Heute in den Feuilletons

Ganz großes Senioren-Tennis

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.04.2013. Der Spiegel setzt seine beiden Chefredakteure ab, meldet die Welt. Außerdem begrüßt Necla Kelek Shereen el Fekis Buch über Sexualität in der arabischen Welt. Die NZZ betrachtet Tod und Auferstehung der Ana Mendieta im Castello di Rivoli. Die SZ zieht die Richter im Münchner NSU-Prozess an den Ohren und sitzt selbst einem Hoax auf. Die FAZ betrachtet japanische Künstler der Gruppe Gutai bei der Entfesselung der Materie. In FR/Berliner Zeitung fürchtet Filmemacher Edgar Reitz die Tücken der Digitalisierung. Die taz berichtet, dass jeder dritte ungarische Student rechtsextrem wählt.

Welt, 06.04.2013

Der Spiegel trennt sich offenbar von seinen beiden Chefredakteuren Mathias Müller von Blumencron (Online) und Georg Mascolo (Print). Die beiden sollen zerstritten gewesen sein, schreibt Kai-Hinrich Renner: "Strittig war zwischen beiden beispielsweise, ob Teile von Spiegel Online kostenpflichtig werden sollten. Mascolo war dafür, Müller von Blumencron dagegen. Ausschlaggebend für die beabsichtigte Trennung ist wohl, dass der Dauerstreit zwischen Mascolo und Müller von Bumencron eine vernünftige Verzahnung von Print und Online unmöglich machte."

Individualität muss sich heute über den Tod hinaus beweisen, stellt Eckhard Fuhr fest, der neuen Formen der Bestattungskultur nachgeht: "Der Stress hört nicht auf. Innerhalb nur einer Generation hat sich das überschaubare Set von Beerdigungsritualen verflüssigt, neue Optionen kommen hinzu. Statt dass er sich demütig dem Überkommenen überlässt, muss der moderne Mensch über das Sterben hinaus beweisen, dass er der Meister der eigenen Biografie ist. Das kann einen schon überfordern."

Weiteres: Richard Kämmerlings meldet Strauß-Stress im Grass-Haus. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des amerikanischen Filmkritikers Roger Ebert. Stephan Hoffmann berichtet über eine Heidelberger Tagung, die sich mit dem Publikumsschwund bei klassischen Musikfestivals auseinandersetzte. In seiner Feuilletonkolumne schreibt Marc Reichwein über "V wie Vorwärts". Peter Zander bittet Tatort-Kommissar Devid Striesow zu Tisch. Besprochen wird Sebastian Baumgartens Inszenierung von Webers "Freischütz" in Bremen.

Im Aufmacher der Literarischen Welt bespricht Necla Kelek mit großer Anerkennung Shereen el Fekis Buch über Sexualität in der arabischen Welt, "Sex und die Zitadelle" (Leseprobe): "Das Buch bietet erstmals eine große Zahl von neuen Informationen aus einer für Fremde verschlossenen Welt. Es ist ein großes Verdienst der Autorin, dass sie eine Öffnung in die Mauer des Schweigens geschlagen hat und vor allem den Muslimen Material an die Hand gibt, um aus dem Schweigen herauszutreten und die eigene Haltung zu reflektieren."

Weiteres: Büchner-Biograf Hermann Kurzke stellt einen Band mit Briefen vor, die Hedwig Pringsheim an ihre Tochter Katia unter Hitler schrieb. Einige der Briefe sind auch abgedruckt. Feridun Zaimoglu spricht mit Ulrich Wickert über die Liebe, über Deutschland und darüber, wie er die deutsche Sprache lernte. Besprochen werden u.a. die Giacometti-Biografie von Michael Peppiatt, Christian Hallers Roman "Der seltsame Fremde" und Jens Rostecks Biografie der Edith Piaf.

Weitere Medien, 06.04.2013

Anders als seine "Heimat"-Serie hat Edgar Reitz seinen neuen, bald in Cannes aufgeführten Film "Die andere Heimat" explizit fürs Kino gedreht, erklärt der Regisseur Daniela Kloock im Gespräch für die FR/Berliner Zeitung. Dafür griff er nicht nur aufs breiteste aller Breitwandbildformate zurück, sondern auch die Möglichkeiten digitaler Filmproduktion, um Kontraste und Grauwerte des Schwarzweißfilms präzise kallibrieren zu können. Mit dem Mythos von der Vereinfachung des Filmdrehs durch digitale Technik räumt er allerdings entschieden auf: Diese "erfordert am Drehort sogar zusätzliches Personal, das man früher bei Filmkameras nicht brauchte. ... Eine Digital-Kamera produziert gewaltige Datenmengen, die jeden Tag gesichert werden müssen. Wenn da etwas verloren geht, ist das viel schlimmer als vorher beim Film. Denn die Daten verschwinden spurlos. Und das ist der größte Schock, den wir als Künstler in der heutigen Zeit erleben."

