Heute in den Feuilletons

Propaganda des Glücks

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2013. Heute schauen wir der Welt beim Leiden unter Deutschland zu. Die Welt erinnert an den größten Horror im Leben Margaret Thatchers: Saumagen essen mit Helmut Kohl. Die Deutschland-Ausstellung im Louvre sorgt nach wie vor für Streit. Im Louvre muss man sich als Gast nun mal unterordnen, findet die SZ. Die Zeit ist entsetzt über Giorgio Agamben, der eine Abkehr der "lateinischen" Länder von Deutschland fordert. Die FAZ bringt ein Gespräch mit der New Yorker Avantgardefilm-Legende Jonas Mekas. Im Guardian wendet sich der Moskauer Patriarch Kirill I. gegen die Pseudo-Freiheit der Frauen. Die taz staunt über die Unbedenklichkeit der Niederländer im Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus.

TAZ, 11.04.2013

Ingo Arend besichtigt das wiedereröffnete Rijksmuseum in Amsterdam und kritisiert den Umgang mit dem kolonialen Erbe. "Denn bei keinem der japanischen Kimonos, Buddhastatuen oder dem chinesischen Porzellan, für die ein eigener Pavillon gebaut wurde, findet sich ein Hinweis auf die Provenienz der kostbaren Objekte. Geschweige denn auf das Wirken der Ostindien-Kompanie, die im Auftrag des Staates die Kolonien in Übersee ausbeutete. Wenigstens mit einer symbolischen Geste Bußbereitschaft für diese Epoche der niederländischen Geschichte zu demonstrieren - so katholisch wollten die Hüter des nationalen Kulturerbes dann doch wieder nicht sein."

Weitere Artikel: Dominik Kamlazadeh porträtiert Jonas Mekas, Autor, Archivar, Filmemacher und der große alte Mann des US-amerikanischen Avantgardefilms. Christoph Zimmermann berichtet über einen Streit über Ausgrabungsarbeiten und den Bau des Jüdischen Museums in Köln, bei dem jetzt auch die Antisemitismuskeule geschwungen werde. Ophelia Abeler schreibt aus New York über den Brooklyner Prospect Park, "eine Familien-, Hundebesitzer-, Picknicker- und Birdwatcher-Oase". Daniel Schulz hat jetzt schon Mitlied mit dem nächsten Chefredakteur des Spiegel.

Besprochen werden die Dokumentation "Georg Baselitz" von Evelyn Schels und der neue Film von Sally Potter "Ginger & Rosa".

Und Tom.

Weitere Medien, 11.04.2013

Patriarch Kirill I., Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, findet den Feminismus sehr gefährlich, berichtet im Guardian Miriam Elder. "'I consider this phenomenon called feminism very dangerous, because feminist organisations proclaim the pseudo-freedom of women, which, in the first place, must appear outside of marriage and outside of the family,' said Patriarch Kirill, according to the Interfax news agency. 'Man has his gaze turned outward - he must work, make money - and woman must be focused inwards, where her children are, where her home is,' Kirill said."

Inzwischen gibt es einige Diskussionen über die Proteste von Femen, die kürzlich barbrüstig vor Putin protestierten und vor einer Moschee in Berlin, um auf die Situation von Amina Tyler aufmerksam zu machen, die in Tunesien bedroht wird, weil sie mit nackten Brüsten gegen den Tugendterror der Islamisten demonstriert hat (Bild, hier die Übersetzung). Die Femen-Demo vor der Moschee fand Kübra Gümüsay in der taz rassistisch: "Der 'Topless Jihad Day' mag zwar als Solidaritätsakt für Amina Tyler und andere Frauen, die sich gegen das islamische Wertesystem auflehnen, gestartet sein. Letztlich reiten die Femen-Frauen aber nur erfolgreich auf antiislamischen Ressentiments, gebrauchen rassistische und islamophobe Stereotype und vor allem: Sie zeigen jenen muslimischen Frauen, die sich seit Jahrzehnten für Frauenrechte in islamischen Ländern einsetzen, den großen Mittelfinger." In der FR/Berliner Zeitung findet heute Christian Schlüter die Femen-Aktionen zwar im Prinzip gut, im Konkreten möchte er aber doch unterschieden wissen: gegen den Papst ist "einfach passend", gegen den Islam "offenkundiger Unsinn". Im Guardian fragt dagegen Jonathan Jones: "Why does this activist for freedom not deserve the same support the Arab spring got? Or is freedom only worth supporting when there is no possible conflict with Islam implied by all the romantic Arabist rhetoric?"

