Heute in den Feuilletons

Im Getümmel vor dem Strafraum

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2013. Der Economist hat herausgefunden: Es gibt im heutigen China keinen Autor unter 35 Jahren, der nicht im Internet entdeckt wurde. Atemlos verfolgte die NZZ einen Berliner Streit russischer Autoren auf der Suche nach der Erklärung für die Probleme des Landes. In der Berliner Zeitung schimpft Götz Aly auf die Grünen, die Moses Mendelssohn in Berlin keinen Platz geben wollen. Für die FAZ schimmern unter Ferdinand Hodlers Alpen die Farbflächen Rothkos und Newmans.Netzpolitik warnt: die neuen Tarife der Telekom zerstören die Netzneutralität.

Weitere Medien, 23.04.2013

Es gibt im heutigen China keinen Autor unter 35 Jahren, der nicht im Internet entdeckt wurde, berichtet der Economist unter Berufung auf Jo Lusby von Penguin China. "Online-Literaturseiten sind in den letzten zehn Jahren aufgeblüht. Sie bieten eine reichhaltige Grasswurzelalternative zu den staatlichen Verlagshäusern. Während alle Printbücher von vorsichtigen Lektoren und eifrigen Zensoren überprüft werden, werden die Literaturseiten im Internet viel weniger überwacht. Sie arbeiten zwar immer noch hinter dem 'großen Feuerwall', Chinas Internetfiltersystem, das sensible Wörter oder Themen blockiert, aber das schiere Volumen der produzierten Werke kombiniert mit einem Mangel an redaktioneller Übersicht, schafft ein wichtiges Schlupfloch. Auf Seiten wie Rongshuxia zahlen die Besucher in Raten um Geschichten zu lesen. Autoren, die oft gleichzeitig schreiben und posten, können Leserfeedback prüfen und ihre Plots bei der Arbeit anpassen. Innovative Lektoren von Chinas aufkeimenden privaten Verlagshäusern fischen dort nach dem nächsten großen Ding."

Im New Statesman spricht A.L. Kennedy über ihr neues Buch "On Writing" und über ihr Blog: "Ich bin da vielleicht einfach nur predigerhaft - nicht wegen der Menschen, die Schriftsteller werden wollen, sondern wegen der Menschen, die verstehen sollen, was Sprache bewirken kann. Deshalb ziehe ich herum mit meiner Ein-Mann-Show und deshalb habe ich angefangen zu bloggen."

NZZ, 23.04.2013

Scharfe, aber kultivierte Kontroversen erlebte Joachim Güntner bei der Berliner Veranstaltung 'Wohin stürmst du, Russland?', auf der russische Schriftsteller über die Lage in ihrem Land diskutierten, darunter Ljudmila Ulitzkaja und der Nationalbolschewist Zakhar Prilepin: "In heftigem Widerspruch zur siebzigjährigen Ulitzkaja machte er nicht sowjetische Prägungen für Ängstlichkeit und Nostalgie verantwortlich, sondern den Wegfall sozialistischer Sicherheiten und ihren Ersatz durch einen 'sozialdarwinistischen Liberalismus'. Lew Rubinstein wiederum sah im 'religiösen Obskurantismus', der 'wie Schimmel über dem Land' liege, die grösste gegenwärtige Gefahr und stritt mit Wassili Golowanow, den es nicht mehr auf seinem Platz im Publikum hielt, über Existenz und Nichtexistenz obrigkeitlicher Repressionen."

Weiteres: Angela Schader feiert zu Paula Fox' neunzigstem Geburtstag deren großen Roman "Was am Ende bleibt". Barbara Villiger Heilig fühlte sich bei den recht theorielastigen Basler Dokumentartagen wie in einem Pollesch-Stück nur ohne Humor. Der Philosoph Otfried Höffe betont mit Blick auf Brüssel, dass nur Staatsvölker die Legitimation zur Herrschaft besitzen. Hübsch auch die Schlagzeile der NZZ: "Hoeneß im Getümmel vor dem Strafraum".

