Heute in den Feuilletons

Zurück ins Kommunardisch-Mädchenhafte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2013. Im Standard plädiert Franzobel ganz klar gegen Arbeit. In der NZZ beteuert der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad: Wenn sich die Syrer die Köpfe einschlagen, dann darum weil der Westen daran schuld ist. In der Welt fragt Hans-Joachim Müller, ob Künstlerinnen benachteiligt werden - und will aber erstmal den Mythos von männlicher Künstler-Grandiosität abschaffen. Die FAZ wirft Daniel Cohn-Bendit vor, seine Archive gesperrt zu haben. Für die SZ fühlte sich Gustav Seibt fremd unter 68ern.Und die HuffPo kommt nun doch noch, meldet kress.de.

NZZ, 29.04.2013

Der syrische Schriftsteller Fawwaz Haddad spricht im Interview mit Angela Schader über die verzweifelte Lage in seinem Land und gibt vor allem dem Westen die Schuld daran: "Die Heuchelei des Westens ist grenzenlos. Am Anfang hörten wir von Obama, die Tage Asads seien gezählt, mittlerweile scheinen sie unendlich zu sein. Es hieß einmal, man wolle Asad einen Strich durch die Rechnung machen, jetzt scheint es, als wolle man der Revolution einen Strich durch die Rechnung machen. Der Westen trägt selbst die Verantwortung, dass so viele Extremisten ins Land kommen. Die Syrer sind heute der Meinung, dass der Westen syrisches Blut an den Händen hat."

Weiteres: Zum 50-jährigem Bestehen des Berliner Theatertreffens huldigt ihm seine frühere Leiterin Iris Laufenberg. Lilo Weber bespricht Christian Spucks Ballettproduktion "Leonce und Lena" im Opernhaus Zürich.

Welt, 29.04.2013

Werden Künstlerinnen benachteiligt? Brauchen wir eine Quote? Obwohl Hans Joachim Müller immer noch eine gewisse Schieflage gerade im Kunstbereich ausmacht, hält er das nicht für die Lösung: Müller stellt großmäulige männliche Künstler wie Georg Baselitz neben die schwedische Malerin Hilma af Klint, die gerade erst entdeckt wird, weil sie festlegte, dass ihre Bilder erst zwanzig Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden: "Die wohlmeinende Rehabilitation, die nun antritt, Hilma af Klint als Klassen-Erste, als geheime Begründerin der abstrakten Kunst zu preisen, handelt doch nur wieder nach dem mythischen Wettbewerbsmodell. Was nottut, wäre endlicher Abschied vom Mythos. Erst wenn er als Geschäftsgrundlage dekonstruiert, wenn die unsterbliche Erzählung von männlicher Künstler-Grandiosität als kulturelles Triebmittel der kapitalistischen Lebensordnung vollends durchschaut ist, erst dann verliert sie ihre Attraktion als kunstbetriebliche Handlungsanleitung." (Bild: "The Swan Nr. 17" von Hilma af Klint, mehr zur Künstlerin in der FAZ. Ab 15. Juni gibt es eine Ausstellung ihrer Bilder im Hamburger Bahnhof in Berlin)

Weiteres: Hanns-Georg Rodek möchte nach der Verleihung der deutschen Filmpreise, bei der "Cloud Atlas" leer ausging, neue Regeln für die Vergabe diese Preise haben. Nicole Erdmann stellt Brigitte Eicke vor, deren Teenager-Tagebuch aus dem Krieg ihr unerwartet späten Ruhm beschert hat. Eckhard Fuhr berichtet von einem Streit um Schloss Corvey, das Weltkulturerbe werden soll. Wolfgang Klein, Leiter des "Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache", antwortet auf Kritik am Abschluss des Grimms, berichtet Matthias Heine. Besprochen wird ein "Eugen Onegin" mit einer strahlenden Anna Netrebko in Wien.

Weitere Medien, 29.04.2013

In der Berliner Zeitung/FR schwärmt Arno Widmann von Victor Hugos Tuschezeichnungen, die er in der Ausstellung "WortBildKünstler" in Ingelheim zum ersten Mal gesehen hat. Besonders ein Bild hat es ihm angetan (nicht das abgebildete): "Es ist die größte seiner hier ausgestellten Arbeiten. Nichts ist darauf abgebildet. Es ist abstrakt. Es hat die sparsame Eleganz eines Cy Twombly. Dieser Hugo ist eine Sensation. Selten möchte ich etwas haben. Aber diese Tuschzeichnung, die hätte ich gern. Ich würde sie immerzu anstarren und mich fragen, warum es so lange dauerte, bis man diese Schönheit erkannte. Was hat uns die Augen geöffnet? Kannte Hugo die Chinesen? Es ist ein Rätsel. Ein sehr, sehr schönes Rätsel."

kress.de meldet: Die Huffington Post kommt nun doch noch nach Deutschland. "Tomorrow Focus ist strategischer Partner".

Im Standard tritt Franzobel ganz klar gegen Arbeit ein: "Arbeit macht frei? Kein Satz wurde je so pervertiert. Wegen Arbeit ist niemand freigekommen, aber Hunderttausende sind umgekommen. Gilt also der Umkehrschluss? Arbeit macht nicht frei, sie vernichtet. Arbeit hat uns gebändigt, willenlos gemacht. Arbeit demütigt, macht klein. So pervers das ist, muss man auch noch dem dankbar sein, der sie einem gibt. Verrückt!"