NZZ, 11.04.2013

Das Centre Pompidou ehrt die in Irland geborene Designerin und Architektin Eileen Gray (1878-1976, links ihr "Transat Chair" von 1930) mit einer Retrospektive, die Marc Zitzmann wegen kuratorischer Mängel allerdings nicht vorbehaltlos empfehlen kann: "Die Schau ist sauber, aber phantasielos gestaltet. Sie folgt brav der Chronologie, lässt aber keinen eigenen Blick auf Grays Werk erkennen. Vor allem jedoch knausert sie mit Informationen: Die Einführungstexte der sieben Kapitel sind alles, was der Besucher zu lesen bekommt. Kein einziges Exponat begleiten auch bloß ein paar monografische Zeilen - bezeichnenderweise auch nicht im Katalog. So entgehen Nichtspezialisten viele Zusammenhänge."

Weiteres: Urs Hafner berichtet von einer Ausstellung mit biblischen Raritäten in der Stiftsbibliothek St. Gallen, Joachim Güntner von einer Schau zur Cranach-Presse in Weimar. Besprochen werden die Filme "Paradies: Liebe" von Ulrich Seidl (den Christoph Egger "trostlos, aber - wie stets bei Seidl - auf einer verqueren Ebene höchst unterhaltsam" findet) und "Wadjda" von Haifaa Al-Mansour sowie Bücher, darunter Valter Hugo Mães Roman "Das Haus der glücklichen Alten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 11.04.2013

Endlich gibt es Möbel, die über eine Smartphone-App ihre Farbe wechseln, wenn man sie nicht mehr sehen kann, meldet das Designblog Dezeen in einem Bericht von der Mailänder Möbelmesse. Entworfen wurden die Möbel von Ron Arad: "In a blink, a beautiful block of green-veined marble is transformed into a rich shade of gold. At the touch of a button, a spectacular restaurant transitions from its winter theme to spring."

Welt, 11.04.2013

Sehr kenntnisreich beschreibt London-Korrespondent Thomas Kielinger auf der Forumsseite das so ganz und gar nicht harmonische Verhältnis zwischen Margaret Thatcher und Helmut Kohl: "Die Sightseeingtour, zu der Helmut Kohl sie einmal nach einem Zweiergipfel in Speyer einlud, mit anschließendem Saumagen-Essen in Kohls Haus in Oggersheim, war für die Britin eine Tortur. Entnervt seufzte sie auf dem Heimflug gegenüber Botschafter Mallaby: 'Christopher, dieser Mann ist so deutsch!'"

Im Feuilleton gibt Henryk Broder eine sarkastische Empfehlung für Jakob Augstein als Chefredakteur des Spiegel ("Und sei es nur, um Schlimmeres zu verhüten"). Tilman Krause mag sich über die gebildeten französischen Deutschlandklischees, die in der aktuellen Deutschland-Ausstellung des Louvre exhumiert wurden, nicht erregen.

Besprochen werden der Science-Fiction-Film "Oblivion" mit Tom Cruise, Evelyn Schels Porträtfilm über Georg Baselitz und eine Ausstellung mit Manets Porträts in der Londoner Royal Academy.

SZ, 11.04.2013

Für eine sehr lesenswerte Reportage auf der Seite drei hat Cathrin Kahlweit die Universität in Budapest besucht, wo sich unter den jüdischen Mitgliedern des Kollegiums nach jüngsten antisemitischen Ausfällen und wenig Rückendeckung durch das akademische Leben Resignation breit macht. Hier der Anfang: "Die unselige Sache mit dem Aufkleber will er möglichst schnell vergessen. 'Juden: Die Universität gehört uns, nicht euch', hatte jemand auf das Namensschild neben seinem Büro geklebt; unterschrieben mit 'Die ungarischen Studenten'. Wie ein Etikett für Marmeladengläser oder Aktenordner hatte das Papier ausgesehen. Das Etikett für György Peter: Jude. Den Flur hinunter, ein paar Zimmer weiter, neben der Tür der Philosophin Agnes Heller der gleiche Sticker, der gleiche Schmutz. György Peter, der das Medienwissenschaftliche Institut an Ungarns größter und renommiertester Hochschule leitet, will darüber nicht sprechen."

