Heute in den Feuilletons

Wir haben eine Art Perücke benutzt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2013. FAZ und SZ bewundern die neueste taktische Volte im Streit um Suhrkamp: Der Verlag spannt einen Schutzschirm auf. Die NZZ hat Mario Vargas Llosa gelesen und ist jetzt ganz deprimiert - der weitere Kulturverfall ist schlicht nicht aufzuhalten. In der Welt spricht Abdellatif Kechiche über die Dramaturgie von Sexszenen. In der taz gibt's was gegen Fußballkommentatoren. Die Blätter stellen Jürgen Habermas' Verteidigung des Euro online. Und in Le Monde erklärt Marcel Ophüls, warum er seine Memoiren lieber gefilmt hat.

TAZ, 28.05.2013

In der tazzwei holt Bernd Müllender zu einem Tiefschlag gegen deutsche Fußball-Kommentatoren aus: "Bei meinem Private Viewing schallten immer wieder Entsetzensschreie herum: '… Hilfe, schaltet mir den Mann aus, unerträglich, Folter, neiiiiin; halt's Maul, Réthy …' Aber: hilft ja nicht. TV-Fußball nur mit Stimmung, ohne Stimme, gibt es nicht. Nur, warum eigentlich nicht? Opernaufführungen werden ja auch nicht live kommentiert. 'Und jetzt kommt Papageno steil über den linken Flügel …' Früher, als es von einem Fußballspiel nur eine schwarz-weiße Totale gab, mit verrauschtem Bild, machten erklärende Worte Sinn. Heute sieht man mit Dutzenden Kameras in HD und Superzeitlupe ohnehin alle Kleinigkeiten besser als jeder obsolete Schwätzer im Stadion."

Weiteres: Cristina Nord feiert in ihrem Abschlussbericht zu Cannes das hohe Niveau des Festivals und natürlich Abdellatif Kechiches sinnlichen Siegerfilm "La vie d'Adèle", auch wenn sie darin gewisse differenzfeministische Ansätze entdecken konnte. Als ein "durch und durch originelles Meisterwerk der Moderne" empfiehlt Niklaus Hablützl Frank Martins "Le Vin herbé", das Katie Mitchell in Berlin zurecht nicht als Oper inszeniert habe, sondern als "postdramatisches Theater lebender Bilder mit Gesang". Benno Schirrmeister huldigt "dem großen Maler und Säufer" Wols zu seinem Hundersten. Ralf Leonhard schreibt den Nachruf auf den Künstler Otto Muehl.

Besprochen werden Rajesh Parameswarans Liebesgeschichten "Ich bin Henker" und die Comic-Adaption von Jérome Charyns "Marylin the Wild" (mehr ab14 Uhr in unserer Bücherschaud es Tages).

Und Tom.

Weitere Medien, 28.05.2013

19 Jahre lang hatte sich Marcel Ophüls nach seiner nicht vollendeten Bosnien-Triologie "Veillée d'armes" in Bitternis und Einsamkeit zurückgezogen. In Cannes präsentierte er nun seine filmischen Memoiren "Un voyageur", die heute Abend auf Arte laufen (hier ein kleines Video). Franck Nouchi schreibt in Le Monde: "19 Jahre danach also Platz für 'Einen Reisenden'. 'Ich habe meine Memoiren gefilmt. Ich halte mich nicht für einen Schriftsteller, wissen Sie. Alles was zehn Seiten überschreitet, macht mir Angst. Schreiben ist eine entsetzlich einsame Arbeit. Ich habe einen Vertrag mit dem Verlag Calmann-Lévy, ich versuche es, aber es gelingt mir nicht. Also habe ich mir irgendwann gedacht, dass ich tun muss, was ich am besten kann. Die Kamera anstelle der Feder." Hier ein 16-minütiger Auszug aus "Veillée d'armes" für Perlentaucher, die französisch können.

