Heute in den Feuilletons

Abgekoppelt-anomische Arbeitslosigkeit andererseits

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2013. In der Welt bespricht Necla Kelek das Buch Semiya Simseks über den Mord an ihrem Vater und die traumatisierenden Pannen bei den Ermittlungen zu den NSU-Morden. In der taz jongliert Chefapokalyptiker Harald Welzer mit Europa-, Klima-, Finanzkrise. Ebenso Vizechefapokalptiker Wolfgang Streeck in der FR. Überchefapokalyptiker Frank Schirrmacher hatte wohl frei, und darum erzählt in der FAZ Andrzej Stasiuk etwas von seiner Großmutter. Und in der Abendzeitung macht Joseph von Westphalen aus Mangel Kunst.

Welt, 09.03.2013

Mit Betroffenheit liest Necla Kelek das Buch Semiya Simseks über den Mord an ihrem Vater, die Morde an anderen Türken, die Fehlermittlungen der Polizei und die Pannen, die selbst noch weitergingen, als endlich klar war, dass die Morde durch eine neonazistische Terrorgruppe begangen worden waren. Der im Nachwort des Buchs erhobenen Forderung von Simseks Anwälten, im NSU-Prozess generell mit dem Rassismus in Deutschland abzurechnen, hält Kelek allerdings den Wunsch entgegen, man möge genauso die seit 1995 über 200 sogenannten Ehrverbrechen in der muslimischen Gemeinschaft ächten: "Denn bei den radikalen Neonazis wie Salafisten sind ideologische, religiöse, kulturelle, ethnische Identitäten für ihre Weltsicht maßgebend. Diese Szenen setzen in unterschiedlicher Weise auf eine kollektive Gemeinschaft - hier Umma, da Volksgemeinschaft. Sie identifizieren sich über ihre Gruppenzugehörigkeit, fordern Gruppenrechte ein. ... Faschistische und islamistische Gruppen ähneln sich in der Überhöhung und Absolutierung der eigenen Herkunft oder Weltanschauung, der Abgrenzung gegen Andersdenkende oder Ungläubige, dem Feindbild, der Durchsetzung der Ziele auch mit Gewalt, dem Prinzip Gehorsam und Unterwerfung."

Weitere Artikel in der Literarischen Welt: Fritz J. Raddatz liest Hemann Kurzkes Büchner-Biografie. Tilman Krause bespricht Christa Wolfs nachgelassenes Buch "Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert". Besprochen werden außerdem Hilary Mantels neuer Roman "Falken" sowie Tony Judts und Timothy Snyders Essay "Nachdenken über das 20. Jahrhundert" (keineswegs unkritisch eingeschätzt von Walter Laqueur).

Im Feuilleton wirft Lisa Rüffer einen Blick auf die von den Feuilletons wenig beachtete Unterhaltungsliteraturindustrie, in der Autorinnen wie Julia Kröhn unter verschiedenen Pseudonymen verschiedene Genres bedienen - vom Familien- bis zum Vampirroman. Freia Peters zeichnet die Debatte um die Südtiroler Band Frei Wild nach. Und Manuel Brug geht mit dem venezolanischen Kontrabassist Edicson Ruiz essen, der sein Instrument in der pädagogischen Massenmusikbewegung "El Sistema" lernte und inzwischen Solist bei den Berliner Philharmonikern ist.

NZZ, 09.03.2013

Japanische Unternehmen ziehen sich aus China zurück, der Tourismus und der Kulturaustausch zwischen China und Korea einerseits und Japan andererseits kommen zum Erliegen, erzählt Hoo Nam Seelmann, die in dem Länderdreieck immer größere Spannungen ausmacht: "Diese Streitigkeiten vermögen große Emotionalität zu entfachen, weil ihr historischer Ursprung auf die imperialistische Phase der japanischen Geschichte zurückgeht. Die Konflikte um die unscheinbaren kleinen Inseln besitzen darum neben dem wirtschaftlichen auch einen hohen symbolischen Wert. Denn Korea und China waren Opfer des verheerenden japanischen Militarismus."

Weitere Artikel: In einem kleinen Feuilleton-Essay wendet sich Uwe Justus Wenzel gegen die unter Internetfreunden "grassierende Transparenz-Idee". Der Historiker Ahlrich Meyer will in der von amerikanischen Historikern als Sensation genannten Zahl von 42.500 Lagern unter den Nazis keine neue Qualität erkennen.

