Heute in den Feuilletons

Ziemlich nackt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2013. In der taz feiert György Dalos das revolutionäre Umdenken. In der Welt gratuliert David Wagner Aldi zum Jubiläum. In der NZZ singt Miriam Meckel ein Liebeslied an das Buch. In der SZ versucht der Schriftsteller Dogan Akhanli zu verstehen, warum er in der Türkei schon wieder angeklagt wird. Die FAZ stellt den russischen Autor Sergej Lebedew vor, der die Gulag-Toten nicht der Natur überlassen will. Und Gawker meldet, dass drei Emiratis aus Saudiarabien abgeschoben wurden, weil sie zu hübsch sind.

TAZ, 19.04.2013

Der ungarische Schriftsteller György Dalos, bis 1968 Mitglied der Ungarischen KP, erinnert sich an die deutschen Exachtundsechziger, die in den achtziger Jahren nach Osteuropa reisten und von einer Welt ohne Eisernen Vorhang träumten. In seinem "kleinen Loblied auf den politischen Irrtum" kommt auch der jüngst verstorbene bekennende Ex-Maoist Christian Semler vor. "Was ich als die größte geistige und moralische Leistung von Leuten wie Christian Semler betrachte, war die Umschaltung ihrer revolutionären Energien auf die Solidarität mit den osteuropäischen Bürgerbewegungen. Wie schwer so etwas sein kann, wissen nur die Menschen, welche die Transformation ihres Denkens aus eigener Kraft und im inneren Zwist mit dem eigenen Verratsverdacht durchgemacht haben."

Weitere Artikel: Simone Kaempf und Sabine Leucht porträtieren zwei junge Regisseure, die zum Nachwuchsfestival "Radikal jung" des Münchner Volkstheaters eingeladen wurden: Daniela Löffner (hier), die schon an vielen Theatern gearbeitet hat, mit ihrer Inszenierung von Maxim Gorkis "Kinder der Sonne", und den türkischstämmigen Bayern Abdullah Karaca (hier), der mit seiner ersten Inszenierung "Arabboy" dabei ist. Gabriele Lesser berichtet über eine Debatte anlässlich des 70. Jahrestags des Warschauer Ghettoaufstands: katholische Polen wollen ein neues Denkmal im ehemaligen Ghetto errichten - für die knapp 7.000 polnischen "Gerechten unter den Völkern", also für sich selbst; das bestehende Denkmal der Helden des Aufstands wird in der Debatte dabei zu einem der jüdischen Selbstmörder umgedeutet.

Und Tom.

Welt, 19.04.2013

Schriftsteller David Wagner gratuliert Aldi zum Jubiläum und besucht zur Feier den Aldi-Markt in Berlin-Pankow: "Alles Aldi wie immer und wie vor 35 Jahren. Nein, stimmt nicht: Die Produkte sehen anders aus, es sind andere. Noch immer aber gibt es die Pseudo-Marken mit ihren schlecht ausgedachten Namen, wirkt wie beim Kaufladenspiel."

Paul Badde berichtet, dass der Papst i.R. Benedikt nicht sehr glücklich ist mit einem Porträt des Malers Michael Triegel, das gestern (ohne den Ex) im Vatikan vorgestellt wurde ("Ein Prälat in der Botschaft flüsterte, es sehe - neben dem Porträt Leo XIII. aus der Hand Franz von Lenbachs - aus, als habe Benedikt hier die falschen Pillen genommen oder eine missglückte zweiwöchige Cortison-Kur hinter sich"). Hanns-Georg Rodek geht das nun offiziell veröffentlichte Programm des Wettbewerbs von Cannes durch, das stark französisch dominiert ist. Dankwart Guratzsch protestiert gegen städtebauliche Pläne in Worms und in Potsdam.

Besprochen werden eine neue Single der eigens dafür exhumierten Band Black Sabbath, "Peter Pan" von Robert Wilson und CocoRosie im Berliner Ensemble, Cello-Konzerte von Elgar und Carter mit Alisa Weilerstein und ein Bretagne-Krimi.

