Heute in den Feuilletons

Spiele zuerst einmal drei Akkorde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2013. In britischen Medien wird nach der Abschlachtung eines britischen Soldaten durch einen islamistischen Fanatiker darüber diskutiert, wieviel man davon zeigen soll. Die NZZ erläutert anhand des preisgekrönten Fotos von Paul Hansen aus Gaza die Tücken der digitalen Fotografie und ihrer Manipulierbarkeit. Die taz ergründet den Begriff der "Critical Whitness". Die Welt beklagt die grassierende Verniedlichung der DDR. Die BBC bringt verwirrende Umfrage-Ergebnisse: Demnach ist Deutschland das beliebteste Land der Welt.

NZZ, 24.05.2013

Die Echtheitsdebatte um das Foto "Begräbnis in Gaza", für das Paul Hansen den diesjährigen World Press Photo Award bekam, hat den Glauben in die Kriegsfotografie wieder einmal erschüttert, berichtet der Fotohistoriker Anton Holzer. Manipulationen gibt es, seit es Kriegsfotografien gibt, aber seit der digitalen Wende ist der Wahrheitsanspruch endgültig unhaltbar geworden: "Die strikte Trennung zwischen Original und Abzug, die im analogen Zeitalter im Dienste der Wahrheitsfindung bemüht wurde, ist mittlerweile aufgelöst. An die Stelle des Negativs sind sogenannte digitale Rohdaten getreten, die in der Kamera mehr oder weniger stillschweigend bearbeitet werden. (...) Der Übergang zwischen 'erlaubten' und 'unerlaubten' Eingriffen ist dabei fließend."

"Die Botschaft war immer wichtig für mich", sagt der schottische Folksänger Donovan im Interview mit Michael Marek und hat zum Beweis eine Botschaft für aufstrebende Musiker parat: "Wenn du eine Gitarre besitzt: Spiele zuerst einmal drei Akkorde - und dann wenn möglich noch einen vierten: Das sollte dann ein Moll-Akkord sein."

Weiteres: Dagrun Hintze lernt beim interdisziplinären Festival "Old School - Von Alten lernen" in Hamburg, sich "vor dem Lebensabend nicht zu sehr zu fürchten". Die 19. Pfingstkonzerte in der Kartause Ittingen waren "wahrlich nicht arm an Marksteinen", meldet Alfred Zimmerlin. Besprochen wird eine Ausstellung mit Werken des Architekten und Designers Peter Behrens in der Kunsthalle Erfurt.

TAZ, 24.05.2013

Enrico Ippolito und Jasmin Kalarickal beschreiben Positionen in der Debatte um das Konzept der Critical Whiteness, das im Alltag "das ummarkierte Weißsein" sichtbar machen soll. In Deutschland hat dieser Diskurs allerdings seine Tücken, bekennt der Sozialwissenschaftler Vassilis Tsianos: "'In Deutschland ist Weiß immer auch deutsch. Wenn man das Deutsche aus der Konzeption Weißsein wegnimmt, dann haben wir ein rassismuskritisches Analyseangebot, das die Zentralität der Migrationsprozesse in Deutschland und die Post-Holocaust-Geschichte wegtheoretisiert.' Die US-Theorie Critical Whiteness benötige in Deutschland eine Adaption, die eben auch die deutsche Migrationsgeschichte einbindet."

Weitere Artikel: "Ganz große Körperkomik" sah Christina Nord in Cannes in Valeria Bruni Tedeschis Tragikomödie "Un chateau en Italie". Ulrich Gutmair besichtigt die Clubkultur in Berlin Mitte, wo zumindest nachts die "Utopie einer klassenlosen Gesellschaft" herrsche.

Besprochen werden eine neue Biografie und eine "solide" Best-of-Koppelung von Bruce Springsteen, der gerade in Deutschland tourt, sowie die Alben "Independent Dancer" des Schweizer Schweizer Produzenten und DJ Sascha Winkler alias Kalabrese und "In Technicolor" des Kölner Produzentenduos Marius Bubat und Georg Conrad alias Coma.

Und Tom.

