Heute in den Feuilletons

Die alte Bombe der Gedankenlosigkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2013. Die Zeit veröffentlicht in Auszügen einen offenen Brief des Louvre-Chefs Henri Loyrette, der sich gegen Kritik am düsteren Deutschlandbild seiner Ausstellung "De l'Allemagne" wehrt. Die Welt wendet sich gegen die deutsche Parole "Gemeinnutz geht vor Eigennutz". Im Freitag erzählt das  Kairoer Medienkollektiv Mosireen, wie es das Internet auf die Straße brachte. Indiewire leakt (oder fälscht) die Liste der Wettbewerbsfilme von Cannes. In Paidcontent erklärt Alan Rusbridger, warum der Guardian keine Paywall einführt: Wegen der BBC. In der SZ schlägt Adam Krzeminski eine deutsch-polnische Großproduktion vor.

Welt, 18.04.2013

Recht skeptisch kommentiert Richard Herzinger die aktuellen Quoten- und "Wir"-Diskurse in der Politik, die das Individuum seiner Gruppe unterordnen wollen: "Gerade in Deutschland mit seiner tiefsitzenden Tradition der Skepsis gegenüber 'auflösendem' und 'atomisierenden' Individualismus und Liberalismus, die in der berüchtigten Parole 'Gemeinnutz geht vor Eigennutz' kulminierte, herrscht dabei noch immer die Vorstellung vor, der heilsbringende Weg zu einer humaneren Gesellschaft bestehe in dem vom Ich zum Wir."

Fürs Feuilleton haben die versammelten Redakteure einen Gesprächsband des neuen Papstes gelesen, in dem dieser auch seine Lieblingskunstwerke bekanntgibt - zu denen unter anderem die das Diesseits feiernde Verfilmung von "Babettes Fest" gehört. Thomas Schmid berichtet enttäuscht von einer Diskussion zwischen Madeleine Albright, die ihre Memoiren vorlegt, und Joschka Fischer in Berlin, bei der dieser als psalmodierender Weltendeuter auftrat: "düster, alternativlos und recht freudlos". Mathias Heine äußert sich äußerst unzufrieden über den ins Internet gestellten Nachfolger des Grimmschen Wörterbuchs. Manuel Brug schildert Verwerfungen in Pina Bauschs nachgelassener und in Wuppertal gehegter Truppe, die nun durch eine neue Leitung beendet werden sollen.

Besprochen werden zwei neue Filme mit Jeanne Moreau und Barbra Streisand, der Film "Das Leben ist nichts für Feiglinge " mit Wotan Wilke Möhring und eine durch Deutschland tourende Choreografie Laurent Chétouanes.

Weitere Medien, 18.04.2013

Andreas Mix erinnert in der Jüdischen Allgemeinen an den Aufstand im Warschauer Ghetto vor siebzig Jahren: "Als die Warschauer Juden am Vorabend des Pessachfestes am 18. April 1943 bemerken, dass SS- und Polizeikräfte mitsamt ihren 'fremdvölkischen Hilfskräften' vor dem Ghetto aufmarschieren, ahnen sie, was ihnen bevorsteht. Anders als im Sommer 1942 sind sie auf den Angriff vorbereitet."

NZZ, 18.04.2013

"Mausarm" war Monaco, als es 1848 sein Hinterland verlor, weiß Roman Hollenstein und referiert den anschließenden Aufstieg und architektonischen Wandel des Fürstentums, den eine Doppelausstellung (historische Projekte in der Villa Sauber, moderne Projekte in der Villa Paloma) zur Zeit dokumentiert: "Die inspirierenden Exponate wiegen mehr als die mangelnden Informationen. So nimmt man denn den Zwergstaat nach den Ausstellungsbesuchen ganz neu wahr: als ein Labor des europäischen Städtebaus. Denn wo sonst ist auf zwei Quadratkilometern mehr Anregendes gedacht und realisiert worden als in Monaco?"