Besprochen werden eine Inszenierung von Jacques Iberts und Arthur Honeggers Musikdrama "L'Aiglon" an der Oper Lausanne, Thomas Hettches Essayband "Totenberg" und Yves Bonnefoys Gedichte "Streichend schreiben" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 23.04.2013

Isolde Charim vermutet, dass im postindustriellen Kapitalismus keine Karriere mehr vom Tellerwäscher zum Millionär führt: "Im Zeitalter der Singularitäten ist die Währung für Erfolg die Anerkennung." Damian Zimmermann zeichnet nach, wie erfolgreich Daniel Hug die Art Cologne gesundgeschrumpft hat. Jonas Engelmann stellt das kanadische Avantgarde-Label Constellation Records vor.

Besprochen werden Wolfgang Schorlaus 68er-Roman "Rebellen" und Alice Schwarzers Band mit Emma-Texten "Es reicht! Gegen Sexismus im Beruf" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Welt, 23.04.2013

Richard David Precht wettert im Interview gegen unser Schulsystem, wozu er auch ein neues Buch verfasst hat. Marc Reichwein berichtet über eine Tagung zum Thema "TV glokal" in Innsbruck.

Besprochen werden Jan Bosses Inszenierung des "Rigoletto" an der Deutschen Oper Berlin, eine Aufführung von Grillparzers "Ahnfrau" im Kasino des Wiener Burgtheaters, Ulli Lusts Graphic Novel nach Marcel Beyers "Flughunde" und ein Liederabend von Reinhold Beckmann in der Berliner "Bar jeder Vernunft".

Aus den Blogs, 23.04.2013

Empört kommentiert Markus Beckedahl auf Netzpolitik eine neue Tarifstruktur der Telekom, die das eigene Fernsehstreaming glatt durchgehen lässt, während konkurrierende Dienste ein schnelles Netzz nur dann bekommen sollen, wenn sie an die Telekom zahlen: "Man müsse nur eine Kooperation mit der Telekom eingehen, dann werden die Dienste über die Schnellspur zu den Kunden geschickt. Die Deutsche Telekom verletzt massiv die Netzneutralität, die Bundesregierung schaut weg und träumt noch weiter vom Markt, der das schon irgendwie lösen wird."

Weitere Medien, 23.04.2013

Götz Aly schimpft in der Berliner Zeitung über die Kreuzberger Grünen, die sich weigern, eine Staße vor dem Jüdischen Museum nach Moses Mendelssohn zu bennenn, weil er den Nachteil hat, keine Frau gewesen zu sein, und "so lange nur Frauennamen für Straßen vergeben werden sollen, bis ebenso viele Straßen nach Frauen wie nach Männern benannt sind. Basta!? Aber nein, die Partei durchbricht ihre Prinzipien dann, wenn linksradikale Männer wie Rudi Dutschke oder Silvio Mayer auf den Straßenschildern des Bezirks verewigt werden. Ein markiger Agitator bedeutet ihnen viel, ein geistesstarker jüdischer Philosoph nichts." Morgen wird die Bezirksverordnetenversammlung nochmals über die Bennnung beraten. Inzwischen kann man als Bürger hier eine Petition unterzeichnen.

Und nochmal Kreuzberg. Alan Posener beschreibt auf starke-meinungen.de ein leichtes Gefühl des Schwindels und der Fremdheit im altvertrauten Bergmann-Kiez: "Die Läden waren alle für Leute wie mich gemacht: exklusive Schuhe, individuell gebaute Möbel, Öko-Eis und Fairtrade-Kaffee, ein Edelgrieche, spanische Weine, Schaukelpferde, Kochkurse, Kriminalromane. Blonde Kinder hatten den Bürgersteig in Beschlag genommen, und man sprach auf der Straße größtenteils Englisch. Aus dem Kiez war unversehens Prenzlauer Berg geworden, wo es so blond und kinderfreundlich zugeht wie bei Astrid Lindgren in ihren schlechteren Büchern."

