08.06.2013. Das Abhörprogramm der Obama-Regierung lässt die Feuilletons erstaunlich kalt: Warum soll die Regierung nicht dürfen, was Google und Amazon ja längst machen, fragt die Welt. Russen und Chinesen hätten immer schon gewarnt, dass Amerikaner und Israelis so etwas tun, meint Frank Rieger vom Chaos Computer Club in der FAZ. Die Internetkonzerne scheinen sich laut New York Times jedenfalls kaum gewehrt zu haben. Außerdem: Religionskritik führt nur zu Rechtsfundamentalismus warnt die FR. In der taz besingt Dilek Zaptcioglu die Vorteile von Twitter beim Protest.
Welt, 08.06.2013
Auch große
Internetkonzerne erstellen Nutzerprofile,
so Alan Posener auf Seite 1 zu den Enthüllungen über das
Abhörprogramm der Obama-Regierung: "Soll der Staat nicht die
gleichen Methoden anwenden dürfen wie Microsoft, Google, Amazon und Co. - nicht um Ihnen etwas zu verkaufen, sondern um Ihr Leben zu schützen? Wer sich etwa mit Vorliebe
radikal-islamische Hetzseiten ansieht, Anleitungen zum Bombenbasteln herunterlädt oder auf Facebook Hassbotschaften verbreitet, sollte ins Visier der Geheimdienste geraten." (Ja ja, und wer die späten
Mädchen-Akte von Renoir betrachtet, bekommt einen Eintrag in die Pädophilen-Kartei.)
Fürs Feuilleton
unterhält sich Boris Kalnoky mit Türkei-Kenner
Günter Wallraff über die Istanbuler Proteste. Wallraff will Tayyip Erdogans Verdienste für die Wirtschaft und Aussöhnung mit den Kurden nicht mindern: "Zugleich fand aber eine
stetige Islamisierung statt, laizistische Lehrer wurden ausgetauscht und durch Frömmler und AKP-Aktivisten ersetzt, es gab Säuberungen in den Behörden und fast eine
Gleichschaltung der Presse - wie weit das fortgeschritten war, hat man in dieser Krise erst richtig gesehen, als in den türkischen Sendern in den ersten Tagen die Proteste kaum vorkamen, sondern über
Pinguine und Schizophrenie und die Strahlung auf dem Mars berichtet wurde."
Weitere Artikel: Manuel Brug
schreibt zum Tod von
Esther Williams und
beschwert sich über die Absetzung der
Händel-Festspiele im überfluteten Halle. Besprochen werden eine
Ausstellung über die
Presse im Dritten Reich in der
Topografie des Terrors. Andreas Rosenfelder geht mit
Else Buschheuer in Leipzig asiatisch essen. Im Forum
hält Richard Herzinger
Abstand.
Die
Literarische Welt bringt eine "Pong"-
Episode aus dem neuen Roman der frisch gekürten Büchner-Preisträgerin
Sibylle Lewitscharoff. Thomas Kielinger
unterhält sich mit
Judith Kerr über ihren Vater Alfred Kerr, das rosa Kaninchen, das Exil und mehr. Besprochen werden unter anderem
Stephen Kings neuer (bisher nur auf englisch zu lesender)
Roman "Joyland",
J. G. Farrells wiederentdeckter
Roman "Troubles" (empfohlen von
Stephan Wackwitz), eine
Biografie über
Dennis Hopper und ein
Buch über einen der Tiefpunkte der westlichen Zivilisation,
Christian Manns Studie über die
römischen Gladiatorenkämpfe.
Weitere Medien, 08.06.2013
Google und Facebook haben inzwischen öffentlich erklärt (
hier und
hier), dass sie der Regierung nie
direkten Zugang zu ihren Servern gegeben hätten. Doch gab es zumindest Verhandlungen darüber, wie man ihr das Spionieren
erleichtern könnte,
berichtet Claire Cain Miller in der
New York Times: "The companies that negotiated with the government include
Google, which owns YouTube;
Microsoft, which owns Hotmail and Skype;
Yahoo;
Facebook;
AOL;
Apple; and
Paltalk, according to one of the people briefed on the discussions. The companies were legally required to share the data under the Foreign Intelligence Surveillance Act. People briefed on the discussions spoke on the condition of anonymity because they are prohibited by law from discussing the content of FISA requests or even acknowledging their existence. In at least two cases, at Google and Facebook, one of the plans discussed was to build
separate,
secure portals, like a digital version of the secure physical rooms that have long existed for classified information, in some instances on company servers. Through these online rooms, the government would request data, companies would deposit it and the government would retrieve it, people briefed on the discussions said."