Markus Bauer berichtet vom Streit um den Auftritt Rumäniens bei der Pariser Buchmesse. Viele Autoren und Intellektuelle, darunter Filip Florian, Mircea Cartarescu, Gabriel Liiceanu, Andrei Plesu, Neagu Djuvara und Lucian Dan Teodorovici, hatten aus Protest gegen den populistischen Präsidenten der Rumänischen Kulturinstituts (ICR) Andrei Marga abgesagt. "Statt die Situation zu beruhigen, nutzte Andrei Marga die Website des Instituts zu Beschimpfungen der widerspenstigen Intellektuellen als 'Pappfiguren'. Florian, einem der erfolgreichsten jungen Autoren mit Übersetzungen in zahlreichen Ländern, wurde wieder einmal der absurde Vorwurf gemacht, sein Erfolg basiere allein auf der Unterstützung der früheren ICR-Leitung."

Besprochen werden die Filme "Beyond the Hills" von Cristian Mungiu (den Christina Tilmann als "eine lange, langsame, unvergessliche Zeitreise in archaische Welten" beschreibt) und "Kon-Tiki" von Joachim Rønning und Espen Sandberg (dem Christoph Egger "einen gewissen Hollywood-Touch" zuspricht) sowie Bücher, darunter Rosa Pocks Prosaband "wir sind idioten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Freitag, 18.04.2013

Das Kairoer Medienkollektiv Mosireen erklärt im Interview mit Vera Tollmann, wie es das Internet während der Revolutionstage unters Volk brachte: "Um den öffentlichen Raum zu besetzen, ist körperliche Präsenz vonnöten, und im Fall des Tahrir-Kinos bedeutet es, Bilder zurück auf die Straße zu bringen. Die ersten Straßenvorführungen, die wir organisiert haben, fanden während des Sit-ins im Juli 2011 statt. Die meisten der Archiv-Aufnahmen, die dabei gezeigt wurden, waren Rohmaterial, das von Leuten aufgenommen worden war, die aktiv an den Aktionen auf der Straße teilgenommen hatten."

TAZ, 18.04.2013

Luise Silbermann berichtet über das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln, das in einem Exploitation-Special unter anderem einen Einblick in das Werk von Doris Wishman gab, die "billige, schmutzige, kleine Filme" gedreht hat: "Wishmans 'Deadly Weapons' wäre ein guter Anlass, eine feministische Perspektive auf Sexploitation zu diskutieren. Diese Debatte fand in Dortmund leider nur beim Frühstückssmalltalk statt. Denn die Autorität über den Diskurs des Abends wurde vom Frauenfilmfestival leichtfertig an den - typischerweise mit postpubertären Jungs besetzten - Gelsenkirchener Filmclub Buio Omega übergeben, dessen Vertreter sich dafür mit einer launigen Abhandlung aus Fanperspektive bedankten."

Hier eine Doku über Wishman:



Weitere Artikel: Jürn Kruse meldet Spannungen zwischen ARD und ZDF. Sonja Vogel berichtet über eine Buchvorstellung in Berlin, wo die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright ihre Kinheitserinnerungen "Winter in Prag" vorstellte. Daniela Zinser traf die schwedische Bestsellerautorin Viveca Sten, deren viertes Buch "Mörderische Schärennächte" gerade auf Deutsch erscheint.

Besprochen werden die Ausstellung "His Masters Voice" im Dortmunder U, in der es um politische Propaganda, Zensur und Diktatoren-Rhetorik geht, Moussa Toures Spielfilm "Die Piroge" über eine Gruppe von Westafrikanern und ihren Versuch, im Fischerboot nach Spanien zu kommen, ferner der erste, im Exil entstandene Film des kurdisch-iranischen Regisseurs Bahman Ghobadi "Jahreszeit des Nashorns" und die DVD von David Hares subtilem Politthriller "Die Verschwörung - Verrat auf höchster Ebene" von 2011.

Und Tom.

Aus den Blogs, 18.04.2013

Ein Fake? Ein Leak? Indiewire präsentiert die recht plausibel klingende Liste der Filme des Wettbewerbs von Cannes mit Filmen von Nicolas Winding Refn, Arnaud Desplechin, Claire Denis, Asghar Farhadi und mehr...

