Heute in den Feuilletons

Schönster Schweinerockismus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2013. Die türkischen Proteste erregen auch die Feuilletons. Die taz findet: "Zu Grabe getragen wird ein Projekt von welthistorischer Bedeutung: die Demokratisierung des politischen Islams." Der Guardian erzählt, wie türkische Oppositionelle per Crowdfunding eine Anzeige in der New York Times kaufen. Die FAZ erklärt, warum Erdogans Polizei so unbeliebt ist. Außerdem: Die Welt versucht herauszufinden, wer die Milliarden-Erben  Sylvia und Ulrich Ströher sind, die als weiße Ritter für Suhrkamp im Gespräch sind. Und die SZ fürchtet um die exception culturelle.

TAZ, 04.06.2013

Die Berliner Anwältin Seyran Ates erklärt im Interview mit Cigdem Akyol, warum sie sich wieder aktiv politisch betätigen will: "Seit ich 1984 von einem türkischen Nationalisten in Berlin angeschossen wurde und nur knapp überlebte, denke ich bei jedem Schritt in die Öffentlichkeit darüber nach, was passiert ist und was passieren könnte. Als ich 2009 wieder Morddrohungen bekam, musste ich mich zurückzuziehen - auch um meine Tochter zu schützen. Seitdem hat sich die Welt verändert, es wird ganz selbstverständlich über Ehrenmorde, Zwangsverheiratungen und Frauenrechte gesprochen. Der Arabische Frühling beschäftigt sich mit der sexuellen Selbstbestimmung. Ich bin keine Minderheit mehr."

Für Deniz Yücel richten sich die Proteste in Istanbul nicht nur gegen ein Bauvorhaben, sie sind auch nicht nur der Aufstand der urbanen Mittelschicht gegen die arme Provinzbevölkerung. Die Bewegung ("Hükümet istifa!" - Regierung tritt zurück!) bedeutet mehr: "Zu Grabe getragen wird ein Projekt von welthistorischer Bedeutung: die Demokratisierung des politischen Islams. Damit sind Erdogan und die Seinen einst zum Entzücken vieler Intellektueller in Europa angetreten, damit sind sie gescheitert."

Weiteres: Micha Brumlik verteidigt die Kinderläden gegen die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs, wie sie etwa der Focus erhoben hat: "Bislang gibt es keine Zeugen für Missbrauch in den Kinderläden", meint Brumlik. Katrin Bettina Müller folgt dem wandernden Festival Transfabrik, das der deutsch-französischen Freundschaft auf die Sprünge helfen soll. Julian Weber berichtet vom Montrealer Mutek-Festival für elektronische Musik. Besprochen werden Jürgen Grässlins Handbuch "Schwarzbuch Waffenhandel" und Jan Wolkers Klassiker "Türkischer Honig" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

NZZ, 04.06.2013

Ziemlich lustig findet Joachim Güntner die Hamburger Schau "Böse Dinge": Sie bezieht sich auf die "Abteilung der Geschmacksverirrungen", die der einstige Museumsdirektor und Werkbund-Vertreter Gustav Pazaurek in Stuttgart gegründet hatte: "Wie erfinderisch der Mann war, wenn es um Verdikte ging! Verschwenderischen Umgang mit kostbaren Stoffen geißelte er als 'Material-Protzerei', hatte aber der Gestalter zu Abfall gegriffen, so war das auch nicht recht, und Pazaurek rügte 'Material-Notzucht'. Ziselierte Porzellane verhöhnte er als 'Pimpeleien', ein mit Schmuck überladener Pokal galt ihm als Opfer von 'Ornament-Wut', bei einem Geschirr hingegen, dessen schlichtes Dekor eigentlich wirkt wie vom Werkbund ersonnen, störte ihn die 'Dekor-Primitivität'.

Weitere Artikel: Gerhard Gnauck erzählt von einer osteuropäischen Koproduktion, die das Leben der sowjetischen Schlager-Legende Anna German verfilmt. Jürg Zbinden gibt auf der Medienseite einen Überblick über das gründlich revidierte Genre amerikanischer Familienserien.

Besprochen werden unter anderem die Uraufführung von Friedrich Cerhas Oper "Onkel Präsident" in München, Alain Mabanckous Roman "Zerbrochenes Glas" und Raymond Carvers Gedichtband "Ein neuer Pfad zum Wasserfall" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 04.06.2013

Tim Ackermann sagt das wenige, das man so über das Ehepaar Sylvia und Ulrich Ströher sagen kann, die Wella an Procter und Gamble verkauften und nun ein angenehmes Leben als Kunstsammler führen - ins Gespräch kamen sie, als sie auf einen Schlag und für Abermillionen die Sammlung von Hans Grothe kauften. Nun sind sie als weiße Ritter bei Suhrkamp im Gespräch, und Ackermann zitiert aus dem einzigen Interview, dass sie je gaben: "Man lasse sich vor jedem Bilderwerb 48 Stunden Zeit, verriet Ulrich Ströher; im Zusammenhang mit den Grothe-Bildern sollen die Worte Investment und Asset gefallen sein. Dieses Bekenntnis zu kaufmännischem Sachverstand dürfte auch für die Suhrkamp-Geschäftsführung von Belang sein, falls denn die Ströhers wirklich die Anteile übernähmen."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit Regisseur Richard Linklater, der nach "Before Sunset" einen zweiten verplauderten Film mit Julie Delpy und Ethan Hawke herausbringt, "Before Midnight". Michael Pilz glossiert die Meldung, dass in den USA ein Themenpark für die Simpsons gebaut wird. Sascha Lehnartz besucht das nagelneue Museum der Zivilisationen Europas in Marseille. Besprochen wird ein Auftritt des großen Neil Young in Berlin.