In
The Atlantic hat Bruce Schneier noch
viele Fragen zu den
Überwachungspraktiken amerikanischer Behörden. Und er fordert potentielle Whistleblower auf, sich zu äußern: " Knowing how the government spies on us is important. Not only because so much of it is illegal -- or, to be as charitable as possible, based on novel interpretations of the law -- but because we have
a right to know. Democracy requires an
informed citizenry in order to function properly, and transparency and accountability are essential parts of that. That means knowing what our government is doing to us, in our name. That means knowing that the government is operating within the constraints of the law. Otherwise, we're
living in a police state. We need whistle-blowers."
Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung
Frank William La Rue sieht das genauso,
berichtet Andre Meister, der auf
Netzpolitik das sehr lesenswerte Statement La Rues zusammenfasst: "Durch den technischen Fortschritt hat nicht nur die Kommunikation zugenommen, sondern auch die Möglichkeit von Staaten, diese zu überwachen. Doch 'das Recht auf freie Meinungsäußerung kann
nicht ohne Privatsphäre in der Kommunikation gewährleistet werden', so der Sonderberichterstatter. Moderne Überwachungstechnologien ermöglichen Staaten die invasive und willkürliche Überwachung von Personen, die teilweise gar nicht wissen können, dass sie überwacht werden und erst recht nicht in der Lage sind, sich zu wehren."
TAZ, 08.06.2013
Die
Schriftstellerin Dilek Zaptcioglu erzählt, welche Rolle
Twitter am Anfang der Proteste in
Istanbul rund um den Taksim spielte: "Eine Frühsommernacht in Istanbul, von Weitem hörte man Autos, irgendwo in der Nachbarschaft am Bosporus lachte eine Frau. Ich trank Tee, schaute noch mal auf
Twitter, las: 'Dikkat!' - Achtung! - 'Bulldozer sind in den Park gekommen!! Wir sind zwanzig Leute und versuchen sie zu stoppen!! Brauchen Verstärkung!!' Nach Sekunden war dieser Tweet x-mal retweetet. Nach einer Viertelstunde war der linke Abgeordnete Sirri Süreyya Önder da und fünfzig Demonstranten. Dann ein Tweet mit Foto, unscharf: darauf schemenhafte Figuren vor einer riesigen gelben Arbeitsmaschine, drum herum Bäume wie Geister im Straßenlicht. Das Handyfoto wurde
einige tausendmal retweetet. ...
In dieser einen Nacht hatte ich Hoffnung."
Sven Reichardt
arbeitet die Toleranz des frühen
linksalternativen Milieus gegenüber Pädophilie auf und schließt: "Repression, freie Sexualität und Tabubruch waren gleich drei zentrale Dimensionen des Selbstverständnisses, auf die man in Teilen des linksalternativen Milieus nahezu
reflexhaft reagierte."
"Wo diskutiert man
schlechter? Bei
Twitter oder bei
Jauch?", hat sich Arno Frank gefragt und zur Beantwortung im Selbstexperiment vier Wochen lang Jauchs Sonntagabendtalk und parallel den
Hashtag #Jauch
verfolgt. Am Ende des Experiments steht vor allem Missmut: "'
Günther Jauch' ist, wie die meisten politischen Talks zu erträglichen Sendezeiten, alles andere als ein Hochamt der
Debattenkultur. Es ist eine massentherapeutische Sitzung mit dem Ziel, alles so zu belassen, wie es ist."