Aus den Blogs, 18.04.2013

Alan Rusbridger vom Guardian erklärte auf einer Konferenz von paidcontent.org, warum er eine Paywall für den Guardian ablehnt - und begründet es mit der BBC: "'In Britain you have the BBC which employs something like 8,000 journalists. So if you are going to go behind a paywall up against the BBC and ITN and Sky News, that is quite a big thing to do, you have to be very confident that what you're producing is really excellent, because all of that is going to remain free forever,' Rusbridger (pictured left) observed. 'And the BBC is probably the best news organization in the world, [the] most comprehensive. So it would be a big statement in the UK to try and go and charge for what the BBC is giving away free' - not to mention the number of other digital publishers giving away their content free of charge, he added."

Zeit, 18.04.2013

Die Debatte um "Deutschland, die verhasste Macht" wird fortgesetzt. Thomas E. Schmidt skizziert die zunehmenden anti-deutschen Tendenzen und stellt fest: "Ein Containment, die Einhegung der deutschen Hegemonialität, ist nur auf jenen Feldern möglich, auf die sich die deutsche Herrschaft noch nicht erstreckt, also in der Kultur und der Öffentlichkeit." Henri Loyrette, der scheidende Präsident des Louvre, verteidigt in einem Brief an Giovanni di Lorenzo (in Auszügen in Le Figaro abgedruckt) die umstrittene Louvre-Ausstellung über deutsche Kunst zwischen 1800 und 1939: "Unserer Ansicht nach beweist die Ausstellung, dass der durch den Konflikt von 1914 bis 1918 herbeigeführte Bruch, der ja auch von den Künstlern erlebt wurde, es unmöglich macht, irgendeine Kontinuität zwischen romantischen Prämissen und einem daraus entstandenen Nationalsozialismus herzustellen." Loyrette sagt dem Figaro überdies, dass er von den Vorwürfen in der Zeit "überrascht und tief betroffen gewesen" sei und dass ihn die "offen frankophoben Aussagen schockiert" hätten.

Lob für Deutschland gibt es hingegen von dem Ökonom Nassim Taleb, der sich mit dem Bestseller-Autor Rolf Dobelli über die Finanzkrise unterhält: "Deutsche finanzieren ihre Urlaube nicht über die Kreditkarte. (...) Übrigens gibt es eine interessante Dichotomie zwischen katholischen und nichtkatholischen Ländern Europas: Die Katholiken, die über Jahrhunderte aus religiösen Gründen Kredite bekämpft haben, haben in den letzten Jahren besonders stark zugeschlagen. Irland, Spanien, Portugal, Italien sind von Schulden 'besoffen'. Es ist, als hätte man Abstinenzler in eine All-Inclusive-Bar gesteckt."

Weitere Artikel: "Die Gerichtsbarkeit der Türkei funktioniert als Rachejustiz", stellt Michael Thumann angesichts des Blasphemie-Urteils gegen den Pianisten Fazil Say fest: "Im Vordergrund der Urteile in der Strafjustiz stehen Mundtotmachen, Heimzahlen und Wegsperren." Ulrich Greiner berichtet von der Eröffnung des neuen Musiktheaters in Linz, die mit der Uraufführung der Oper "Spuren der Verirrten" von Philip Glass nach dem Stück von Peter Handke begangen wurde. Nina Pauer widmet dem israelischen Sänger Asaf Avidan ein großes Porträt. Hanno Rauterberg fragt sich angesichts aktueller Ausstellungen in Paris, London, Los Angeles und anderswo: "Kehrt die Transzendenz zurück in die Kunst?" Michel Houllebecqs Gedichtband "Configuration du dernier rivage" ruft in Frankreich einhellige Begeisterung hervor, meldet Iris Radisch (hier die Kritik aus Liberation). Alexander Cammann gratuliert der Zeitschrift Lettre International zum 25. Jubiläum.