NZZ, 28.05.2013

Andreas Breitenstein bespricht im Aufmacher Mario Vargas Llosas Essays "Alles Boulevard" und hat sich entschieden, die Klagen über den Kulturverfall ernst zu nehmen: "Mit dem Kult der Zerstreuung, der Missachtung der Sprache und der Inflation der Bilder gehen nicht nur die Reflexion und die Autonomie verloren, sondern es bricht die moralisch-geistige Orientierung als solche weg. Was bleibt, ist das Hamsterrad schlechter Unendlichkeit."

Der Rekurs auf den Zeitgeist verfängt in der Debatte um Daniel Cohn-Bendit nicht, meint Martin Meyer, auch vor vierzig Jahren schon war die sexuelle Nähe zu Kindern pervers. Aber Meyer fällt auch etwas anderes auf: "Cohn-Bendit hat wortreich sein Bedauern geäußert. Doch Vergangenheiten - man ersieht es auch in anderen Zusammenhängen - scheinen mittlerweile einer mindestens latenten Unaufhörlichkeit zu weichen."

Weiteres: Samuel Moser wird den Künstler und Kommunarden Otto Mühl vermissen, dessen Materialaktionen von der Lust getragen waren, "sich 'wie eine Sau' zu benehmen, alles mit 'intensivem Leben zu beschmutzen'." Auf der Medienseite beschäftigt sich Peter Studer mit dem Anspruch auf Schadensersatz bei verletzenden Berichten.

Besprochen werden eine Aufführung des "Don Giovanni" im Opernhaus Zürich, die Ausstellung "Walküren über Zürich" im dortigen Kunsthaus und Judith Kuckarts Roman "Wünsche" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 28.05.2013

Abdellatif Kechiche hat für seinen Film "La Vie d'Adèle" die Goldene Palme in Cannes bekommen und findet als Filmemacher nun internationale Beachtung. Télérama hat ein Interview online gestellt, das Jacques Morice schon 2008 geführt hat, das aber lesenswert bleibt. Kechiche redet über die Schwierigkeit als Franzose arabischer und überdies proletarischer Herkunft zu reüssieren, über seine Arbeit mit Schauspielern, sein Interesse an Sexszenen ("ich würde gern Catherine Breillat Konkurrenz machen"), und er erklärt, warum er als Schauspieler angefangen hat - aber nicht weitermachen wollte: weil man ihn stets als 'Araber' besetzte. "Ich wollte Schauspieler sein, nichts weiter. Das war nicht einfach. Entweder man besetzte mich als Kriminellen oder im Gegenteil als Opfer. Nicht als eigenständige Person. Ich hatte das Gefühl, instrumentalisiert zu werden, in ideologischen Schemata festzustecken. Im Theater konnte ich mich entfalten, dank der Probenarbeit, im Kino nicht. Aber meine Erfahrung war grundlegend, um in der Folge Schauspieler anzuleiten."

Die Europa-Debatte ist fällger denn je, obwohl sie von den Zeitungen nur lustlos betrieben wird - und schon gar nicht international (aber das ist eine andere Frage). Jürgen Habermas antwortet in der Mai-Nummer der Blätter, die den Beitrag jetzt dankenswerter Weise online gestellt haben, auf ein Buch des linken Eurokritikers Wolfgang Streeck: "Wolfgang Streeck empfiehlt Rückbau statt Aufbau. Er möchte zurück in die nationalstaatliche Wagenburg der 60er und 70er Jahre, um 'die Reste jener politischen Institutionen so gut wie möglich zu verteidigen und instand zu setzen, mit deren Hilfe es vielleicht gelingen könnte, Marktgerechtigkeit durch soziale Gerechtigkeit zu modifizieren und zu ersetzen.' Überraschend ist diese nostalgische Option für eine Einigelung in der souveränen Ohnmacht der überrollten Nation angesichts der epochalen Umwandlung von Nationalstaaten, die ihre territorialen Märkte noch unter Kontrolle hatten, zu depotenzierten Mitspielern, die ihrerseits in globalisierte Märkte eingebettet sind."

Sechs Monate lebte Alexander Chee mit seinem Geliebten Dustin als Gast der Universität in Leipzig. Was würde er vermissen, außer Brot und Bier? Die Stille vielleicht, meint der New Yorker in The morning news. "So many times as I walk the city, I can feel the quiet, as if it reaches from down into the soil, up into the sky. One night at my desk, I hear, with what seems like great violence, the noise of a car driving at a normal speed down Pragerstrasse, the street outside my apartment, followed by the noise of another. It is night and a weekday, and so unusual, it is almost like thunder."

