmid, selbst ehemaliger FAZ-Mitarbeiter, hat fast Mitleid mit der FR, die jetzt von der FAZ übernommen wird, die die FR immer ignoriert hatte: "Die FAZ war zwar nie so illiberal, wie man links immer meinte. Der Hochmut gehörte aber fast zur Grundausstattung des FAZ-Mitarbeiters: Elite und Corps."

Besprochen werden Michael Hammons Dokumentarfilm "Gold" über drei Sportler auf ihrem Weg zu den Paralympics und der letzte Band von Alan Moores "Jahrhundert"-Comictrilogie.

FAZ, 01.03.2013

Die Medienseite der FAZ ist ganz dem Leistungsschutzrecht gewidmet, das heute in einer weichgekochten Schmalspurversion im Bundestag zur Abstimmung steht. Dass all die mühsame Lobbyarbeit fast umsonst war, stimmt Michael Hanfeld sehr griesgrämig: "Aus der 'Lex Google' ist eine 'Lex Garnix' geworden", schimpft er und tut die Gefahr von Massenabmahnungen ab: "Aufgrund seiner Unbestimmtheit - Wie kurz sind kurze Texte? - könnnte es in der Tat eine Klagewelle bewirken, doch wären die Verlage dumm, würden sie gegen Gott und die Welt juristisch zu Felde ziehen." (So wie FAZ und SZ, die fünf Jahre lange den Perlentaucher durch die Gerichte schleiften?)

Der Jurist Till Kreutzer skizziert unterdessen den historischen Verlauf der "Politposse", die heute zu ihrem vorläufigen Ende kommt. Er konstatiert: "Das LSR ist nicht nur völlig überflüssig, sondern es wird Schaden anrichten. Auch in Form der leeren Hülle, die am Ende übrig geblieben ist. Jahrelang werden sich Gerichte mit der Frage beschäftigen müssen, was 'kleinste Textteile' sind, wie viel genau übernommen werden darf und von wem. Solche Rechtsunsicherheit behindert Innovationen, gerade im dynamischen und noch jungen Online-Sektor. Am Ende verdienen nur Abmahnanwälte."

Im Feuilleton schreibt Andreas Kilb zur internationelen Tagung, die sich mit dem geplanten Umzug der Gemäldegalerie zu den Skulpturen des Bodemuseum befasste. Neil MacGregors Argument, es sei einfach zeitgemäß, Gemälde mit anderen Kunstwerken zu mischen und so "Erlebniswelten" zu erschaffen, mag Kilb nicht folgen. Dies sei bereits Aufgabe der Kulturgeschichtsmuseen: "Das Einzelwerk ist dabei nur ein Glied in der Beweisführung. Rembrandts 'Nachtwache' wäre, kulturhistorisch betrachtet, ein typisches Beispiel repräsentativer Militärmalerei aus der Zeit der holländisch-englischen Seekriege. Dagegen spricht nichts - außer der Tatsache, dass die 'Nachtwache' auf diese Weise hinter ihrer Typik verschwindet, dass sie buchstäblich unsichtbar wird."

Weitere Artikel: Melanie Mühl erforscht die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den Städten und Provinzen Griechenlands. Constanze Kurz blickt sorgenvoll in eine Zukunft, in der die Menschen weltweit von funktionierenden Google-Brillen abhängig sind. Jürgen Dollase stattet dem neuen Berliner Waldorf Astoria unter Starkoch Pierre Gagnaire einen Besuch ab. Gerhard Rohde schreibt den Nachruf auf den Pianisten Van Cliburn.

Besprochen werden neue Schallplatten, darunter ausführlicher eine neue Kassette mit Anton Bruckners Symphonien, Michael Hammons Dokumentarfilm "Gold", die Ausstellung "Letzte Bilder" in der Schirn und Bücher, darunter Franz Hohlers "Der Geisterfahrer" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 01.03.2013

Die SZ befasst sich mit den kulturhistorischen Wurzeln des italienischen Wahldebakels. Burkhard Müller deutet das Wahlergebnis als Folge dessen, dass Italien seit dem Untergang des Römischen Reichs bis ins 19. Jahrhundert von Ausländern kontrolliert war: "Nur dort kann der Komiker eine Hauptrolle in der Politik spielen, wo Macht traditionell Fremdherrschaft bedeutet und wo die demokratisch-nationale Vorstellung, dass wir in unseren Machtstrukturen doch zuletzt uns selbst begegnen, keinen historischen Rückhalt besitzt."

Lothar Müller liest unterdessen nach, welchen exotischen Reiz der italienische Hang zur burlesken Komödie und Gaukelei seit dem 18. Jahrhundert auf interessierte deutsche Beobachter ausübte. Henning Klüver hat neue italienische Bücher von Beppe Grillo gelesen.

Außerdem: Jens Bisky gibt nach einer Tagung zum Berliner Museumsstreit Entwarnung: "Die Empörung des Sommers kann abklingen ... Sollte ein Umzug beschlossen werden, dann wird er erst dann beginnen, wenn der Neubau errichtet ist", zentrale Forderungen von Jeffrey Hamburger seien damit erfüllt und berücksichtigt. Theologe Friedrich Wilhelm Graf spürt Josef Ratzingers theologischen und philosophischen Wurzeln nach. Helmut Mauró schreibt den Nachruf auf den Pianist Van Cliburn.

Auf der Medienseite berichten Silke Bigalke, Caspar Busse und Katharina Riehl über die Übernahme der FR durch die FAZ: "Etwa 300 FR-Mitarbeiter aus Druckerei, Redaktion und Verwaltung verlieren ihren Job. Druck und Verlag übernimmt die FAZ. Nur 28 der insgesamt 65 Redakteure werden noch gebraucht, sie ziehen in den kommenden drei Monaten um ins Haus des Konkurrenten. Von dort sollen sie mithilfe einer großen Zahl freier und geliehener Mitarbeiter und Autoren die FR weiterhin so aussehen lassen wie bisher. Das wird die neuen Eigentümer wohl deutlich weniger kosten als die alten." Was sagt Schirrmachers Ego dazu?

Besprochen werden der britische Copthriller "The Crime", ein Abend zu Ehren Frederick Ashtons am Royal Ballet in London und Bücher, darunter Mo Yans "Frösche" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).