Heute in den Feuilletons

Die Empörung ist eine europäische Sünde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2013. In der Welt spricht Kevin Powers über seinen Roman "Die Sonne war der ganze Himmel". Daily Mail stellt kleidsame Wollkappen für Schildkröten vor. Die taz trauert um die einst so angesagte Clubszene von Berlin. Für die FAZ legt die Psychoanalytikerin Julia Kristeva ganz Europa auf die Couch. Und alle gedenken Søren Kierkegaards.

NZZ, 04.05.2013


Literatur und Kunst bringt ein kleines Dossier zum 200. Geburtstag Søren Kierkegaards. Unter anderem zeichnet Aldo Keel ein sehr lebendiges Bild der Stadt Kopenhagen um 1850: "Als Christian VIII. (er hatte zehn außereheliche Kinder) Kierkegaard empfing, klagte der Philosoph dem neuen König, es sei 'ein Unglück, ein Genie in der Kleinstadt zu sein'. Um Mitternacht wurden die Stadttore verriegelt und verschlossen und die Schlüssel beim König abgeliefert. Ein Festungswall umfasste die übervölkerte, stinkende Stadt, die 1845 neben 126 000 Menschen Tausende Pferde, Kühe und Schweine beherbergte, deren Kot offen durch die Rinnsteine auf den Kanal zutrieb." Außerdem erinnert Uwe Justus Wenzel an den Grübler Kiekegaard und Peter Urban-Halle liest noch mal sein grausames "Tagebuch des Verführers".

In den Bildansichten widmet sich Alain Claude Sulzer der "Waschküche" des Malers Hans Emmenegger. Matteo Terzaghi erinnert an den Rennfahrer Clay Regazzoni. Besprochen werden einige Bücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Feuilleton bespricht Samuel Herzog die bisher größte Retro des italienisch-amerikanischen Künstlers Rudolf Stingel im Palazzo Grassi ("Die Inszenierung könnte grandioser kaum sein - immer wieder (vor allem im zweiten Stock) hängt da ein einzelnes Bildchen im Kabinettformat auf einer Wand, die leicht Picassos 'Guernica' aufnehmen könnte"). Peter Bürger bleibt wach für die Kolumne "Schlaflos". Andrea Köhler schreibt über Sexismus-Vorwürfe gegen die Wikipedia. Brigitte Kramer ergeht sich in der neu gestalteten Parklandschaft an den Ufern des Manzanares in Madrid. Besprochen werden auch hier Bücher, darunter Gedichte und Prosa von Valzhyna Mort.

Weitere Medien, 04.05.2013

Katie Bradley hat sieben Schildkröten und jede hat ein anderes Gewand, meldet die Daily Mail. Süß, oder? So findet man sie im Garten sofort wieder.
Stichwörter: Daily Mail

TAZ, 04.05.2013

In der Berliner Ausgabe erklärt Johnnie Stieler vom gerade geschlossenen Club Horst Krzbg im Gespräch woran die Berliner Clubszene krankt - am Überschuss-Angebot, am wenig an der Kreativindustrie interessierten Senat und nicht zuletzt an den falschen Amüsierwilligen: "Wir wollten Leute, die Interesse an einer guten Party haben. Und Raver, die mit großem Eifer bestimmte DJs sehen wollen. Aber dieses Publikum, das sich auch aus Musikjournalisten und Musikern rekrutiert hat, die hier gelebt haben, verlässt Berlin gerade wieder. Viele Engländer, die unser Stammpublikum gebildet haben, sind zurück nach England gezogen. Der Berlinlack ist einfach wieder ein wenig ab."

Weitere Artikel: Carmela Thiele spricht mit Susanne Gaensheimer, die den deutschen Pavillon der 55. Biennale von Venedig kuratiert. Emilia Smechowski porträtiert den umstrittenen, scheidenden Geschäftsführer der Piraten Johannes Ponader. Waltraud Schwab beobachtet in Klein Leppin, wie dessen 60 Einwohner eine Oper inszenieren. Jürn Kruse befasst sich mit der neuen, stark konvergent ausgerichteten Digitalstrategie von arte, hat aber seine Zweifel, ob der Fernsehzuschauer denn überhaupt teilnehmender User werden will. Jens Uthoff führt ein ausführliches Gespräch mit Polizeirufermittler Horst Krause, der sein altes Berlin im neuen nicht mehr wiedererkennen kann.