Aus den Blogs, 28.05.2013

Ein voll funktionsfähiges Modell des Apple 1 ist für 516.000 Euro versteigert worden, meldet Boingboing unter Berufung auf AP.
Stichwörter: AP

Welt, 28.05.2013

Peter Beddies unterhält sich mit dem Filmregisseur Abdellatif Kechiche über dessen Palmen-Gewinner "La Vie d'Adèle" und die Sexszenen: "Ich wollte etwas Neues und zugleich völlig Normales wagen. ... Es sollte nicht gestöhnt und geschwitzt und ständig übertrieben werden. Genau das machen viele Filme bei solchen Szenen. Man übertreibt, und das findet der Zuschauer dann befremdlich, weil es mit seinem Leben nicht das Geringste zu tun hat." Pornografisch sei das überhaupt nicht: "Die Vagina zeigen wir nicht. Wir haben eine Art Perücke benutzt, die immer vor den Dreharbeiten in gewisser Weise aufgeklebt wurde. Das gab Adèle und Léa das Gefühl, nicht ganz nackt zu sein. Außerdem entgehen wir so dem Vorwurf der Pornographie."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek resümiert den Wettbewerb in Cannes. Der Suhrkamp Verlag hat die Einleitung eines "Schutzschirmverfahrens" beantragt, was, so ein besorgter Richard Kämmerlings, "dem sprichwörtlichen Offenbarungseid" nahe komme. Mit ARD und ZDF ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland nicht mehr zu retten, meint Dirk Peitz und fordert einen neuen Qualitätsfernsehkanal, den aber ausgerechnet die Öffentlich-Rechtlichen gründen sollen. Der Axel-Springer-Verlag hat einen Architektenwettbewerb für ein digitales Medienzentrum ausgelobt, meldet Isabell Jürgens. Tim Ackermann schreibt zum Tod des Wiener Aktionskünstlers Otto Muehl. Stefan Keim sah Sebastian Nüblings Inszenierung von Gorkis "Die Letzten" am Kölner Schauspiel. Und Jan Küveler porträtiert den Schweizer Dagobert als kapriziösen "Indie-Schlagersänger", der in vieler Hinsicht "zu jung" ist:


FAZ, 28.05.2013

Suhrkamp ist Aufmacher, nicht nur des Feuilletons, sondern dieser Zeitung. Das von dem Verlag beantragte "Schutzschirmverfahren" wird als eine Vorstufe des Insolvenzverfahrens beschrieben, die der Seite um Suhrkamp Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz wieder größere Handlungsfreiheit gewährt. Hintergrund ist, dass dem Co-Gesellschafter Hans Barlach ein Anspruch auf 2,2 Millionen Gewinnbeteiligung zugesprochen wurde,den Suhrkamp wohl nicht erfüllen kann. Andreas Platthaus hofft im Leitartikel, dass der klagende Barlach durch diesen Schritt vorerst ausmanövriert ist. Im Feuilleton verspricht Sandra Kegel Einsicht in die "Anatomie eines kühnen Plans" und vergleicht das neue "Schutzschirmverfahren" nach dem "Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen" (Esug) mit dem amerikanischen "Chapter 11", durch das viele Unternehmen gerettet werden konnten. Es ermöglicht auch den Eingriff in Gesellschafterstrukturen. Der Anwalt Frank Kekebus betont allerdings im Interview, dass Gewinnansprüche von Anteilseignern zwar in Eigenkapital umgewandelt werden können - aber nicht gegen den Willen der Gesellschafter.

