Heute in den Feuilletons

Kalter Regen fällt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2013. In der FAZ attackiert Constanze Kurz die Bundesnetzagentur. Cicero erinnert an den Konflikt, der zur Trennung von Suhrkamp und Fischer führte. In der Jungle World denkt Kenan Malik über den "verkommenen Nihilismus" der Mörder von London nach. In der NZZ erinnert Zülfü Livaneli  an die Geschichte des Flüchtlingsschiffs "Struma". Und Teju Cole fragt in The New Inquiry, was Google mit der Fotografie (und diese mit Google) macht.

NZZ, 31.05.2013

Achim Engelberg unterhält sich mit Zülfü Livaneli über dessen jüngsten Roman "Serenade für Nadja", der das Schicksal des Flüchtlingsschiffs "Struma" zum Hintergrund hat, das 1942 im Schwarzen Meer von den Sowjets versenkt wurde, nachdem Briten und Türken den Flüchtlingen das von Bord gehen in Istanbul oder die Weiterfahrt nach Palästina verweigert hatten: "Faszinierend, wie viele der historischen Motive dieses Romans - das Massaker an den Armeniern 1915; die deutschstämmigen Modernisierungshelfer in den 1930er und 1940er Jahren; das Schicksal der Krimtataren, die zwischen die beiden großen totalitären Diktaturen gerieten - im Gespräch zu aktuellen Debatten und Widersprüchen der Türkei führen. Immer noch bleibt der Status vieler Minderheiten ungeklärt; die nächste Modernisierungswelle könnte das Land spalten; auch falsche Bündnisse und Verrat an Verbündeten drohen", notiert Engelberg.

Weitere Artikel: In Südkorea ist eine Sexismusdebatte ausgebrochen, nachdem der Sprecher von Präsidentin Park Geun Hye, jetzt zurücktreten musste, weil er bei einem Staatsbesuch in den USA schwer betrunken eine junge Studentin sexuell belästigt hatte, berichtet Ho Nam Seelmann. Die Autorin María Sonia Cristoff erklärt, warum der geplante Bau eines riesigen Medienzentrums auf den Demarchi-Inseln vor Buenos Aires nicht der argentinischen Filmindustrie dient, sondern nur "ein Feigenblatt der Immobilienspekulation" ist. Und ein begeisterter Martin Schäfer stellt die neue CD von Laura Marling vor, dem Darling des britischen Folk, der aussieht wie eine dritte Miss Fanning. Hier spielt sie live das Titelstück "I was an Eagle":


Welt, 31.05.2013

Recht befriedigt wandelt Hans-Joachim Müller durch die unabsehbaren Hallen der Biennale in Venedig: "Schon lange nicht mehr war in den traditionellen Kunsthäusern in den Giardini so wenig Spektakellust zu spüren, so wenig Interesse am laut tönenden Ereignis. Viel Stille in diesem Jahr, viel Nachdruck auf der Dringlichkeit. Eine Rückkehr zu ausstellerischer Besonnenheit, die angesichts der unorgansierbaren Vielzahl von Auftritten schon an ein kleines Wunder grenzt."

Weitere Artikel: Tilman Krause amüsiert sich über den Malerfürsten Markus Lüpertz, der Ärger bekam, weil er bei Rot über die Ampel ging. Michael Pilz porträtiert den Soulmusiker Shuggie Otis, der nach Jahrzehnten der Vergessenheit ein Comeback feiert. Constanze Reuscher schreibt den Nachruf auf Franca Rame. Michael Borgstede berichtet, dass die Kairoer Opernchefin Ines Abdel Dayem vom Kulturminiser Alaa Abdel-Asis, der den Muslimbrüdern nahesteht, gefeuert wurde - wie viele andere Kulturfunktionäre auch. Besprochen werden Ereignisse des "Sacre"-Jubiläums in Paris.

Weitere Medien, 31.05.2013

Ingo Langner erzählt auf cicero.de noch einmal, wie sich der Suhrkamp-Verlag nach dem Krieg vom Fischer-Verlag abspaltete - durchaus im Konflikt mit Gottfried Bermann Fischer, in dem Peter Suhrkamp keine sehr vorteilhafte Rolle spielte und der erst durch Vermittlung von Eugen Kogon gelöst werden konnte. Langner zitiert auch aus Fischers Erinnerungen, die zeigen, dass beide je ein völlig unterschiedliches Konzept verfolgten: "Suhrkamps Vorstellung vom Verlegen war die des 'Elite-Verlages', d.h. Bücher durften eigentlich nur in die Hände Berufener kommen und dementsprechend durfte nicht für die große Masse produziert werden. Dass er sich damit (...) in Gegensatz zu den Grundprinzipien S. Fischers stellte, wollte er nicht hören."

Kenan Malik denkt in der Jungle World über den "verkommenen Nihilismus" der beiden Londoner Soldatenmörder nach: "Er trieb die verdrehten paranoiden Phantasien des norwegischen Massenmörders Anders Breivik an, der 'eine europäische Version von al-Qaida schaffen' wollte. Er bildete die Basis für die Massaker in den USA in Aurora und Sandy Hook. Solche Taten bleiben selten. Aber die rudimentäre, ungebundene, menschenfeindliche Wut, aus der sie entspringen, der Hass der Täter und die Gleichgültigkeit gegenüber den eigenen Handlungen, die diese ausdrücken, sind typisch geworden für eine sehr gegenwärtige Art der Gewalt."