Besprochen werden das neue Album der Disco-Punks !!! und Bücher, darunter Saphia Azzedines Roman "Zorngebete" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FR/Berliner, 04.05.2013

Wolfgang Hettfleisch erinnert an den heute vor hundert Jahren eröffneten Prozess gegen den damaligen schwarzen Boxweltmeister Jack Johnson, der von einer weißen Jury formal für "unmoralische Absichten" verurteilt wurde. Hettfleisch nennt den wahren Grund: Es "kann aus heutiger Sicht kein Zweifel mehr bestehen, worin aus Sicht des weißen Amerika im frühen 20. Jahrhundert die eigentlichen Vergehen des Boxers bestanden: Er demütigte über Jahre seine hoffnungslos unterlegenen weißen Gegner im Ring - und hatte ausgiebig Sex mit weißen Frauen." Auf Youtube gibt es eine ausführliche Dokumentation über Johnsons Aufstieg und Niedergang:



Außerdem würdigt der Schriftsteller Otto A. Böhmer in einem mit zahlreichen Zitaten gespickten Überblick die Existenzphilosophie des heute vor 200 Jahren geborenen Søren Kierkegaard.

Welt, 04.05.2013

Für die Literarische Welt spricht Wieland Freund mit dem Irak-Heimkeherer und Autor Kevin Powers über seinen Roman "Die Sonne war der ganze Himmel". Er spricht unter anderem über seine Scham: "Im speziellen Fall des Irak war es die Einsicht, dass es keinen unmittelbaren Grund gab, dass wir da waren. Es gab keine unmittelbare Gefahr für Amerika. Als mir das klar geworden war, musste ich rechtfertigen, was ich tat und was ich dort sah."

Weitere Artikel: Cora Stephan sagt in ihrer Kolumne dem deutschen Krimi ade. Dirk Naguschewski trifft den kongolesischen Autor Alain Mabanckou.

Besprochen werden unter anderem eine Neuausgabe des "Letzten Mohikaners", Artur Koestlers früher Roman "Die Erlebnisse des Genossen Piepvoel in der Emigration", Otto Dov Kulkas "Landschaften der Metropole des Todes" und Marie-Françoise Peteuils Biografie über Helen Hessel.

Fürs Feuilleton schreibt Manfred Klimek einen Nachruf auf das analoge V-System der Firma Hasselblad, das einst die Fotografie revolutionierte (in Aktion sieht man es in Antonionis Film "Blow Up"): "Das Arbeiten der Fotografen tangiert dieses Produktionsende wenig, denn die Arbeit der Fotografen geschieht längst digital. Technokraten haben den Kamerabau übernommen, es geht um Pixel und Schärfe. Doch analoge Filme wird es wohl weiterhin geben. Und jede Menge gebrauchte Hasselblads."

Außerdem bekennt Alan Posener seinen Ekel vor der israelkritischen Künstlerin Yael Bartana, die im Auftrag deutscher Kunstbehörden eine Holocaust-Gedenkminute persifliert. Manuel Brug besucht die neue Petersburger Oper, die teuer war und hässlich ist. Joachim Lottmann geht mit dem Kabarettisten Josef Hader essen. Und Jenny Hoch unterhält sich mit dem Maler Norbert Bisky über seine Bühnendeko für einen Auftritt des Berliner Staatsballetts.

Auf der Forumsseite gedenkt der Theologe Christian Möller Søren Kierkegaards. Bereits gestern schrieb Friedrich Wilhelm Graf.