Weitere Medien, 24.05.2013

Verstümmelte Opfer, blutbeschmierte Mörder auf Fotos oder Videos - nach Katastrophen oder Anschlägen wie in Boston und jetzt in Woolwich mag man inzwischen selbst "seriöse" Nachrichtenseiten kaum noch anklicken, weil sie ohne Vorwarnung die entsetzlichsten Bilder zeigen. Auch Guardian und Independent haben nach dem grauenhaften Mord in Woolwich die Bilder des blutbeschmierten, ein Hackmesser schwingenden Täters gezeigt, hinter ihm das verblutende Opfer. Beide Zeitungen haben sich gestern dafür gerechtfertigt. Im Guardian schrieb Roy Greenslade: "It could be said that the media were playing into his hands by giving him the publicity he was seeking. But, given the situation, there was a need to explain. And the pictures lifted from the filmed footage were therefore essential to the exercise."

Und im Independent erklärte Stig Abell: "we have a right to know what has happened in our streets. It is not incitement to report factually on newsworthy events: the people responsible for this outrage should be condemned out of their own mouths. By seeing their desperation, we also see why their cause is futile." In beiden Zeitungen - vor allem aber im Guardian - haben die Leser dem zumeist heftig widersprochen.

Nachdem das Umweltbundesamt in Dessau Dirk Maxeiner und Michael Miersch auf eine schwarze Liste mit Journalisten und Wissenschaftlern gesetzt hat, deren Positionen "nicht mit dem Kenntnisstand der Klimawissenschaft übereinstimmen", erklärt Jan Fleischhauer auf Spiegel online - obwohl ihn das Klima ständig verwirrt - stramm seine Treue zur Institution: "Ich bin mir meiner besonderen Verantwortung als Journalist für das Weltklima bewusst. Ich habe zu Maxeiner und Miersch jeden Kontakt abgebrochen. Sollten sich die beiden dennoch wieder an mich wenden, werde ich dem Präsidenten der Bundesumweltkammer, Jochen Flasbarth, sofort Meldung erstatten."

Ooops, das kommt überraschend: Laut einer Umfrage der BBC ist Deutschland derzeit das beliebteste Land der Welt: "The BBC's Stephen Evans in Berlin says the poll results may be a reward for diligent German diplomacy. Government ministers frequently tour countries with markets for German goods, or countries like Mongolia with raw materials for German products, he says. There were high positive ratings for Germany in recession-hit Spain and France - though not in Greece - despite the well-publicised placards depicting Chancellor Angela Merkel as a Nazi, paraded during anti-austerity protests in Europe."

Welt, 24.05.2013

Richard Herzinger greift in die Diskussion um das mögliche Verbot von DDR-Symbolen ein und diagnostiziert eine grassierende Verniedlichung des Regimes durch "zahllose Ostalgie-Filmchen über das vermeintlich harmlose Alltagsleben in der DDR, putzige Trabi-Veteranentreffen und einen regen Militaria-Handel rund um touristische Schauplätze in der deutschen Hauptstadt." Und diese Verniedlichung "knüpft nahtlos an eine in Westdeutschland in den Achtzigerjahren weit verbreitete Haltung an, die den kommunistischen Staat im Osten Deutschlands zu einer 'kommoden Diktatur' verharmloste."

Weitere Artikel: Matthias Heine schreibt zum Tod von Georges Moustaki.



Gerhard Gnauck berichtet über eine gerade in Polen edierte unbereinigte Version der berühmten Tagebücher von Witold Gombrowicz, die aber nicht all zu viel Neues bringt. Hanns-Georg Rodek hat in Cannes neue Filme von Abdellatif Kechiche und Winding Refn gesehen. Manuel Brug berichtet von den Wagner-Feierlichkeiten in Leipzig, Dresden und Bayreuth. Elkmar Krekeler liest in seiner Krimi-Kolumne den neuesten Schwedenkrimi von Viveca Sten. Und Anne Waak stellt das Schwestern-Duo CocoRosie vor, das mit einem neuen Album reüssiert.

Im politischen Teil berichtet die Welt, dass die Grünen israelische Produkte aus dem Westjordanland in Supermärkten besonders kennzeichnen wollen (hier der Text der Grünen als pdf-Dokument). Die israelische Botschaft wirft ihnen vor, zum Boykott aufzurufen, die Grünen wehren sich: "Bei Produkten aus dem Westjordanland werde die tatsächliche Herkunft des Produkts verschleiert. Bei einer Kennzeichnung gehe es nicht um einen Boykott israelischer oder gar jüdischer Produkte, sondern nur um die Ermöglichung von 'informierten Kaufentscheidungen'."