Auf der Forumsseite wendet sich Marko Martin gegen neu auflebende nationale Stereotype. Und Henryk Broder bewundert die nationale Solidarität der Amerikaner nach dem Anschlag von Boston.

NZZ, 19.04.2013

Miriam Meckel, Professorin für Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, versucht in einem Liebesbrief an das Buch zu ergründen, was dem Lesen durch social reading abhanden kommt: "Mit dir habe ich heute Gesellschaft bekommen. Globale Gesellschaft sozusagen, die uns immer umgibt, wenn wir zusammen sind. Das bringt viel Klarheit, auch Wissen darum, wie die Dinge sind. Aber unsere intimen Momente gehen darin verloren. Kann ich noch so ausschließlich nahe mit dir sein, wenn alle Welt immer bei uns ist?"

Ueli Bernays denkt über die Konjunktur von Zombies in der Pop-Kultur nach und sieht ihre Ursache in der Retromanie: "Der globale Erfolg und die Verankerung in allen Generationen hat dazu geführt, dass Pop heute immer öfter in Konkurrenz zu Vorformen seiner selbst tritt. Die Sedimente des Alten werden dicker, die Oberflächen des Neuen aber immer durchlässiger. So überlagern sich im Retro-Pop diverse Genres und Stile. Und man weiß nie recht: Was ist frisch, was bloß untot?" (Das Bild stammt aus Robert Kirkmans Comicbuchreihe "The Walking Dead" von 2003.)

Weiteres: Wer Marfa, Texas, nur aus Filmen wie "Giganten" oder "No Country for Old Men" kennt, wird überrascht sein, dort mit der Sammlung von Donald Judd "eine der spektakulärsten Sammlungen der amerikanischen Kunst des letzten Jahrhunderts" vorzufinden, meint Andrea Köhler. Hanne Weskott rät zum Besuch der Münchner Ausstellung mit Werken von Jan Brueghel d. Ä.

Aus den Blogs, 19.04.2013

Na bitte, die Gleichberechtigung macht Fortschritte in Saudiarabien, wenn auch in die falsche Richtung. Drei Männer aus den Arabischen Emiraten, die an einem Kulturfestival im saudischen Riyad teilnahmen, wurden von der Religionspolizei gewaltsam entfernt, meldet Neetzan Zimmerman auf Gawker: "'Ein Mitarbeiter des Festivals sagte, die drei Emiratis seien entfernt worden, weil sie zu hübsch seien, und dass die Kommission [für die Verteidigung der Tugend und der Verhütung von Lastern] fürchtete, weibliche Besucher könnten sich in sie verlieben', berichtete die arabischsprachige Zeitung Elaph diese Woche. Die Delegierten aus den Emiraten wurden später in ihre Heimat abgeschoben." Leider gibt es kein Foto als Beleg für die Stichhaltigkeit des Vorwurfs.

Marcel Weiß unterhält sich für sein Neunetzcast mit Andreas von Gunten über seine Idee für Buch & Netz.

SZ, 19.04.2013

Tim Neshitov spricht mit dem türkisch-deutschen Schriftsteller Dogan Akhanli, dem nach zahlreichen von der Türkei verhängten Repressalien nun aus heiterem Himmel ein weiterer Prozess droht: "Ich wurde in der Türkei gefoltert. Ich werde dort bis heute verfolgt und zwar als Mitglied einer Terrororganisation, die es laut den Berichten des türkischen Innenministeriums seit 1993 gar nicht mehr gibt. Ich werde verfolgt, obwohl die Zeugen, die mich belastet hatten, ihre Aussagen längst zurückgezogen haben.... Die Staatsanwälte behaupten, ich hätte innerhalb dieser Terrororganisation den Code-Namen 'Dogan K.', wie K. bei Kafka."