In Literatur und Kunst begibt sich Roman Hollenstein auf einen Streifzug durch das architektonisch immer ambitioniertere Singapur. Der Architekturtheoretiker Kenneth Frampton sagt uns im Gespräch mit Carsten Krohn den klimabedingten Untergang voraus.

Besprochen werden Bücher, darunter Ralph Dutlis Roman "Soutines letzte Fahrt" und eine vierbändige Werkausgabe des russischen Avantgardisten Daniil Charms (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 09.03.2013

Für den Soziologen Wolfgang Streeck ist in der seit fünf Jahren anhaltende Wirtschaftskrise keineswegs Linderung abzusehen und Deutschland darin ohnehin noch eine "Insel der Seligen", wie er Michael Hesse im Gespräch für die FR/Berliner Zeitung erklärt. In den Passagen, in denen er den sich mehr und mehr herauskristallierenden Ausnahmecharakter des Wachstumskapitalismus beschreibt, gerät man fast schon ins Frösteln: Die Krise "ist der bisherige Höhepunkt eines langfristigen Trends, der um die Mitte der 1970er-Jahre als Folge des zurückgehenden Wachstums begann. In der Wendezeit zerbrach das internationale Währungssystem und die alte Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems kehrte auf überraschende Weise zurück. ... 1945 begann, was man heute als Ausnahmeperiode erkennt. Damals war es erstmals möglich, demokratische Politik und kapitalistische stabil miteinander in Einklang zu bringen."

TAZ, 09.03.2013

Peter Unfried trifft sich mit dem Sozialpsychologen Harald Welzer von der Stiftung Futurzwei, der das Ende von Kapitalismus und Wachstum am Horizont sieht, weshalb er die Grünen in dieser Situation für besonders problematisch hält, "weil sie 'nach ihrem eigenen Selbstbild diejenigen sind, die für Veränderung stehen und das Rezeptwissen dafür haben'. Haben sie aber nicht. Der Green New Deal, das Versprechen eines nachhaltigen Wachstums, ist für Welzer maximal illusionistische Politik. Weil das, was an Effizienz gewonnen wird, sofort in Mehrproduktion umgesetzt wird und also innerhalb der Wachstumslogik relativ bleibt. Für ihn ist Postwachstum zwingend: weniger Autos, nicht mehr 'grüne' Autos."

Außerdem: Julius Müller-Meiningen unterhält sich mit dem Journalisten Gianluigi Nuzzi, der geheime Dokumente aus dem Vatikan veröffentlichte, über Josef Ratzingers Amtsrücktritt. Julian Weber plaudert sehr entspannt mit dem Musiker Devendra Banhart, dessen neues Album "Mala" man hier in voller Länge hören kann. Matthias Lohre denkt auf der Couch beim gemeinschaftlichen "Mad Men"-Schauen mit seiner besten Freundin über die Herausforderungen des heutigen Mannes nach. Andreas Hartmann recherchiert ausgiebig im Berliner Singlemilieu. Außerdem führen Christel Burghoff und Edith Kresta durch aktuelle Reiseliteratur - mit besonderem Augenmerk auf die Unterschiede im Schreiben zwischen Autorinnen und Autoren.

Die Nord-Ausgabe der taz bringt zudem Heinrich Dubels fünften und abschließenden Teil über die frühe Hannoveraner Punkszene.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von Stefan Löffelhardt in der Berliner Galerie Aurel Scheibler und Bücher, darunter Cathi Unsworths Thriller "Opfer", von dem wir hier eine Leseprobe finden (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 09.03.2013

Joseph von Westphalen erklärt in seiner Abendzeitungskolumne, wie es möglich ist, nicht in Berlin zu leben- zum Beispiel in München: "Verschwommene Neidgefühle und das Fehlen eigener Größe und nationaler Bedeutung gleicht man aus mit Spott und Selbstironie. So macht man aus Mangel Kunst: ein Gedicht, ein Lied, einen Regieeinfall. Freud nannte das Sublimieren. So entsteht Kultur. Auch fern von Berlin."

FAZ, 09.03.2013

Regina Mönch singt eine kleine Hymne auf den Flughafen Tegel, auf dem jährlich 18 Millionen Passagiere abgefertigt werden, obwohl er nur für drei Millionen gebaut wurde und dessen Anwohner - viel mehr Leute als je um Schönefeld - nicht bei jedem Startgeräusch mucken.