(Via Performance Today) "Olana" by Kyle Gann, performed by Brad Meyer:


Stichwörter: Reitz, Edgar, Filmproduktion

TAZ, 06.04.2013

Ralf Leonhard spricht mit ungarischen Universitätsprofessoren, darunter Agnes Heller, die von Rechtsextremisten drangsaliert werden, ohne dass Uni und Regierung entschieden dagegen einschreiten: "Die rechtsextreme Studentenselbstverwaltung HÖK, die der faschistischen Jobbik-Partei nahe steht, ist schon dadurch aufgefallen, dass sie Listen von Studierenden angelegt hat, auf denen der eine oder andere schon mal als 'hässlicher Judenkopf' oder "Scheißliberaler" gebrandmarkt wird. Die HÖK ist zwar inzwischen verboten worden, doch ihr Gedankengut scheint weiter in den Köpfen der Studierenden herumzugeistern. Das legt eine Umfrage nahe, wonach die rechtsextreme Jobbik an den Unis zur beliebtesten Partei geworden sei. Jeder dritte ungarische Student will sie das nächste Mal wählen."

Außerdem unterhält sich Andreas Fanizadeh mit dem deutsch-irakischen Autor Abbas Khider. Sonja Vogel sagt noch mal alles Nötige über den Hipster. Und Esther Slevogt schreibt den Nachruf auf den viel zu jung verstorbenen Theaterschauspieler Sven Lehmann. Besprochen werden einige Bücher, darunter Bethan Roberts' Dreiecksgeschichte "Der Liebhaber meines Mannes" und Hans-Ulrich Wehlers Essay "Die neue Umverteilung".

Auf der Meinungsseite fürchtet der Demokratieforscher Franz Walter, dass "Agonie droht", denn "beide Großentwürfe der Wirtschaftspolitik, Monetarismus und Keynesianismus" seien vollends gescheitert.

Und Tom.

NZZ, 06.04.2013

Im Feuilleton stellt Caroline Kesser anlässlich einer Ausstellung im Castello di Rivoli bei Turin die kubanisch-amerikanischen Künstlerin Ana Mendieta vor, eine Pionierin der Body- und Land-Art, deren Kunst oft um Tod und Auferstehung kreiste: "Dabei gelingt ihr immer wieder ein wunderbares Gleichgewicht zwischen Untergangs- und Auferstehungsvisionen, mithin von Dramatik und Poesie. Wie etwa in der Serie, in der schäumendes Wasser blutbedeckte menschliche Einbuchtungen im Sand überspült. Mendieta geht auch mit Feuer über ihre Silhouetten und verwandelt sie in äscherne Gräber. Das Reinigende des Feuers, seine Kraft und Schönheit kommen vor allem in Aufnahmen einer Figur aus einem Feuerwerk zum Ausdruck. Mit ihren ausgebreiteten Armen hat die brennende Gestalt etwas von einem Engel, der im Flug auf die Erde verglüht."

Hier ihr "Chicken Piece" von 1972 mit einem sterbenden Huhn:



Weitere Artikel: Wei Zhang porträtiert Chinas neue First Lady Peng Liyuan: "Als Starsängerin verkörperte sie das Frauenideal der postkulturrevolutionären Ära." Graham Swift ist schlaflos. Klaus Bartels denkt über den Begriff "Homo-Ehe" nach.

In Literatur und Kunst schreibt Angelika Affentranger-Kirchrath zum Motiv des Fensters im Werk von Pierre Bonnard (rechts eine Lithografie aus der Serie "Maison dans la cour") . Der Arzt Michael Hurni und die Kulturvermittlerin Diana Segantini untersuchen den Tod des Malers Giovanni Segantini, der 1899 an einer Blinddarmentzündung oder vielleicht doch an einer Bleivergiftung auf dem Schafberg starb. Till Fellner schreibt über die Musik in den Filmen von Luis Buñuel. Ludger Lütkehaus stellt den frühaufklärerischen Asienforscher Engelbert Kaempfer vor.

Besprochen werden Bücher, darunter der "elektrisierende" Roman "Die Schwerelosen" der mexikanischen Autorin Valeria Luiselli und Kyung Sook Shins Roman "Als Mutter verschwand" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 06.04.2013

Sehr verärgert ist Heribert Prantl über das Münchner Oberlandesgericht, das beim Akkreditierungsverfahren zum NSU-Prozess zunächst nach dem Prinzip "Wer zuerst kommt" vorgegangen ist, um sich dann nach dem erwartbaren Ärger hinter Paragraphen einzuigeln, als gelte es die Unabhängigkeit der Justiz zu verteidigen: Doch "wer unabhängig ist, der muss Kritik hören, wägen, sie mit sich und den Kolleginnen und Kollegen erörtern. Unabhängigkeit ist nicht das Recht auf den Elfenbeinturm."