Besprochen werden Felix van Groeningens Drama "The Broken Circle" (ein "großer, erschütternder Film", findet Franz Dobler), Andrea Breths Frankfurter Inszenierung von Ibsens "John Gabriel Borkman" und Bücher, darunter Karen Lauers Neuübersetzung von James Fenimore Coopers Roman "Der letzte Mohikaner" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 18.04.2013

In Rumänien protestieren Intellektuelle gegen Andrei Marga, den neuen Chef der internationalen rumänischen Kulturinstitute, berichtet Dirk Schümer. So sagten die meisten Schriftsteller ab, als Rumänien zum Ehrengast des Pariser Salon du Livre ernannt war. "Die anhaltenden Vorwürfe gegen Andrei Marga, ausgerechnet als Anwalt der Landeskultur vergifte er das kulturelle Klima und überziehe seine Gegner mit Hasskampagnen, dürften diesen Funktionär mit Wurzeln im Personenkult Ceauşescus nicht irritieren. Denn Marga, der interessanterweise enge familiäre Bindungen zur deutschen Minderheit in Siebenbürgen hat, gut Deutsch spricht und vieles zur deutschen Geistesgeschichte publizierte, verkörpert zunehmend die postdemokratische Wende der rumänischen Politik und Kultur".

Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet über Margaret Thatchers Trauerzug. Darunter steht ein Auszug aus T.S. Eliots Gedicht "Little Gidding", dem letzten der "Vier Quartette", die Thatcher sich im Programm abgedruckt wünschte.

Hier liest sie Eliot selbst:



Mark Siemons meldet, dass sich in China mittlerweile Parteiführer wie Blogger auf Thatcher einigen können. Carolin Weidner sieht auf dem Internationalen Frauenfilmfestival in Dortmund exzessive Filme. Hans-Jörg Rother resümiert das goEast-Festival in Wiesbaden. Timo John inspiziert die neue Stadthalle in Reutlingen.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Zeichnungen von F. W. Bernstein im Caricatura-Museum in Frankfurt, Bahman Ghobadis Film "Jahreszeit des Nashorns", eine Daumier-Ausstellung im Max Liebermann Haus in Berlin und Bücher, darunter ein prächtiger Bildband mit Renate von Mangoldts Literatenporträts (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 18.04.2013

Für Adam Krzeminski von der polnischen Zeitschrift Polityka zeigt sich nach einem Warschauer Gesprächsabend mit Helmuth Caspar von Moltke und Andrzej Pilecki aufs Neue die Dringlichkeit eines deutsch-polnischen Austauschs, insbesondere nach den entgeisterten Reaktionen auf die ZDF-Produktion "Unsere Mütter, unsere Väter": "Ausgerechnet in dem Moment, in dem Warschau Berlin die Stange hält, platzte im deutschen Fernsehen die alte Bombe der Gedankenlosigkeit. ... Daher ein Vorschlag: Wie wäre es mit einer deutsch-polnischen Großproduktion 'Warschau 1944' (...), die die Stimmungen im polnischen Teil der Stadt und im deutschen Viertel wiedergibt, Vorlagen dafür gibt es zuhauf. Das ist das ZDF Deutschen wie Polen schuldig. Und dann lasst uns gemeinsam 'Breslau 1945' verfilmen."

Weitere Artikel: Burkhard Müller beobachtet im nach Generalüberholung neueröffneten Mathematisch-Physikalischen Salon in Dresden unter anderem erste Versuche, "dass eine Maschine dem Menschen das Denken abnimmt". Jan Füchtjohann lässt sich von Slavoj Zizek die Ideologie in Blockbusterfilmen erklären. Die Klassiker des europäischen Autorenfilms überantwortet der slowenische Philosoph allerdings der cinephilen Müllhalde: "Die sind so naiv, die könnten wir getrost vergessen." Volker Breidecker hat die 1. Internationale Donau-Kulturkonferenz besucht, wo über die integrative und verbindende Kraft von Kultur gesprochen wurde. Jens Bisky informiert sich in der neuen Ausgabe des Mittelweg über politische Ökonomie.

Besprochen werden Andrés Muschiettis Horrorfilm "Mama", Dan Mazers als romantische Komödie getarnter "fieser Film" "I give it a year", das Videospiel "Bioshock Infinite" und Bücher, darunter Robert Schindels Roman "Der Kalte" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).