In Frankreich gefeiert, in Deutschland - zum Entsetzen der Kuratorin Danièle Cohn - mit Befremden bis offener Ablehnung wahrgenommen: Die Louvre-Ausstellung über Kunst aus Deutschland belastet das zuletzt ohnehin ausgekühlte deutsch-französische Geistesleben. Joseph Hanimann seziert im Feuilleton die Geschichte eines Missverständnisses, das sich in Form von Verschnupfungen seitens des deutschen Mitveranstalters bereits im Vorfeld der Ausstellung abzeichnete: Mit seinen Vorstellungen "ist Andreas Beyer mit dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte aufgelaufen. Er hätte wissen müssen, dass man so eine Institution als kleine, wenn auch feine Gastinstitution nicht nach seinen eigenen Vorstellungen umstimmen kann. Er hätte möglicherweise die Konsequenzen ziehen und aussteigen müssen. Stattdessen wollte er bis zuletzt im Strahlenglanz des großen Museums bleiben und macht nun seine Enttäuschung öffentlich, indem er ein knappes Jahr vor seinem Amtsende vor allem schlecht über den Louvre redet." (Die Kritiker in FAZ und Zeit gaben ihm allerdings recht.)

Weitere Artikel: Ex-Bundesinnenminister Gerhart R. Baum bemängelt den von der UNO garantierten Schutz von Menschenrechtsverteidigern in Russland. Helmut Mauró stellt den russischen Pianisten Denis Matsuev vor, der in Russland und den USA unter teils haarsträubenden Bedingungen Aufnahmen eingespielt hat. Jörg Häntzschel schreibt den Nachruf auf den Architekten Paolo Soleri.

Besprochen werden Tom Cruise' neuer Science-Fiction-Film "Oblivion", ein auf den Architekturtagen in München gezeigter Film über Eduardo Souto de Moura, die Retrospektive Franz West im Museum Moderner Kunst in Wien und Bücher, darunter Jochen Schmidts Roman "Schneckenmühle" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 11.04.2013

Ein schönes, ausführliches Gespräch hat Stefan Grissemann mit der New Yorker Avantgardefilm-Legende Jonas Mekas, dem das Wiener Filmmuseum derzeit eine Retrospektive widmet, geführt (siehe etwa auch dieses Porträt im Standard). Darin erfährt man nicht nur einiges über die mangelnde Deadline-Disziplin von Siegfried Kracauer, sondern auch über Mekas' Selbstverständnis: "Ich fühle mich oft wie ein Anthropologe: Ich suche nach jenen Momenten, die einer fremden Zivilisation einmal erklären können, was die Menschen gemacht haben, wie sie sich in alltäglichen Situationen verhielten. Ich suche nach Dingen, die wir alle tun, auf der ganzen Welt: Menschen reagieren etwa sehr ähnlich, wenn sie ein Geschenk erhalten - mit Vorfreude, Erregung und Dankbarkeit. ... Meine Arbeit ist Propaganda des Glücks."

Diese Youtube-Playlist versammelt einige Eindrücke aus Mekas' Werk:



Weitere Artikel: Deutschland soll sich von der Austeritätspolitik verabschieden und in Eurobonds investieren, notiert Hannah Lühmann beim Vortrag des Großinvestors George Soros im übervollen Vorlesesaal der Frankfurter Goethe-Universität (ausführlicher dazu das Handelsblatt). Bert Rebhandl schreibt den Nachruf auf den Dokumentarfilmemacher Les Blank. Außerdem ist ein Kapitel aus William T. Vollmanns bald in deutscher Übersetzung erscheinendem Roman "Europe Central" abgedruckt.

