Heute in den Feuilletons

Rosa Pelzjacke über der Lederrüstung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.05.2013. Die NZZ fürchtet sich vor dem rabiaten Umbau der Stadt Istanbul. In der FAZ erklärt Yohji Yamamoto, was am weiblichen Körper so schwierig ist und am männlichen so langweilig. Außerdem spricht die Netzaktivistin Raegan MacDonald  zu Beginn der Re:publica über Datenschutz. Vocer fragt nach Chancen eines gemeinnützigen Journalismus in Deutschland. Die SZ fand das Staatsballett im Berghain schön und harmlos.

NZZ, 06.05.2013

Veronika Hartmann beklagt den brachialen Umbau Istanbuls, in dessen Zuge ganze Stadtteile abgerissen, Schneisen geschlagen und alte Plätze untertunnelt werden. Besonders fatal findet sie die massive Brücke über das Goldene Horn: "Sie verbindet die ältesten Stadtviertel miteinander, nämlich Galata und Eminönü. Hoch oben ist sie und wird von einer Drahtseilkonstruktion getragen. Statt sich sanft in die Stadtsilhouette einzuschmiegen, verdeckt sie den Blick auf die historische Halbinsel mit Topkapi-Serail, Hagia Sophia und Süleymaniye-Moschee ... Der Architekt Ali Ulvi Altan, der als Projektleiter mit dem Bau der Brücke betraut ist, beteuert, dass die Unesco sich von dem Projekt habe überzeugen lassen. 'Es ist ja noch nicht fertig, mit etwas Farbe und Beleuchtung kann man da noch einiges machen.'"

Joachim Güntner berichtet vom jahrzehntelangen Ringen um Selbstfindung bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, vor dem auch der neue Präsident Heinrich Detering nicht schützen könne: "Radikal geändert hat sich, dass ein Klub aus Intellektuellen Geselligkeit und gebildetes Gespräch als Hauptzweck ausgeben und dafür von der Politik auch noch Geld erwarten darf. Nahezu gleich geblieben ist die ungestillte Sehnsucht der Akademie nach Bedeutung."

Besprochen werden eine Inszenierung der "Ariadne auf Naxos" von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal sowie drei Einakter zum Thema "Arm und Reich" in der Zürcher Schiffbau-Box.

Aus den Blogs, 06.05.2013

(Via Matthias Rascher) Der Fotograf Mark Hirsch hat sich in eine Eiche in der Nähe seines Hauses in Wisconsin verliebt und fotografiert sie immer wieder - mit seinem Iphone.

Wie soll in Zeiten zusammenbrechender Geschäftsmodelle Journalismus finanziert werden, fragt Daniel Drepper auf Vocer und plädiert für ein neues Modell: "Gemeinnützige Vereine, Stiftungen oder gemeinnützige GmbHs haben zwei große Vorteile: Sie müssen je nach Art ihrer Einnahmen keine Steuern zahlen, und Unterstützer können ihre Spenden wiederum von der Steuer absetzen. In den USA arbeiten bereits Tausende Journalisten auf diese Art. Das Magazin National Geographic ist gemeinnützig, auch die Nachrichtenagentur AP. Dazu gibt es zahlreiche lokale und investigative Journalistenbüros."

Es gibt ein neues Tumblrblog mit revolutionären Magazintiteln: Cosmarxpolitian. Überschriften lauten "100 deflowering stories you won't believe", "The REAL bay of pigs disaster: 50+ bikini horror stories!" und "'Oh, god!' Sex tips so divine, he'll call you the opiate of his masses."
Stichwörter: AP, Bikini, Iphone, Journalismus, Sex, USA

Welt, 06.05.2013

Michael Pilz erlebte einen Auftritt von Rammstein in der Wolfsburger Turbinenhalle: "Till Lindemann, der Sänger, schwebt mit brennenden Sohlen von der Decke. Er trägt eine rosa Pelzjacke über der Lederrüstung, schüttelt Funken aus dem Ärmel und singt für die Gastgeber: 'VW Passat und Autobahn/ Alleine in das Ausland fahren/ Reise, Reise, Fahrvergnügen.'"

Weitere Artikel: Andrea Hanna Hünniger liest angeregt Naomi Wolfs "Vagina"-Buch. Mark Reichwein blättert für seine Feuilletonkolumne die Campus-Presse durch (wo es aber kein Feuilleton gibt). Besprochen werden Stefan Puchers Inszenierung der "Hedda Gabler" mit Nina Hoss (die übrigens laut einer Meldung vom Deutschen Theater zur Schaubühne geht) bei den Ruhrfestspielen und eine Choreografie des Staatsballetts im Berghain.

TAZ, 06.05.2013

Maximilian Grosser wirft einen Blick auf die neue Protestkultur in Russland, die besonders in den Provinzstädten an Zulauf und Kraft gewinne, allerdings nicht von allen Putin-Kritikern rein positiv betrachtet werde. Besprochen werden eine Ausstellung mit Skulpturen des Kanadiers Brian Jungen im Kunstverein Hannover, Yaron Zilbermans Film "Saiten des Lebens" und ein Buch über "Terra Preta" als Stoff der Zukuft.

Und Tom.
Stichwörter: Protestkultur

Aus den Blogs, 06.05.2013

Nach Hartmut Mehdorns Ankündigung, einen eventuell entstehenden Berliner Flughafen "scheibchenweise" in Betrieb nehmen zu wollen schreibt Burkhard Müller-Ullrich auf achgut: "Sicher wäre so manches besser gelaufen, wenn man es nicht übers Knie gebrochen hätte. Die Einführung des Euro beispielsweise: man hätte sich vielleicht vorerst auf Münzwerte beschränken sollen. Oder die Wiedervereinigung: zunächst nur für Deutsche mit den Initialen A bis K."