TAZ, 29.04.2013

Cristina Nord berichtet geradezu erfreut über die Vergabe der deutschen Filmpreise (unter anderem an Jan Ole Gerster), die jetzt nur noch auf die "Samstagabendunterhaltungsideen mit ihrer Witzischkeit" verzichten müsste. Carla Baum berichtet von der Musik-Konferenz "Operation Ton" in Hamburg.

Besprochen werden die Schau "Kosmos Farbe" mit Werken von Johannes Itten und Paul Klee im Berliner Gropiusbau und die Ausstellung "Juden. Geld. Eine Vorstellung" im Jüdischen Museum in Frankfurt.

Und Tom.

FAZ, 29.04.2013

Fasziniert und bedrückt schreitet Dieter Bartetzko durch den knapp bemessenen Raum der Ausstellung "Juden. Geld" im Jüdischen Museum Frankfurt, die die Vorurteile über Juden und das Geld thematisiert. Nur der Schluss gefällt ihm nicht, in dem aktuelle Zitate unkommentiert nebeneinander gestellt werden: "Nach zwei Stunden Kontakt mit Jahrhunderten des Antisemitismus liest der Besucher jeden Satz, egal, ob aus Martin Mosebachs Roman 'Das Bett', ob Interviewfragen eines chinesischen Fernsehsenders oder antikapitalistische Graffiti am Bauzaun der Frankfurter EZB-Baustelle, als teils offene, teils unterschwellige antijüdische Hetze. So wird der Aufklärung ein Bärendienst erwiesen."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube liest ein Papier des Wissenschaftsrates über die Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel (mehr hier), zu dessen Empfehlungen gehört, die Bibliothek mit Bundesmitteln besser auszustatten. Jürg Altwegg berichtet, dass nun auch die Schweiz das Schicksal ehemaliger Heimkinder zwischen Ausbeutung und Missbrauch aufarbeitet. Gemeldet wird, dass in der Niederlanden die Serie "Derrick" abgesetzt wurde, nachdem herauskam, dass Horst Tappert Mitglied der Waffen-SS war. Dirk Schümer berichtet vom Thronwechsel in den Niederlanden. Andreas Kilb kommentiert die Verleihung der deutschen Filmpreise. Verena Lueken hat Philip Werner Saubers Film "Der einsame Wanderer" gesehen, an dem Ulrike Edschmids Buch "Das Verschwinden des Philip S." neues Interesse weckte. Jordan Mejias liest ein Buch der in Italien als Mörderin angeklagten Amanda Knox, die beteuert, unschuldig zu sein. Edo Reents schreibt zum Tod des Country-Sängers George Jones.

Besprochen werden unter anderem Purcells "Indian Queen" in Schwetzingen und Bücher, darunter Richard David Prechts neuer Bestseller "Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern" (dem Jürgen Kaube "durchgängige intellektuelle Schlampigkeit" attestiert, mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Im politischen Teil meldet Christian Füller: "Daniel Cohn-Bendit ist nicht interessiert, die Geschichte seiner pädophilen Äußerungen transparent zu machen. Sein Büro hat einen Archivbestand dazu mit der Überschrift 'Pressekampagnen gegen Daniel Cohn-Bendit' gesperrt - bis zum Jahr 2031. Im 'Grünen Gedächtnis' der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin befinden sich unter anderen Korrespondenzen zum Buch 'Der Große Basar', in dem Cohn-Bendit schilderte, wie Kleinkinder ihn im Hosenstall streicheln."

SZ, 29.04.2013

Zu einer Buch- samt Filmpräsentation anlässlich Ulrike Edschmids Erinnerungen an das 1975 gestorbene Mitglied der Bewegung 2. Juni Werner Sauber (hier haben wir in das Buch vorgeblättert) hatte der Suhrkamp Verlag geladen. Trotz ausgestellter Klassentreffen-Attitüde der anwesenden 68er fühlte sich ein dezent belustigter Gustav Seibt wie auf einem "Beerdigungskaffee": "Nach langen, unterschiedlichen Biografien mit viel Zickzack und viel Arbeit schnurrt dann die Zeit unversehens rückwärts, lange weiße Haare und rötlich gegerbte Squawgesichter verwandeln sich unversehens zurück ins Kommunardisch-Mädchenhafte, unterm Herrenhabit scheint der quergestreifte Strickpulli von früher hervorzuschimmern, und lachend begrüßt man sich mit einer Selbstverständlichkeit, als sei die Tür zur Wohngemeinschaft gerade erst zugegangen. Es ist eigentlich indiskret, sich in solche Familienaufstellungen einzuschleichen."

Weiteres: Im belgischen Löwen warnte Jürgen Habermas in einem Vortrag zur Europakrise vor deren "technokratischen Dynamik" sowie vor deutschen Hegemoniebestrebungen, berichtet Cerstin Gammelin. Egbert Tholl beobachtet beim Münchner Theaterfestival "Radikal jung", dass die Nachwuchsregisseure "also politisch" werden. Alex Rühle trifft in München Mandela- und Tutu-Anwalt Sydney Kentridge. Marius Nobach berichtet von einer Tagung über Shakespeare und das Geld. Reddit-Geschäftsführer Erik Martin entschuldigte sich für die Online-Hetzjagd seiner Community nach dem Anschlag von Boston, meldet Niklas Hofmann. Georg Imdahl sorgt sich um den Fortbestand der "einzigartigen" Kölner Kunst- und Museumsbibliothek. Franziska Augstein gratuliert Hitler-Biograf Ian Kershaw zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Thomas Arzts beim Heidelberger Stückemarkt aufgeführtes "Alpenvorland" und Bücher, darunter Pierre Michons "faszinierender" Roman "Die Elf" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).