Heute in den Feuilletons

Bereits fertig gemischte Tubenfarben

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.06.2013. Die Begeisterung  über den Büchner-Preis für Sybille Lewitscharoff ist allgemein sehr groß: Nur die taz hat Bedenken gegen ihren bekennenden Kulturkonservatismus. In der Welt erklärt Henryk Broder, warum er kein Börne-Preisträger mehr sein will, wenn Peter Sloterdijk einer ist. Die SZ und Netzpolitiker Markus Beckedahl sind sich einig: Es kommt nicht darauf an, dass Politiker im Wahlkampf twittern - sondern dass sie sich für Netzneutralität stark machen. Die FAZ würdigt van Gogh als Techniker.

Welt, 05.06.2013

"Wenn es sie nicht gäbe, man müsste sie schlechterdings erfinden", kommentiert Tilman Krause die Meldung, dass Sibylle Lewitscharoff der Büchner-Preis zuerkannt wird: Völlig zurecht attestiere ihr die Darmstädter Akademie "erfrischend unfeierlichen Sprachwitz": "Genau das unterscheidet sie von den tranigen Bildungshubereien eines Durs Grünbein: Sie ist, bei aller Gelehrtheit, die bisweilen durchaus in eine gewisse Spitzfindigkeit übergehen kann, komisch oder, um es mit einem Codewort ihres wunderbaren Stuttgart-Essays zu sagen: lustig."

Weitere Artikel: Dankwart Guratzsch beklagt Folgen des Hochwassers fürs Kulturleben (unter anderem müssen in Halle die Händel-Festspiele ausfallen). Gerhard Gnauck hat Juri Luzenko getroffen, den ehemaligen Innenminister der Ukraine, der wie Julia Timoschenko ins Gefängnis gesteckt worden war und nun aus heiterem Himmel begnadigt wurde - und der Gnauck erzählt, welche Lektüren ihm halfen, die zwei Jahre zu überstehen. Alan Posener bekennt in seiner Kolumne "J'accuse" sein tiefes Misstrauen gegenüber "falschen Freunden Israels", zu denen er evangelikale Christen, aber auch die "Antideutschen" zählt ("Die Solidarität mit Israel ist, wie die Kanzlerin meinte, Teil der deutschen Staatsräson und nicht Sache einiger buchgläubiger Fanatiker, die statt der Bibel die Werke Theodor Adornos als Heilige Schrift verehren"). Grauenhaft klingt zudem, was Julia Smirnova über die - russischen Präsidenten im TV persönlich annoncierte - putinistische Bereinigung russischer Schulbücher schreibt, die künftig allesamt der "offiziellen Bewertung" der Ereignisse gehorchen sollen.

Aus Gründen der "sozialen Hygiene" erklärt Henryk Broder im Forum, dass er den Börne-Preis zurückgibt - weil er nicht einem Kreis mit dem diesjährigen Preisträger Peter Sloterdijk angehören will. Er wirft Sloterdijk (ähnlich wie Roger Willemsen und anderen) vor, sich nach dem 11. September als "Terrorversteher" profiliert zu haben: "In einem Interview mit der Welt am Sonntag sprach er von einem 'Zwischenfall in amerikanischen Hochhäusern', als wäre irgendwo kurz die Klimaanlage ausgefallen, und buchte den 11. September unter 'den schwer wahrnehmbaren Kleinzwischenfällen' ab. Im Focus stellte er die rhetorische Frage: 'Haben wir immer noch nicht verstanden, dass die westliche Demokratie jene Lebensform ist, in der man für seinen Feind verantwortlich ist - weil dieser die eigene Praxis widerspiegelt?'"

TAZ, 05.06.2013

Mäßig begeistert ist Dirk Knipphals vom Büchnerpreis für die Autorin Sibylle Lewitscharoff, deren durchaus hohe formale Ästhetik ihm auch sehr konservativ erscheint: "Sibylle Lewitscharoff ist eine Autorin, die unglaublich gut formulieren kann, bei der man sich aber auch immer fragt, ob sie wirklich ernst meint, was sie da so wohlformuliert von sich gibt. Sie meint es ernst. Das mit dem Schmutz und der Schuld beispielsweise. In den Poetikvorlesungen sucht sie die Zwiesprache mit toten Genies, während sie mit der Gegenwart 'Geschwätz' verbindet und von realistischen Konzepten der 'Vulgarität' Tür und Tor geöffnet sieht."