Für jeden, der's noch nicht weiß: Stefan Niggemeier hört beim Spiegel auf. Hier seine "Ausmitteilung".

(via open culture) Die finnische Armee hat ein Archiv ins Netz gestellt mit 160.000 Fotografien, die im Zweiten Weltkrieg aufgenommen wurden. Im Original aufbewahrt porträtieren diese Bilder "das Leben an der Heimatfront, in den ausgebombten Ruinen, der Kriegsindustrie und Ereignisse, die hinter der Front geschahen." Die Bilderklärungen sind leider nur auf Finnisch zu lesen. (Foto: SA-kuva)



Natalie Portman wird demnächst auf der Leinwand Lady Macbeth spielen (mit Michael Fassbender in der Nebenrolle), meldet screen daily. Dass die Schauspielerin nicht nur heulen kann, wie ein boshafter Leser bei io9 bildlich suggeriert, sondern auch sehr böse sein kann, beweist dieses Video von Saturday Night Live:


SZ, 06.05.2013

"Schön und ziemlich harmlos" ist das Joint Venture von Staatsballett und Norbert Bisky im Berliner Club Berghain, schreibt Gustav Seibt, der den legendären Feierbetrieb mittlerweile auch als "Schauplatz der Hochkultur" etabliert sieht. Doch fragt sich Seibt mit Blick auf die amüsierwilligen Schlangen vor dem Einlass des Hauptbetriebs der Location: "Wer hat eigentlich mehr von solchen Berührungen, das Berghain von der Hochkultur oder die Hochkultur vom Berghain? Oder gibt es hier so etwas wie gegenseitigen Vampirismus unter einverständigen Volljährigen? Draußen, nach dem Premierensekt, war jedenfalls alles wie immer, die berühmte Schlange vor der Stahltür am Haupteinlass war schon hundert Meter lang, und Sven Marquardt, der berühmteste Türsteher der Welt, waltete seines Amts als wohlwollender Zerberus."

Außerdem: Nach dem Auftaktkonzert zur Welttournee der Rolling Stones erklärt Anne Philippi das Alter als Kategorie endgültig für obsolet. Florian Kessler meldet, dass der Autor Saša Stanišić den Alfred-Döblin-Wettbewerb gewonnen hat.

Auf der Medienseite porträtiert Claudia Tieschky Alain Le Diberder, der bereits in den Achtzigern als Computerspieleautor ein "kleiner flitzdigitaler Superjunge" war und nun als neuer arte-Programmchef für die bimediale Zukunftsstrategie des Senders verantwortlich zeichnet, die eine stärkere Konvergenz von TV und Netz vorsieht: "In der Straßburger Utopiezentrale hält man sich Fan-Zahlen in sozialen Netzwerken zugute, die höher sind als in großen öffentlich-rechtlichen Sendern. ... Das alles beschreibt im weiteren Sinn das Phänomen, dass ein Nischensender im Netz riesig rauskommen kann. Nischen funktionieren im Web besonders gut."

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Franz Xaver Kroetz' "Bauern sterben" an den Münchner Kammerspielen ("Das Stück mag seine Zeit gehabt haben, seine Größe vielleicht auch. Im Rückblick aber wirkt es doch recht grob geschnitzt", schreibt Christine Dössel. Zum Vergleich: Eine historische Kritik aus der Zeit von 1985), Werner Schweizers und Katja Frühs Film "Verliebte Feinde", Henry Purcells bei den Schwetzinger Festspielen aufgeführte Oper "The Indian Queen" und Bücher, darunter Eric Schmidts und Jared Cohens "Die Vernetzung der Welt - ein Blick in die Zukunft" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 06.05.2013

Verena Lueken hat den großen Modeschöpfer Yohji Yamamoto in Berlin getroffen, der ihr erklärt hat, was der Frauenkörper wirklich ist - eine Wüste: "'Wir legen Stoff über diese Wüste, wir reisen entlang des Körpers, nehmen seine Form auf, das ist außerordentlich schwierig. Manchmal erfinden wir etwas für diese Wüste.' Er lacht sehr freundlich. Was denn dann ein Männerkörper sei? Die Arme schnellen nach vorn und zeichnen ein scharfkantiges Viereck: 'Langweilig!'"

Heute beginnt die Re:publica. Fridtjof Küchemann unterhält sich mit der Netzaktivistin Raegan MacDonald über Datenschutz im Netz. Für sie geht die größte Gefahr von den Staaten aus: "Indect zum Beispiel, ein EU-Projekt, arbeitet an Kombinationen von Data-Mining-Techniken, Suchalgorithmen, Gesichtserkennungstechniken und der Auswertung von Informationen aus sozialen Netzwerken, um kriminelles Verhalten vorherzusagen. Das ist ein Paradigmenwechsel in einer Gesellschaft, die wir für frei und demokratisch halten."

Weitere Artikel: Tilman Spreckelsen glossiert einen Streit um den deutschen Jugendliteraturpreis, der keine Rücksicht auf die Herkunft von Autoren nimmt und manchen deutschen Konkurrenten darum zu kosmopolitisch ist. Hannah Lühmann verfolgte die "Römerberggespräche", welche die Zukunft des traditionellen Journalismus erörterten. Rose-Marie Gropp berichtet, das eine lange währende Auseinandersetzung zwischen Lenbachhaus und Erben des Malers El Lissitzky um Paul Klees Gemälde "Sumpflegende" vor der Lösung steht. Wolfgang Schneider gratuliert dem Autor Saša Stanišić zum Döblin-Preis

Besprochen wird die von einem ungenannten (Gerhard Stadelmaier war mal wieder böse) Regisseur inszenierte "Hedda Gabbler" mit Nina Hoss bei den Ruhrfestspielen.