(Via Ekkehard Knörer) In einem schönen Essay für The New Inquiry stellt Teju Cole einige Fotografen vor, die mit Material aus Google Earth und Google Street View arbeiten, etwa Mishka Henner, der in einem Projekt niederländische Militäranlagen diokumentierte: "In another project, made using Google Street View and titled 'No Man's Land,' he finds images of sex workers standing on the roadside in rural Italian locations, most of them alone, and most in broad daylight. The images are painful and poignant, but the surprise is that there are so many to be found."

TAZ, 31.05.2013

Johannes Thumfart denkt über digitale Selbstinszenierung nach. Nadja Geer unterhält sich mit dem Londoner Elektronikduo Mount Kimbie alias Kai Campos und Dominic "Dom" Maker über ihr zweites Album "Cold Spring Fault Less Youth". Hier die Besprechung.

Besprochen werden eine Ausstellung in der Pariser Cité de l'architecture über den südfranzösischen Architekten Rudy Ricciotti, dessen jüngster Bau, das Musée des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée (Mucem) in Marseille, im Juni eröffnet wird, und das Album "Calling from the Stars" der französischen DJane, Sängerin und Musikproduzentin Miss Kittin.

Und Tom.
Stichwörter: Marseille

SZ, 31.05.2013

Allenthalben wird in aufgeblasenen Anträgen, Papieren und Studien von "kultureller Bildung" und deren Relevanz geredet, während der Unterricht in den musischen Fächern an den Schülern zusehends zerschlissen wird, ärgert sich Stephan Speicher. "Sätze von schillernder Zweideutigkeit" sind dem Autor und Verleger Jo Lendle bei einem Vortrag auf der LiteraturFutur über die Erübrigung des Verlagswesen im Zeitalter von Selfpublishing und Crowdfunding gelungen, meint Lothar Müller, der Lendles auf den ersten Blick für Verlage fatale Bestandsaufnahme - "Verlage sind schon heute definitiv nicht mehr nötig" - zu einem positiven Plädoyer umdeutet: "Verlage sind definitiv nötig." Kia Vahland bemängelt die "langweilige Werkauswahl" des auf der Kunstbiennale in Venedig erstmals mit einem Pavillon vertretenen Vatikans. Catrin Lorch spricht mit Jeremy Deller, der in Venedig den britischen Pavillon betreut. Robert Crumb spricht mit Christoph Haas und Fritz Göttler über seine Karriere als Underground-Comiczeichner. Georg Imdahl gratuliert dem Künstler Ellsworth Kelly zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Filmkomödie "Hangover 3", ein "Don Giovanni" in Zürich ("ein Mordsgegurke", schimpft Kristina Maidt-Zinke), Luc Bondys Abschiedsinszenierung des "Tartuffe" in Wien (ein "Triumph des Schauspieltheaters", strahlt Christine Dössel) und Bücher, darunter "Die halbe Sonne" von Aris Fioretos (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 31.05.2013

Nachdem die Telekom nun auch in der Sprachtelefonie Barrieren aufbaut, die kleinere und größere Konkurrenten benachteiligt - so sind im Telekomnetz geschaltete 0180-Servicenummern etwa für Sipgate-Kunden nicht mehr erreichbar -, ruft Constanze Kurz nach einer Reform der Bundesnetzagentur, die zu oft mit dem Ex-Monopolisten gemeinsame Sache mache: "Wenn schon Großkonzerne Schwierigkeiten haben, eine faire Behandlung zu erhalten, sieht es für kleine Start-ups und damit für die Innovationsfreude düster aus."

Abgedruckt ist ein Gedicht von Thomas Gsella, das man nur mit einem weinenden Auge lesen kann:
"Maidämmerung
Bäume schlagen aus, doch unter Mützen
Huschen Mäntel. Kalter Regen fällt
..."

Andreas Platthaus reist mit Matthias Politycki nach Usbekistan, über das der Schriftsteller in den letzten 25 Jahren ein Buch geschrieben hat: "Die weltanschaulichen Kriegsereignisse des Romans sind ... das Resultat meiner Reisen in den letzten Jahren. Nennen Sie mich konservativ, aber ich glaube, dass man nirgendwo so gut leben kann wie in Westeuropa. Ich habe bei aller hiesigen Gastfreundschaft die Verachtung gespürt, die überzeugte Muslime gegenüber unserem Leben empfinden."

Weitere Artikel: Leander Steinkopf staunt bei einer Tagung der Böll-Stiftung über Commons und das Internet über einige Commons-Erfolgsgeschichten, bemäkelt am Ende aber doch die "Revolutionsfreude bei gleichzeitiger Visionslosigkeit" der Internetaktivisten. Auf dem Debütalbum der Band Käptn Peng und die Tentakel von Delphi erlebt Klaus Ungerer das Endstadium des "deutschen Kopfpops": Hier kommt "die Menschheit an sich nur noch als Fußnote aus sieben Milliarden Idioten vor". Und im Video (hier mehr) ist der Kopfpop dann eh auch schon im Eimer:



Besprochen werden Luc Bondys "Tartuffe"-Inszenierung in Wien (die Gerhard Stadelmaier erwartungsgemäß in den Himmel lobt), Aufführungen von "Letzte Tage" und "Il Trovatore" bei den Wiener Festwochen, Terrence Malicks neuer Film "To the Wonder", und Bücher, darunter "In der Ferne das Glück", eine Sammlung von in Hollywood nicht realisierten Filmentwürfen deutscher Autoren (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).