In ihrer Medienkolumne staunt Silke Burmester nicht schlecht, wie sich Hamburger Top-Journalisten auf die Beine stellen, wenn ihr Lieblingsitaliener umziehen soll: Bisher hatte sie in Sachen Verdrängungspolitik nicht so viel von den Herren gehört.

Besprochen werden eine Ausstellung Kurt Schwitters Jahre in der Londoner Emigration im Sprengel Museum Hannover und Nellja Veremejs Debütroman "Berlin liegt im Osten" (siehe auch unsere Bücherschua des Tages).

Und Tom.

Aus den Blogs, 05.06.2013

Netzpolitiker Markus Beckedahl schreibt in seiner N24-Kolumne mit Blick auf die geplanten Internetdrosselungen der Telekom: "Angela Merkel verkündete vor zwei Jahren in ihrer wöchentlichen Internetansprache, dass Netzneutralität ihr wichtig sei und es kein Internet erster und zweiter Klasse geben dürfe. Die Deutsche Telekom schafft gerade dieses Zweiklassennetz. Frau Merkel, es ist Zeit zu handeln und Ihren Worten Taten folgen zu lassen."

Peter Turi guckt sich das neue Layout von Spiegel Online an: "Spiegel Online arrangiert seine Homepage neu, rückt dabei Werbung für die Print-Ausgabe in den Mittelpunkt und erhöht den Anteil an Bildern und Video-Vorschauen." Bei Spiegel Online wird das Layout so erklärt.

Gawker hat bereits ein Symbol für die Demonstranten in Istanbul ausgemacht: Eine Frau in rotem Kleid, die von einem Polizisten attackiert wird. "Erdogan sagte gestern, die Demonstranten 'lebten Arm in Arm mit dem Terrorismus'. Darum ist dieses Foto so mächtig. Die Frau in dem roten luftigen Sommerkleid stellt wohl kaum eine Bedrohung für den Polizisten dar, der ihr Tränengas ins Gesicht sprüht."

Außerdem meldet Gawker - mit vielen weiterführenden Links - dass Pablo Neruda möglicherweise von einem CIA-Agenten ermordet wurde.

Tagesspiegel, 05.06.2013

Patrick Wildermann unterhält sich mit dem libanesischen Künstler und Schauspieler Rabih Mroué über dessen Gastspiel in Berlin, seine Hommage an die große libanesische Künstlerin Etel Adnan und den Untergang des alten Beiruts: "Es gibt vielleicht noch ein, zwei Straßen, in denen man das Gefühl hat, in einer kosmopolitischen Stadt zu leben. Tatsächlich ist der Libanon geteilt in monokulturelle Inseln. Wer dort eintritt, wird wie ein Fremder oder Verdächtiger behandelt."

NZZ, 05.06.2013

Jürgen Tietz wandert staunend durch die Architekturen Schanghais, die Hochhausschluchten und die traditionellen Li-Long-Bauten. Aldo Keel berichtet, dass den Isländern mit ihrem kleinem Genpool jetzt eine App zur Inzestvermeidung zur Verfügung steht. Besprochen werden Christian Boltanskis Schau "Bewegt" im Kunstmuseum Wolfsburg, eine Ausstellung über die "Macht des Glaubens" in Heidelberg, die Globalgeschichte "Weltmärkte und Weltkriege 1870-1945" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 05.06.2013

Nach den "Drosselkom"-Ankündigungen ist Netzneutralität wichtiger als wohlfeile Politikertwitterei, redet Claudia Tieschky im Medienteil der Politik ins Gewissen und verweist dabei insbesondere auch auf den gesellschaftlichen Auftrag des zusehends im Netz stattfindenden öffentlich-rechtlichen Rundfunks: "Netzneutralität wäre die Mindestanforderung, um die geschützte Rundfunkwelt - aber auch andere gesellschaftlich wichtigen Inhalte einer demokratischen Gesellschaft - auf das technikgetriebene Geschäftsmodell Internet zu übertragen."