Und Andrzej Stasiuk singt im Gespräch mit Marta Kijowska eine kleine Hymne auf seine Großmutter, die auf dem Lande lebte: "Sie konnte wirklich fabelhaft erzählen. In dem Dorf, in dem sie lebte, gab es in den sechziger Jahren noch keinen Strom, wenn die Nachbarn also zusammenkamen, wurde viel erzählt. Und in den Geschichten meiner Oma vermischte sich die Welt der Menschen mit dem Reich der Geister."

Weitere Artikel: Kerstin Holm geht den Hintergründen des Säureattentats auf den Ballettchef des Bolschoi Sergej Filin nach. Oliver Jungen berichtet vom Auftakt der Lit.Cologne. Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit dem Intendanten des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, der die "Verantwortungsgemeinschaft" der "Qualitätsmedien" beschwört.

Besprochen werden eine Franz-West-Retro in Wien und Bücher, darunter Schriften des Vaters von Georg Büchner, Ernst Büchner (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Mathias Mayer ein Gedicht Durs Grünbeins vor - "Teekanne mit Khakifrüchten:

Wenn am Nachmittag die Phasen des Schweigens
Länger werden als im Winter die Schatten (...)"

Der FAZ liefert heute außerdem eine 26-seitige Literaturbeilage aus, die wir in den nächsten Tagen auswerten. Aufmacher ist die Besprechung von Ernst-Wilhelm Händlers neuem Roman "Der Überlebende" (mehr hier). "Das Buch verändert unseren Blick auf die Welt", behauptet Sandra Kegel. Meike Fessmann sieht's im heutigen Tagesspiegel dann doch ein bisschen nüchterner.

SZ, 09.03.2013

Diedrich Diederichsen hält Rückschau auf David Bowies Glanzperiode, die er mit dem 1980er Album "Scary Monster" beendet sieht. Auch das neue Album ändert an dieser Einschätzung nichts: "Bowie erinnert sich an das Prinzip der Buntheit, durch das sein Figuren-Panorama ihm damals erlaubte zu glänzen. Dies war aber auch eine graue Zeit, eine Zeit der Normalität. Ob eine bipolar uffjeregte Epoche wie die jetzige - gekennzeichnet durch Überarbeitung und emotionale Überforderung einerseits und abgekoppelt-anomische Arbeitslosigkeit andererseits - einen Künstler der farbigen Hitzigkeit braucht, ist eher fraglich."

Weitere Artikel: Katharina Nickel spürt in einem online ungewohnt reich verlinkten Artikel den Mutationen des "Harlem Shake"-Netzmems nach. Egbert Tholl spricht mit Wagner-Regisseur Dieter Dorn über dessen "Ring"-Inszenierung in Genf. Andrian Kreye hat die große TED-Konferenz in Kalifornien besucht und dort allerlei Vorträge über mögliche Zukunftsentwürfe gehört. Zwar von ihm nicht näher erwähnt, aber in Kreyes Blog verlinkt ist dabei auch Amanda Palmers (mehr) sehr schöner Vortrag über die Kunst, die eigenen Fans um Hilfe zu bitten (von der auch der Perlentaucher ein Liedchen singen kann):



Besprochen werden Werner Herzogs laut Reinhard J. Brembeck im Gegensatz zu "dessen kantigen Filmen ... unspirierte" Inszenierung von Verdis "I due Foscari" an der römischen Oper (Enttäuschung auch beim Deutschlandfunk), Sam Raimis Fantasyfilm "Die fantastische Welt von Oz", eine Adaption von Thomas Bernhards "Untergeher" am Schauspiel Graz und James Fenimore Coopers erstmals in vollständiger Übersetzung vorliegender "Letzter Mohikaner" (hier eine schöne Online-Reproduktion des Originals), dessen "große Geschichte von der Verwandlung der Welt durch das Geld" Thomas Steinfeld sehr begeistert (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende nehmen einige SZ-Autoren schon mal geistig Abschied von Facebook. Helmut Martin-Jung verteidigt die computergestützte Typografie gegen ihre Kritiker und unterhält sich zu diesem Zweck auch mit dem Schriftgestalter Albert-Jan Pool. Fritz Göttler klopft die Film- und Literaturgeschichte auf Szenen mit Spurenlesern ab (dass er dabei aus dem koreanischen Regisseur Hong Sang-Soo einen Hang Song-Soo gemacht hat, bleibt dem spurenlesenden Perlentaucher-Auge indessen nicht verborgen). Die beiden Historiker Constantin Goschler und Michael Wala bringen einen Zwischenbericht zu ihren Forschungsarbeiten über NS-Kontinuitäten beim Verfassungsschutz. Willi Winkler trifft sich unterdessen mit Jeremy Irons auf ein Gespräch über Ruhm.