FAZ, 04.05.2013

Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva legt im Gespräch mit Olivier Guez ganz Europa auf die Couch. Sie plädiert auch gegen jüngst von modischen Greisen gepredigte Imperative: "In meinen Augen ist die Empörung romantisch, eine von Abwehr und Zorn geprägte und jugendlich-unreife Reaktion, die keine glaubwürdige Alternative benennt, weil sie keinerlei Interaktion mit dem anderen vorsieht. Sie denkt nicht an den anderen. Es ist eine Haltung, die zum Dogmatismus verleitet; sie ist ihrem Wesen nach totalitär und todbringend. Die Empörung ist eine europäische Sünde, ein negativer Narzissmus."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier gratuliert Aldi (Nord und Süd) zum Hundertsten. Gemeldet wird, dass Rachel Salamander die Leitung der Literarischen Welt aufgibt. Dietmar Dath schreibt zum Tod des Slayer-Gitarristen Jeff Hanneman. Für die Medienseite unterhält sich Ursula Scheer mit Jürgen Prochnow, der in dem ZDF-Film "Die Kinder meiner Tochter" am Sonntag die Hauptrolle spielt.

Besprochen werden unter anderem der Film "Saiten des Lebens", eine Ausstellung früher Aktfotografie in Berlin und Bücher, darunter ein Band mit Geschichten von Herman Melville (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Für die Frankfurter Anthologie liest Wulf Segebrecht ein Gedicht von Durs Grünbein - "Im Kolonnadenhof:

Berlin, die Kälte und die Bogenschützin
Vor Stülers Tempelbau: Was will die Frau?
Sie hat den Rücken durchgedrückt, die Knie,
Und zielt hinüber in den Kolonnadengang (...)"

SZ, 04.05.2013

Zum 200. Geburtsag von Søren Kierkegaard stellt Johan Schloemann dessen "zusammenhängende Doppelexistenz" vor: Nach außen hin "der tägliche Spaziergänger und Straßenphilosoph, der dänische Sokrates in der Erscheinungsform des Dandys, der mit jedem redet, auch mit den einfachen Leuten, und alles beobachtet; zu Hause dann der manische Schreiber, der sich noch mit Hut und Stock an eines seiner Stehpulte stellt und sofort loskritzelt, der sich mit Vorhängen und Fensterläden buchstäblich abschottet." In Kopenhagen ist ihm eine Ausstellung gewidmet. Thomas Steinfeld freut sich zudem, dass sich Kierkegaards Existenzphilosophie nicht auf ein paar plumpe Sätze reduzieren lasse.

Weiteres: In Sankt Petersburg stößt der neue, von seinen Gegnern despektierlich "Scheune" genannte Erweiterungsbau des Mariinski-Theaters auf wenig Gegenliebe, teilt Tim Neshitov mit: Der Architekturkritiker Grigorij Rewsin bezeichne ihn gar als "Mittelding zwischen einem Einkaufszentrum und einer McDonalds-Filiale". Peter Richter beobachtet den stiefmütterlichen Umgang New Yorks mit Stararchitekten. Bernd Graff lässt sich beim Besuch der Internationalen Konferenz für Animation von Ed Ulbrich von der Visual-Effects-Firma Digital Domain erklären, dass sich die Branche - trotz allgegenwärtiger digitaler Spezialeffekte - unter anderem auch wegen der zunehmenden Konzentration auf wenige, dafür gesalzen teure Groß-Filmproduktionen in der Krise befindet.

Besprochen werden Luk Percevals "Karamasov"-Inszenierung am Thalia-Theater in Hamburg, der Superheldenfilm "Iron Man 3", das neue Album von Michael Bublé und das neue Album von Vampire Weekend.

Für die Wochendbeilage hat die SZ nachgefragt, was Privatsphäre zählt: Juli Zeh möchte sich nicht schämen, wenn sie sich im Fernsehen sieht, für Ursula von der Leyen ist das "Leben in Hannover" der Inbegriff von Privatsphäre, Josef Hader ist froh, in so einem hässlichen Vorstadtbezirk zu leben, dass "Künstler, Medienleute und reiche Studenten" sowie "Biomärkte ... und gute Restaurants" von vornherein fern bleiben, und Post-Privacy-Aktivist Christian Heller hält, wie seine Tagesnotizen belegen, eigentlich nur seine Passwörter privat. Joachim Käppner stellt historische Beispiele für Ärger mit der Steuer zusammen. Außerdem unterhält sich Rebecca Casati mit Klaus Maria Brandauer.