Im politischen Teil erklärt Tilman Krause mit Blick auf die Proteste gegen die Schwulenehe, was es mit der "France profonde" auf sich hat.

Weitere Medien, 04.06.2013

(Via turi2) Türkische Oppositionelle haben per Crowdfunding 55.000 Dollar gesammelt, um eine Anzeige in der New York Times zu schalten, berichten Tom McCarthy and Raya Jalabi im Guardian: "'We want the world to hear from Turks themselves about what's happening in Turkey,' reads a campaign mission statement. 'We want the world to support us as we push for true democracy in our country.' The campaign is steered by three individuals - Murat Aktihanoglu, Oltac Unsal and Duygu Atacan - who claim to represent the 'Turkish People' with 'no organizations, parties or affiliations'." Die Protestierenden sind aufgefordert, die Anzeige mit zu formulieren.

FAZ, 04.06.2013

Karen Krüger unterhält sich mit türkischen Demonstranten über Taktiken des Straßenkampfs und über die verhasste Polizei: "In den elf Jahren seit seinem Amtsantritt hat Erdogan die Polizei zu seinem persönlichen Kettenhund gemacht. Brutal geht sie bei allen Demonstrationen von Regierungsgegnern vor, und es existieren Belege, dass Anklageschriften in Polizeistuben verfasst werden, wenn die Staatsanwaltschaft keine Anklagegründe gegen ins Visier genommene politische Gegner des Ministerpräsidenten findet. Zudem gelten große Teile des Polizeiapparates als Anhänger der weltweit agierenden Fethullah-Gülen-Bewegung, von der gesagt wird, sie strebe eine islamistische Weltordnung an."

Weitere Artikel: Eckhart Grünewald hat in der Public Library von New York erstmals zugängliche Briefe von Stefan George an seinen "Nächsten Liebsten" Ernst Morwitz gelesen: "Sicherlich sind die Biographie Georges und die Geschichte des Kreises ... nicht neu zu schreiben. Doch werden viele unserer Kenntnisse erweitert, bestätigt oder korrigiert". Daneben sind zwei Seiten aus dem Manuskriptband zum George-Kreis abgedruckt, den Ernst Morwitz um 1962 geschrieben hat. Emanuel Derman erklärt Finanz-Euphemismen: "Schauen Sie einmal, was Sie mit Alpha, Beta, Gamma, Konvexität und Zeitwertverfall anfangen können - sie passen auf viele Lebenssituationen". Martin Halter verabschiedet Hasko Weber vom Stuttgarter Theater. Abgedruckt sind ein Gedicht und eine Notiz aus dem Gefängnis von Li Bifeng. Joachim Willeitner beklagt die Zerstörung von Kulturgütern im syrischen Bürgerkrieg.

Besprochen werden ein Konzert von Neil Young und Crazy Horse in der Berliner Waldbühne ("20 000 überwiegend ergraute, vom Leben zerfurchte Herrschaften sangen aus voller Kehle 'It's better to burn out than to fade away'", notiert Wolfgang Schneider), eine Ausstellung über die Kunst der Jagiellonen-Dynastie im Potsdamer Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Friedrich Cerhas Opern-Komödie "Onkel Präsident" in München, die Uraufführung von Jan Fabres Performance "Tragedy of a Friendship" (über Wagner und Nietzsche) in Antwerpen und Bücher, darunter Nellja Veremejs Roman "Berlin liegt im Osten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 04.06.2013

Unter Europas Kulturschaffenden regt sich Widerstand gegen das geplante Handels- und Investititionsabkommen (Tafta), das die transatlantischen Handelsbeziehungen vereinheitlichen und deregulieren würde, informieren Jan Füchtjohann und Tobias Kniebe. Insbesondere Filmschaffende fürchten den Ausverkauf gegenüber der Marktmacht der USA und sehen die 1993 durchgesetzte "exception culturelle" bedroht: "Sollte die Ministerrunde vom 14. Juni keine Ausnahme für die Kultur mehr zulassen, sehen sich Europas Kulturschaffende um ein hart erkämpftes Sonderrecht und um einen historischen Sieg gebracht - noch ganz unabhängig davon, wie die Verhandlungen weitergehen, und ob wirklich jemand Ernst damit macht, ihnen die subventionierten Geldhähne zuzudrehen."

Weitere Artikel: "Die Stadt gehört den Baufirmen", bringt die Architektin Selva Gürdogan gegenüber Laura Weissmüller die Situation in Istanbul auf den Punkt. Für "spielerisch, mythologisch inspiriert, farbstark und autark" hält Kia Vahland die in Venedig zu sehende Kunst des Taiwanesen Chia-Wei Hsu, die dem Frosch huldigt. Willi Winkler frönt beim Konzert von Neil Young "schönstem Schweinerockismus". Martina Knoben resümiert das Münchner Comicfestival, Felix Stephan das "Woodstock des Geistes", das Hay Festival in Wales, wo die liberale, intellektuelle Briten sich über ökologisches Konsumverhalten austauschen.

Online staunt Bernd Graff über süßlich-sanft geflüsterte Entspannungsvideos von jungen Frauen, die ihm damit ungeheure Gefühle bescheren.

Besprochen werden die bei den Wiener Festwochen aufgeführte Performance "Kommune der Wahrheit" und Bücher, darunter Steffen Vogels "Revolution von oben" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).