Aus den Blogs, 24.05.2013

Gefunden beim Kraftfuttermischwerk: Ein traumhaft schöner Ambientgleitflug in Cinemascope und auf grobem Korn ist das, den uns Boards of Canada in ihrem neuen Video kredenzen:

Stichwörter: Boards of Canada

SZ, 24.05.2013

Christian Zaschke staunt auf Seite Drei über die "Unerschütterlichkeit der Bewohner" Londons nach dem gestrigen Mord zweier Islamisten an einem britischen Soldat am hellichten Tag: "Während die beiden Killer auf das Eintreffen der Polizei warteten, leiteten Anwohner zum Beispiel Kinder von einer nahegelegenen Schule um. So wie Ingrid Loyau-Kennett sprachen mehrere Passanten mit den beiden Männern, um sie davon abzuhalten, mehr Menschen zu töten. Sie ignorierten die Tatsache, dass sie damit die Wahrscheinlichkeit ganz erheblich erhöhten, selbst das nächste Opfer zu sein."

Weitere Artikel: Die Initiative des Deutschen Bühnenvereins, die deutsche Theaterlandschaft zum Weltkulturerbe erklären zu lassen (mehr hier und in diesem Gespräch), stößt bei Thomas Steinfeld auf wenig Gegenliebe: "Es steckt darin ein erhebliches Maß an bürokratischer Borniertheit." Wolfgang Schreiber hält die Wagnerfeierlichkeiten in Bayreuth für die übliche "Art Maestoso-Intonation oberfränkischer Provinzgeselligkeit". Susan Vahabzadeh berichtet aus Cannes. Reinhard J. Brembeck hört Alte Musik in Regensburg. "Bei Beyoncé ist alles wirklich wahr", jubelt Jens-Christian Rabe nach einem Konzert der Sängerin in München. Joseph Hanimann betrauert den Sänger Georges Moustaki.

Auf der Medienseite fragen sich Claudia Fromme, Katharina Riehl und Claudia Tieschky nach Durchsicht von Springers Plänen, die eigenen Hausmarken zum multimedialen Pay-Wall-Themenpark auszubauen, "welche Rolle der Journalismus in dieser Welt eigentlich noch spielt".

Besprochen werden eine Ausstellung über Propaganda in der British Library in London, Andreas Kriegenburgs "Möwe"-Inszenierung in Frankfurt ("Alles flirrt, ist offen, leicht und halt auch traurig", schwärmt Egbert Tholl entzückt) und Bücher, darunter "Soutines letzte Fahrt", das Romandebüt des Übersetzers Ralph Dutli (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 24.05.2013

Vor dem großen, deutschen Champions-League-Finale in Wembley informiert sich Jochen Hieber in einem Buch von Nils Havemann über die Geschichte des deutschen Fußballs, die allerdings keine euphorische Lektüre abgibt. In Istanbul besucht Karen Krüger Jim Rakete und den Lyriker Gerhard Falkner, die es sich als Stipendiaten der Kulturakademie Tarabya unter der Sonne am Bosporus gut gehen lassen. Jürgen Dollase plädiert für experimentellere, intensivere Kräuter-Erkundungen. Peter Kemper besucht ein Clapton-Konzert in London. Nils Minkmar war bei der Geburtstagsfeier der Sozialdemokraten. Tilman Spreckelsen schreibt den Nachruf auf den Sänger und Komponisten Georges Moustaki.

Besprochen werden neue CDs, darunter das neue Album von Deep Purple, der Film "Fünf Jahre Leben", der sich mit Murat Kurnaz befasst, die Ausstellung "Weltenschöpfer" im Museum der bildenden Künste in Leipzig, Vincenzo Bellinis in Salzburg aufgeführte Oper "Norma", eine Ausstellung über die Geschichte der Galerie von Friedrich dem Großen in Sanssouci und Bücher, darunter Linus Riechlins Roman "Das Leuchten in der Ferne" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).