Scheinbar fasziniert und abgestoßen zugleich beobachtet Johan Schloemann die neue dänische Talkshow "Blachman", deren Moderator sich mit einem Gast aus dem kulturellen Leben in einem denkbar kahlen Studio über die Körper vor ihnen stehender nackter Frauen unterhält. Sexismus höheren Grades oder experimentelle Gender-Performancekunst? "Die feministische Betrachtung hat auch dafür sensibilisiert, dass der ausgesetzte weibliche Körper sich gegen den männlichen Blick durchaus immer wieder zu wehren weiß. 'Die Nähe, die durch die Entkleidung des Körpers impliziert wird, stellt gleichzeitig auch eine Distanz dar', schreibt beispielsweise Elisabeth Bronfen. ... Auch wenn die dänische Talkshow hinter solche Dekonstruktion der Geschlechterrollen wieder weit zurückfällt, so ist doch ein Umschlagen ins ungewollte Gegenteil zu beobachten: Die Männer verheddern sich zwischen Betrachtung und Begierde, bis sie am Ende selbst ziemlich nackt dastehen." (Mehr dazu in der Copenhagen Voice)

Außerdem spricht Andrian Kreye mit Jazzer Bob Dorough über Ursprünge und Reiz des Be-Bop. Hier spielt er zusammen mit Doug Smith:



Besprochen werden das neue Album von Phoenix, das Musical "Peter Pan" am Berliner Ensemble, ein Dokumentarfilm über die Nordsee, Kasper Holtens Inszenierung von Berlioz' "Béatrice et Bénédict" am Theater an der Wien, eine Pontormo-Ausstellung im Landesmuseum Hannover und Bücher, darunter Tony Judts postum veröffentliches "Nachdenken über das 20. Jahrhundert" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 19.04.2013

Sabine Berking trifft mit dem jungen russischen Autor Sergej Lebedew, der - ungewöhnlich nicht nur für seine Generation, sondern auch für die Stimmung im Land - die Erinnerung an die GULag-Toten aufrecht erhält: "Bis heute gelten die Millionen Opfer als bedauerlicher Kollateralschaden auf dem Weg in die Moderne und beim Aufstieg zur Weltmacht. ... Im ökonomischen Chaos der neunziger Jahre verdiente er als Jugendlicher Geld damit, in den geschlossenen sowjetischen Minen nach Bergkristallen und seltenen Mineralien zu suchen, die für gutes Geld in den Westen verscherbelt wurden. Dabei sei er auf die traurigen Reste der Lager gestoßen und habe begriffen, dass man die Geschichten erzählen muss, solange sich die Natur die Orte nicht ganz zurückgeholt hat."

Außerdem: Constanze Kurz bekräftigt ihren Wunsch nach einer gesellschaftspolitischen Debatte über die Aufrüstung der Bundeswehr mit Drohnen: Darin gehe es um die Frage, "ob wir den Einstieg in eine Welt voller quasi-autonomer Kampfroboter mitgehen wollen". Karen Krüger ärgert sich über das drohende neue Verfahren gegen Dogan Akhanli: "Es scheint, als habe die türkische Justiz nichts Besseres zu tun, als abgeschlossene Verfahren immer wieder neu aufzurollen." Verena Lueken berichtet von Madeleine Albrights Buchpräsentation in Köln. Kolja Reichert stellt den Künstler Jimmie Durham vor, in dessen Ausstellungen er den Eindruck hat, "sich den Raum mit einigen extrem witzigen Leuten zu teilen". Jeffrey F. Hamburger hofft inständig, dass Hugo van der Goes' Meisterwerk "Anbetung der Könige" auch in der ungewissen Zukunft der Berliner Gemäldegalerie dem Publikum nicht vorenthalten wird. Michael Reinsch porträtiert die einstige Leistungssportlerin und heutige Wissenschaftlerin Karin Büttner-Janz. Verena Lueken kündigt an, dass die FAZ in Zukunft häufiger auf interessante, per video-on-demand erhältliche Filme aufmerksam machen will. Jürgen Dollase genießt im Petit Hôtel du Grand Large auf Quiberon Speisen von teils sensationeller Qualität - und das für unter 24 Euro. Thorsten Gräbe lauscht auf dem neuen Album der Band Iron & Wine deren Selbstmusealisierung. Dazu deren aktuelles, schickes Musikvideo:



Besprochen werden ein Konzert von Gilad Atzmon, Robert Wilsons "Peter Pan" am Berliner Ensemble und Bücher, darunter Claire Keegans Erzählung "Das dritte Licht" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).