"Rinnjefall"n" sagt man dazu in Berlin: Die Süddeutsche räumt ein, bei ihrem gestrigen Gespräch mit Oliver Bienkowski von einer vermeintlichen Werbeagentur, die mit einem Trupp Obdachloser gekaufte Shitstorms konzertiert, einer langfristig geplanten, auf die Spitze getriebenen Satire aufgesessen zu sein. Hier löst Bienkowski das beeindruckende Mediahacking auf und erklärt: "Obdachlose Menschen und das grassierende Wohnungsproblem in deutschen Städten sollten noch mehr ins Tageslicht und so auf die Titelseiten gerückt werden."

Außerdem: Der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer betrachtet das Verhältnis zwischen Jean Paul und der Weimarer Klassik um Goethe und Schiller, für die ersterer ein "unverbesserlicher Sonderling" war. Jonathan Fischer spricht mit Manny Ansar über das von diesem mitgegründete Festival au Désert in Mali, das derzeit schwer von Islamisten drangsaliert wird. Joachim Hentschel lauscht auf dem neuen Album von James Blake "dem weichen Gleiten der Maus, dem Streicheln des Touchscreens, dem sachten Druck der Laptoptasten" (hier kann man auszugsweise mitlauschen). Susan Vahabzadeh schreibt den Nachruf auf den Filmkritiker Roger Ebert (mehr in diesem internationalen Pressespiegel).

Besprochen werden ein "Onkel Wanja" an den Münchner Kammerspielen (Christine Dössel beobachtet "Ganz großes Senioren-Tennis"), der französische Film "Ein freudiges Ereignis" und eine Giacometti-Schau in der Hamburger Kunsthalle.

In der SZ am Wochenende porträtiert Tim Neshitov den russischen Mathematikrebell Grigorij Perelman, der Auszeichnungen und hochdotierte Berufsangebote ausschlug, um sich stattdessen für eine karge Eremitenexistenz zu entscheiden. Tobias Matern stellt die tölpelhafte Witzfigur Nasrudin aus der afghanischen Folklore vor, die sich derzeit neuer Beliebtheit erfreut. Außerdem lässt sich Kristin Rübesamen von Devid Striesow die entspannende Wirkung vom Atmen durch nur ein Nasenloch erklären.

FAZ, 06.04.2013

Patrick Bahners stellt die japanische Künstlergruppe Gutai vor, die sich 1954 um den Erben einer Speiseölfabrik bildete und auf jede Tradition verzichten wollte. Ihr ist gerade eine Ausstellung im Guggenheim Museum in New York gewidmet: "Alle bisherige Kunst sei eine Betrügerei gewesen; willkürlichen Ideen von Form und Sujet zuliebe seien die Eigenschaften der Stoffe - Farbe, Textilien, Metall, Erde, Stein - unkenntlich gemacht worden. Das Programm von Gutai - der Name wird mit 'das Konkrete', gelegentlich auch mit 'Verkörperung' übersetzt - war die Entfesselung der Materie in der spontanen Aktion."

Ein begeisterter Dirk Schümer stellt das nach zehn Jahren Umbauarbeiten wiedereröffnete Rijksmuseum vor. Irene Bazinger schreibt zum Tod des Schauspielers Sven Lehmann. Günther Rühle schreibt zum Tod des Literatur- und Theaterkritikers Rolf Michaelis. Verena Lueken schreibt zum Tod des amerikanischen Filmkritikers Roger Ebert. Annette Riedhammer spricht in einem sehr unsentimentalen Interview über ihren Vater, den Cartoonisten Manfred Schmidt ("Nick Knatterton").

Auf der Medienseite berichtet Konrad Schuller über die polnische Kritik an der Fernsehserie "Unsere Mütter, unsere Väter" (hier die Kritik von Adam Krzeminski im Perlentaucher). Und Markus Bickel berichtet über die Anklage gegen den ägyptischen Satiriker Bassem Youssef, dem "Hass auf den islamischen Glauben und Verhöhnung religiöser Praktiken" vorgeworfen wird.

Besprochen werden eine Retrospektive zum Werk von Harry Callahan im Hamburger Haus der Photographie (links "Atlanta", eine Farbfotografie von 1943) und Bücher, darunter Ulrike Edschmids Roman "Das Verschwinden des Philip S." (Leseprobe) und Kinderbücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Marie Luise Knott ein Gedicht von Elisabeth Kulmann vor:

"Gekämpft hat meine Barke

Gekämpft hat meine Barke
Mit der erzürnten Fluth.
Ich seh' des Himmels Marke,
Es sinkt des Meeres Wuth.
..."