Weitere Artikel: Der Zorn der Türken rund um den Taksim-Platz habe recht wenig mit "Erdogans Islamisierungs-Agenda" zu tun, meint Tim Neshitov. Auch Assoziationen mit dem arabischen Frühling seien verkehrt: denn in Wirklichkeit wollten sich auch die Frommen ihr Leben nicht von Erdogan vorschreiben lassen. Harald Eggebrecht unterhält sich mit dem Cellisten Yo-Yo Ma über die Hochkultur im Konzert heutiger Zerstreuungsmöglichkeiten. Thomas Urban unterhält sich mit der spanischen Schriftstellerin Almudena Grandes über ihren neuen Roman, der die Franco-Ära aufarbeitet. Andreas Tönnesmann schreibt den Nachruf auf den Kunsthistoriker Norbert Huse.

Besprochen werden eine Aufführung von Giuseppe Verdis "Simon Boccanegra" an der Bayerischen Staatsoper, Richard Linklaters neuer Film "Before Midnight", Dieter Reifarths Dokumentarfilm über die Villa Tugendhat (der laut Kia Vahland dem Haus gegen die "Mies-Disneyfizierung (...) ein Stück Geschichte zurück" gibt) und Bücher, darunter Zeina Abiracheds Comic "Das Spiel der Schwalben" (hier mehr und in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 05.06.2013

Andreas Platthaus gratuliert der "Furorformalistin" Sybille Lewitscharoff zum Büchner-Preis: "Aus ihren Büchern spricht ein unbedingter Gestaltungswille: die Welt als Wille und Vollstreckung."

Stefan Koldehoff lernt in der Ausstellung "Van Gogh at work" im Van Gogh Museum in Amsterdam, dass Vincent van Gogh erstens ein denkender Maler war und zweitens die Innovationen seiner Zeit für seine Kunst nutzte: "Die kurz zuvor entwickelten, bereits fertig gemischten Tubenfarben hatten die aufwendige Zubereitung mit Bindemitteln überflüssig gemacht. Fortan war es möglich, die Farben in kleinen Holzkoffern direkt mit zu jenen Motiven zu nehmen, die man malen wurde. Die Pleinairmalerei der Schule von Barbizon, die van Gogh in Büchern, Zeitschriften und vor den Originalen studierte und die schließlich zum Impressionismus führen sollte, war auch eine Folge veränderter technischer Möglichkeiten."

Der Architekt Hans Kollhoff fordert die Politiker auf, die Finger vom für den Alexanderplatz geplanten Hines-Tower zu lassen, an dem sie schon wieder rummanipuliert haben: "Beim Hochhaus ist alles Proportion und Eleganz." Und der Alexanderplatz brauche auch Hochhäuser: "Den wirklichen Kampf bestimmt das maßlose Verlangen nach zusammenhängender Einzelhandelsfläche. Die Blöcke sollen zu einem riesigen Klumpen vereinigt werden, einem Klumpen, so groß wie das Alexa-Center oder noch größer."

Weitere Artikel: Der Autor Ulrich Peltzer überlegt, was die Irrationalität des Kapitals für das Erzählen bedeutet. Gina Thomas erzählt, wie sich die Briten gerade an die Profumo-Affäre vor fünfzig Jahren erinnern: mit einer neuen "geheimen Liebesaffäre", die die Regierung erschüttern soll, über die man aber nichts genaues weiß (mehr in der Daily Mail). Mark Siemons, Inhaber einer chinesischen Mobilfunknummer, gewinnt durch Werbe-SMS einen Einblick in die chinesische Schattenwirtschaft. Martin Otto erinnert an Jan P. Schniebels Comics vom "Rotfuchs". Sarah Khan erklärt das "Family System" in Pakistan, das den Staat einerseits am Laufen hält, andererseits die Korruption tief in der Gesellschaft verwurzelt. Eva Rieger erklärt "Die Walküre", 3. Aufzug, 1. Szene, Takte 534 bis 562. Auf der Medienseite kritisiert Karen Krüger die türkischen Medien, die praktisch nicht über die Proteste in Istanbul berichten. Gut, dass es Twitter und Youtube gibt.

Besprochen werden eine Adaption von Aki Kaurismäkis "Das Mädchen aus der Streichholzfabrik" für das Schauspielhaus Bochum, Richard Linklaters Film "Before Midnight" und Bücher, darunter Arne Rautenbergs Gedichtband "mundfauler staub" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).