Weitere Artikel: Andreas Fanizadeh
plädiert dafür, die Demokraten unter den Rebellen in
Syrien von westlicher Seite aus militärisch zu unterstützen. Uwe Soukop
besucht den SPD-Mann
Egon Bahr, der Willy Brandts Ostpolitik stark beeinflusste. Elise Graton
porträtiert den
Comiczeichner Baru. Für die Nord-Ausgabe hat sich Andreas Schnell außerdem mit dem Hamburger Punk-Künstler
Jens Rachut getroffen (beim
WDR gibt es gerade dessen aktuelles Hörspiel
als Download).
Besprochen werden der Ökosex-Dokumentarfilm
"Fuck for Forest" (den Cristina Nord auch deshalb in Bausch und Bogen
verreißt, weil dessen naive, sektenartige Öko-Message in der
taz allzu schnell viele Freunde findet) und Bücher, darunter
Pierre Rosanvallons Studie "Die Gesellschaft der Gleichen" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
Und
Tom.
NZZ, 08.06.2013
Mit Blick auf das Lucerne Festival mit seinem ganz eigenen Orchester
sprechen Claudio Abbado und
Pierre Boulez über die Arbeit mit jungen und erfahrenen Musikern, die in Luzern beosnders intensiv zusammenarbeiten. Boulez sagt: "Es gibt kein anderes Festival in deutscher, in französischer, in englischer Sprache, wo es auf ähnlichem Niveau und in diesem Umfang
einen solchen Austausch gibt zwischen Menschen, die im Beruf stehen, und solchen, die diesen Beruf erst anstreben."
Überdies werden in
Literatur und Kunst einige Bücher argentinischer Autoren besprochen, darunter
César Airas Roman "Der Literaturkongress".
Im Feuilleton
denkt Martin Meyer noch einmal über die Terrorakte von
Boston und London nach. Für die "Schlaflos"-Kolumne ist heute unter dem Titel "Und dann und wann ein weiser Esel" der Lyriker
Said wachgeblieben. Joachim Güntner freut sich, dass Twitter und Facebook auch dazu dienen können, spontane Hilfsaktionen für die Opfer der Flut zu organisieren. Marion Löhndorf
inspiziert Sou Fujimotos Serpentine Pavillon in London.
Weitere Medien, 08.06.2013
Melancholisch wird Joseph von Westphalen in seiner
Kolume für die
Abendzeitung. Wer
jede Woche ein Buch liest und hundert wird, schafft allenfalls 4.000 Titel: "Dabei sind, trotz der Unmassen von gedrucktem Schrott, 4.000 Bücher
nur ein Bruchteil dessen, was lesenswert ist."
Bettina Steiner kann mit der Entscheidung der Leipziger Uni, nur noch die
weibliche Form von Berufsbezeichnungen zu benutzen, leben und
kommentiert in der
Presse: "Im Leipziger Senat fand das generische Femininum jedenfalls eine Mehrheit. In der Folge beschwerten sich einige Studenten, Absolventen und Professoren, das generische Femininum diskriminiere Männer. Und das generische Maskulinum? Interessant, wie oft sich
Männer diskriminiert fühlen von Dingen, die Frauen
von jeher ertragen mussten."
Über den Krieg in
Syrien sagt die inzwischen in Deutschland lebende syrische Autorin
Rosa Yassin Hassan im Gespräch mit Laura Overmeyer von
Qantara: "Noch ist es
kein Bürgerkrieg. Um zu verhindern, dass es so weit kommt, muss die Regierung stürzen. Einheit wird das syrische Volk nur in einer
Demokratie finden und die wird mit Assad nicht zustande kommen. Je früher das Regime verschwindet, desto größer ist die Chance, dass wir unser Land wieder aufbauen und zu einer Gesellschaft zusammenwachsen können. In jedem Fall wird es ein langer Weg sein."
In der
FR/
Berliner Zeitung wappnet sich Dirk Pilz schon mal vorsorglich für künftige Religionsdebatten, die er für so unausweichlich hält wie das "Amen" in der Kirche. Den
Religionskritikern, die er hysterisch findet, redet er dabei ins Gewissen: "Mit Gesetzen sind Religionen nicht aus der Welt zu schaffen, es sei denn durch 'Krieg', es sei denn durch
Rechtsfundamentalismus, der wie alle Fundamentalismen wäre: gewaltsam." (Und so geht es weiter. Grauenhaft, einfach grauenhaft.) Außerdem in der
FR: Daland Siegler
empfiehlt Filme des japanischen
Filmfestivals Nippon Connection in Frankfurt.