Besprochen werden Sally Potters neuer Film "Ginger & Rosa", eine kleine, rund um Kafkas "Mäuse-Brief" angeordnete Schau im Marbacher Literaturarchiv, eine Moskauer Bühnenadaption von Iwan Bunins Erzählung "Mitjas Liebe" und Bücher, darunter Hedwig Pringsheims gesammelte Briefe an Katia Mann (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 11.04.2013

Im Feuilleton geht es um Ressentiments und aktuelle Verwerfungen zwischen Deutschland und Frankreich. Michel Crépu fasst noch einmal die Kontroverse um die Louvre-Ausstellung über deutsche Kunst zusammen und rät, den unzulässig simplifizierenden Audioguide in der Seine zu versenken - ohne das "vermaledeite Gerät" ist die Ausstellung durchaus differenziert. Thomas Assheuer berichtet von einem Essay über das Ende Europas, in dem Giorgio Agamben auf Alexandre Kojèves Idee eines empire latin zurückgreift: "Schwer zu glauben, aber es ist so: Ohne Wenn und Aber empfiehlt Agamben die Lektüre des Memorandums, es sei wieder aktuell, und man ahnt, was ihn daran besonders interessiert: Nämlich Kojèves Behauptung, das lateinische Reich habe eine lebendige Kultur, das protestantische Deutschland hingegen - als Brückenkopf Amerikas - nur tote ökonomische Rationalität. Anders gesagt: Frankreich hat Kultur. Deutschland nur Zivilisation."

Weiteres: Ijoma Mangold unterhält sich mit dem amerikanischen Schriftsteller William T. Vollmann, seinem Übersetzer Robin Detje und seinem Fan Clemens Setz darüber, wie man ein Meisterwerk schreibt. In seiner Spiegel-Replik auf Adolf Muschgs offenen Brief bringt Hans Barlach einen Mitgesellschafter ins Gespräch, "der von beiden Gesellschaftern die Mehrheit erwirbt", meldet Adam Soboczynski und fragt sich: "Ist Barlach Strohmann?" Benedikt Erenz schreibt den Nachruf auf den Zeit-Feuilletonisten Rolf Michaelis. Hanno Rauterberg plädiert für Baugenossenschaften als Mittel gegen Gentrifizierung und Mietwucher. Daniel Nehm porträtiert den Avantarde-Filmemacher Jonas Mekas und empfiehlt die Retrospektive im Wiener Filmmuseum. Magdalena Hamm meldet, dass aus der Casting-Show "The Voice Kids" mehr Kinder rausfliegen, als im Fernsehen gezeigt wird.

"Endlich wieder mal ein echter Poproman", freut sich Rainald Goetz über Joachim Bessings "untitled" und wundert sich: "Wo bleiben die Hymnen, die großen Rezensionen?" (In der Zeit gab es vor vier Wochen übrigens einen Verriss.) Besprochen werden außerdem Barbara Freys Inszenierung von Ferenc Molnárs Drama "Liliom" am Wiener Burgtheater, Joseph Kosinkis Endzeit-Film "Oblivion" (den Ursula März "eher putzig als bedrohlich" findet), die schwedische TV-Serie "Real Humans" und Bücher, darunter Benoît Peeters" monumentale Derrida-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Vor dem Beginn des NSU-Prozesses am kommenden Mittwoch erklären dreißig Persönlichkeiten - Politiker, Künstler, Juristen und Intellektuelle -, was sie "aus dem NSU-Schock gelernt" haben. Das Dossier befasst sich mit dem Unterstützernetzwerk der Terroristen: Christian Fuchs und Daniel Müller porträtieren den mitangeklagten André Eminger und seinen Zwillingsbruder Maik, der auf seinem Hof im Brandenburg in einer Nazi-Idylle wie aus einem deutschen Fernsehfilm lebt. Özlem Topçu schildert den Fall des ebenfalls angeklagten Carsten S., der dem NSU-Trio die Mordwaffe verschaffte und anschließend mit der Neonaziszene brach.

In der Wirtschaft porträtieren Alina Fichter und Götz Hammann den abberufenen Spiegel Online-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron. Und es gibt eine neue Rubrik: eine Fußball-Seite. In der ersten Ausgabe unterhält sich Cathrin Gilbert mit Dortmunds Shootingstar Mario Götze.