Weitere Artikel: Patrick Bahners meldet, dass das städtische Museum Detroit wegen der klammen Lage der Stadt gezwungen sein könnte, Kunstwerke zu verkaufen. Hubert Spiegel betrachtet mit Skepsis eine jüngst aufgefundene Zeichnung, die angeblich Georg Büchner zeigt. Nach den Protesten gegen die Schwulenehe sieht Nils Minkmar in Frankreich eine neue radikale Rechte entstehen, die allerdings nur die altbekannte aus den "Deux France" ist. Verena Lueken resümiert Cannes. Der Geograf Joachim Scheiner macht sich Gedanken über die Zukunft der Mobilität und die Grenzen der Urbanisierung. Katharina Teutsch gratuliert dem Literarischen Colloquium in Berlin zum Fünfzigsten. Auf der Medienseite analysiert Joseph Croitoru die gegen Israel gerichtete Dschihad-Rhetorik der Hisbollah als Ausweichmanöver, um von ihren Interventionen in Syrien abzulenken.

Besprochen werden Gorkis "Die Letzten" in Köln, die zugleich die letzte Inszenierung der scheidenden Intendantin Karin Beier, eine "Romeo und Julia"- Choreografie in Stockholm, eine Manet-Ausstellung in Venedig und Bücher, darunter Judith Kuckarts Roman "Wünsche" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 28.05.2013

Vorsicht Kioske, bitte getrennt präsentieren! Die SZ hatte origineller Weise die gleiche Aufmacher-Idee wie die Frankfurter Konkurrenz.

Suhrkamps Antrag auf ein Schutzschirmverfahren hält auch die SZ in Atem: Auf der Meinungsseite sieht Gustav Seibt mit dieser spezifischen Variante der Insolvenz den "Moment für einen Neustart" und eine Inventur des Traditionsverlags gekommen. Schmerzfrei wird diese nicht zu haben sein, prognostiziert er: Sie "wird dazu führen, dass viel Schnickschnack auf die Seite geräumt wird".

Im Feuilleton verbreitet Andreas Zielcke unterdessen überraschend gute Laune: Was zunächst nach Liquidation klingt, birgt seiner Ansicht nach vielmehr die Chance auf eine Kehrtwende in der zehrenden Causa Suhrkamp. Der umstrittene, zuletzt Oberwasser habende Minderheitengesellschafter Hans Barlach spucke jedenfalls schon Gift und Galle, denn die von der Geschäftsführung beantragte, vom Gericht noch zu genehmigende "Planinsolvenz" biete weitreichende Möglichkeiten zur Lösung der verfahrenen Situation: "Nicht nur, dass der Plan vorsehen darf, die Forderungen der Gesellschafter gegen den Verlag aufzuheben oder in Eigenkapital umzuwandeln. Vielmehr kann er sogar in die gesellschaftsrechtliche Struktur des Unternehmens eingreifen - bis hin zum Ausschluss eines Gesellschafters (...). Gerichtliche Bestätigung erlangt ein solcher Plan (...) allerdings nur dann, wenn ihn die Gläubiger des Verlags (...) mehrheitlich absegnen. Geht es nach Suhrkamp, stehen die Zeichen dafür gut."

Weiterhin führt Lothar Müller durch den Herbstkatalog des Verlags, in dem er das einstige "Kontinuitätsversprechen" Suhrkamps trotz Krise durchaus bekräftigt sieht, auch wenn ihm einzelne Segmente - etwa der Jüdische Verlag und der Verlag der Weltreligionen - geschwächt erscheinen.

Abseits von Suhrkamp: Joseph Hanimann erinnert an den Skandal um Strawinskys "Le sacre du printemps" vor hundert Jahren. (Am Sonntag gab's dazu eine sehr schöne Sendung bei Deutschlandradio Kultur, die man allerdings trotz Zwangsgebühren nicht mehr hören kann. Hier wenigstens die Playlist, in der Mariss Jansons besonders gut abschnitt.) Volker Breidecker meldet den Fund eines Bildnisses, das womöglich Georg Büchner (oder aber dessen Bruder) zeigt, und besuchte außerdem in Wiesbaden einen Kongress über Spuren der Romantik in den heutigen Künsten. Willi Winkler schreibt den Nachruf auf den Wiener Aktionisten Otto Mühl.

Besprochen werden Stefan Schallers Guantanamo-Film "Fünf Jahre Leben", eine Aufführung von Gorkis "Die Letzten" am Schauspiel Köln und Bücher, darunter Ned Beaumans monströs betitelter Roman "Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).