FAZ, 23.04.2013



Katharina Rudolph bespricht die Ferdinand-Hodler-Ausstellung in der Fondation Beyeler, die vor allem einen neuen Blick auf sein Spätwerk wirft: "Die späten Landschaften nähern sich in ihren horizontalen, parallelen Farbflächen ohne scharfe Umrisslinien der modernen Abstraktion an. Für Ulf Küster, Kurator der Ausstellung, sind Ähnlichkeiten zur späteren abstrakten Farbfeldmalerei eines Mark Rothko oder Barnett Newman unübersehbar."

Gina Thomas durchleuchtet mit Hilfe neuer Dokumente die Rolle des britischen Historikers Hugh Trevor-Roper, der vor dreißig Jahren den angeblichen Hitler-Tagebüchern Echtheit attestierte, bevor er seine Blamage einsah - offenbar haben ihm der Stern Henri Nannens und die Times von Rupert Murdoch dabei recht übel mitgespielt. Er selbst hat dennoch immer die volle Verantwortung auf sich genommen: "In einem Brief vom 30. Mai 1983 schrieb Trevor-Roper über die Hitler-Tagebücher: 'Jedes rationale Argument sprach gegen die Echtheit, und ich glaubte niemals, dass sie echt sein könnten, aber dann wurde ich durch einen seltsamen psychologischen Zwang bekehrt!'"

Weitere Artikel: Helmut Mayer verzweifelt angesichts der antischwulen Sammelbewegung, die gegen die neue Ehegesetzgebung protestiert, an Frankreich. Mayer schreibt auch den Nachruf auf den Biologen und Philosophen François Jacobs. Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Schauspieler Helmuth Lohner zum Achtzigsten. Edo Reents unterhält sich mit Peter Plate, einst Rosenstolz, heute solo unterwegs. Auf der Medienseite berichtet Reiner Burger kritisch über die Idee des NRW-Medienstaatssekretärs Marc Jan Eumann, öffentlich-rechtliche Förderung auf andere Mediengattungen als nur Rundfunk und TV auszudehnen.

Besprochen werden unter anderem Franz Schrekers "Die Gezeichneten" in Köln, eine Ferdinand-Hodler-Ausstellung in der Fondation Beyeler, Ferdinand Bruckners Dramatisierung der "Marquise von O." in Wien, eine Ausstellung der japanischen Künstlerin Leiko Ikemura in Karlsruhe, eine Arvo-Pärt-CD und Bücher, darunter Torsten Schulz' Roman "Nilowsky" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 23.04.2013

Der Jagd auf die Attentäter von Boston folgt händeringend die Suche nach einem Motiv, schreibt Peter Richter in einem Überblick über erste Deutungsversuche in den USA. Außerdem nutzt Tim Neshitov das Attentat für eine kulturhistorische Erläuterung zum literarischen Topos des kaukasischen Freiheitskämpfers. Jens Bisky muss sich sehr über Berlin-Kreuzberger Grüne wundern, die sich wegen des symbolischen Akts einer Frauenquote bei Straßenumbenennungen (die bei Rudi Dutschke oder Silvio Meier auch keinen störte) gegen die Umbenennung des Platzes vor dem Jüdischen Museum in Moses-Mendelssohn-Platz sträuben: "Wäre nicht den jüdischen Berlinerinnen und Berlinen gegenüber jede symbolische Anerkennung mindestens ebenso gerechtfertigt?"

Besprochen werden Jeanne Moreaus neuer Film "Eine Dame in Paris", Verdis "Rigoletto" an der Deutschen Oper in Berlin, eine Ausstellung über "das Bauhaus in Kalkutta" im Bauhaus Dessau, Terence Kohlers bei der Münchner Ballettwoche aufgeführte "Helden" und Bücher, darunter Michael Köhlmeiers Roman "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).