Aus den Blogs, 08.06.2013
Ein fait divers erschüttert Frankreich: Der "Antifa"
Clément Méric wurde von Skinheads erschlagen. Politiker der französischen Opposition setzen seitdem linksextreme und rechtsextreme Gewalt gleich. Dagegen
wendet sich Pascal Riché in
Rue89: "Dieser Vergleich ist bestenfalls naiv, schlimmstenfalls pervers. Selbst wenn in den siebziger Jahren einige Gruppen der extremen Linken Gewalt gegen die Grundordnung und ihre Symbole legitimierten, so kann man sie doch nicht mit den
Gewaltorgien und der Schwulenhatz der Hitler-Nostalgiker gleichsetzen."
SZ, 08.06.2013
Einen amüsierten Blick wirft Kurt Kister unter die "Käseglocke" der Politik in Berlin, insbesondere die scheibchenweise Vorstellung von
Steinbrücks Kompetenzteam beschreibt er als ein kurioses Nicht-Ereignis. Mounia Meiborg geht gemeinsam mit "40 Dramaturgen, Regisseuren, Autoren, Schauspielern und Journalisten" auf
Busreise zu insgesamt fünf Theateraufführungen in ganz Europa. Thorsten Glotzmann fasst eine Diskussion in Tübingen zwischen dem
Philosoph Charles Taylor und der
Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer über die Säkularisierung muslimischer Staaten zusammen.Peter Richter unterhält sich mit dem Lichtkünstler
James Turrell. Fritz Göttler verabschiedet sich von der Musicaldarstellerin und Schwimmerin
Esther Williams.
Besprochen werden Bücher, darunter
Reinhard Jirgls Roman "Nichts von Euch auf Erden" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
In der
SZ am Wochenende stattet Hilmar Klute der "Galerie der jüngsten
Vorbild-
Desaster" (von Guttenberg über Wulff bis Hoeneß) gesenkten Hauptes einen Besuch ab. Rebecca Casati schreibt
Johnny Depp einen Liebesbrief zum 50. Geburtstag. Joachim Käppner erinnert an
historische Hochwasser. Außerdem gibt
Ethan Hawke im Gespräch Beziehungstipps.
FAZ, 08.06.2013
Im Interview mit Michael Hanfeld zum
Internet- und Telefonabhörprogramm der amerikanischen Regierung gibt Frank Rieger vom Chaos Computer Club den Abgeklärten. Die
Russen und die
Chinesen hätten immer wieder gewarnt und Recht behalten: "Dass solche Programme existieren und dass insbesondere die
Amerikaner, aber auch die
Israelis und andere in großem Maß auf die Daten von Unternehmen zugreifen und mit diesen Kooperationsvereinbarungen haben oder sich dort reinhacken, ist für Kenner der Materie nicht weiter überraschend. Für alle anderen galt das lange als Verschwörungstheorie."
Weitere Artikel: Rainer Meyer (alias Don Alphonso) meditiert über die Rolle der
Donau für die Bayern und fordert auf, die Sache aus mal aus Sicht der Flut zu betrachten: "Die Donau nimmt wieder ihren Bereich in Besitz und lässt den Menschen das, was ihr
Respekt erwiesen hat." Nils Minkmar denkt über den Tod
Clément Mérics nach und fragt, ob
Weimar jetzt an der
Seine liege. Dieter Bartetzko unterhält sich mit
Reinhard Mey, der seine Erschütterung über die schwulenfeindliche Bewegung in Frankreich bekennt.
Besprochen werden eine "
Ariadne auf Naxos" in Glyndebourne,
Philippp Löhles neues Stück "Du (Normen)" in Mannheim und Bücher, darunter
Eigen Ruges neuer Roman "Cabo de Gata" und
Katajun Amirpurs Essay "Den Islam denken" über Reformthologen des Islam (rezensiert von
Necla Kelek, mehr in unserer
Bücherschau ab 14 Uhr).
Für die
Frankfurter Anthologie liest Gisela Trahms
Andre Rudolphs Gedicht "im morgenrot sehn wir/das innre kind, wie es".