Heute in den Feuilletons

Automatisch aufgesaugt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.06.2013. Der Prism-Skandal beschäftigt fast alle Medien. Wir bringen eine ganz aktuelle Presseschau - auch mit Informationen über den Whistleblower Edward Snowden. Auch deutsche Medien befassen sich mit der Affäre: Das Geheimnis hat die Schranken des Rechtsstaats gesprengt, meint die FAZ. Focus meldet, dass Hans Barlach Einspruch gegen das Schutzschirmverfahren für Suhrkamp einlegt. In Spiegel Online appelliert Hamed Abdel-Samad an die deutsche Regierung, die in Ägypten zirkulierenden Mordaufrufe gegen ihn zu verurteilen. Für die NZZ besucht Tom Schulz das Wohnhaus Paul Celans in Czernowitz.

Weitere Medien, 10.06.2013

(Die Grafik zeigt die gestrige Titel-Aufmachung der Huffington Post, die heute, wie alle Medien, über den Whistleblower Edward Snowdon berichtet.

Washington Post und Guardian haben - offenbar auf seinen eigenen Wunsch hin - die Identität des Whistleblowers enthüllt, der die Berichte über Aktivitäten des amerikanischen Abhördienstes NSA veröffentlicht hat. Es ist der 29-jährige amerikanische Techniker und Leiharbeiter für die NSA, Edward Snowden. Spiegel online hat die Berichte zusammengefasst: "Ich will nicht in einer Welt leben, in der alles was ich mache und sage aufgenommen wird", wird Snowden zitiert. "'Die NSA hat eine Infrastruktur aufgebaut, die ihr erlaubt, fast alles abzufangen.' Damit werde der Großteil der menschlichen Kommunikation automatisch aufgesaugt. 'Wenn ich in ihre E-Mails oder in das Telefon ihrer Frau hineinsehen wollte, müsste ich nur die abgefangenen Daten aufrufen. Ich kann ihre E-Mails, Passwörter, Gesprächsdaten, Kreditkarteninformationen bekommen.'"

Edward Snowdon hat sich nach Hongkong abgesetzt. Ihm drohen wie Bradley Manning, Julian Assange, Aaron Swartz oder John Kiriakou lange Gefängnisstrafen. Ob der amerikanische Journalist Glenn Greenwald, der Snowdens Dokumente im Guardian veröffentlicht hat, jemals in die USA zurückkehren kann, fragt sich Gawkers Max Rivlin-Nadler. Was hat die Washington Post zu befürchten, die ebenfalls Snowdons Dokumente veröffentlicht hat? Und warum steht die New York Times in dieser Geschichte so im Abseits? Fragen über Fragen.

Am Wochenende hat der Guardian eine Karte veröffentlicht, die aufzeigt, in welchen Ländern weltweit die NSA am intensivsten spioniert. Die Farbskala reicht von dunkelgrün (wenig Abhöraktionen) über hellgrün zu gelb, orange und rot (viele Abhöraktionen). Das Programm für diese Karte heißt Boundless Informant und damit kann laut Heise "eine weltweite 'Heat Map' erstellt werden, um das Volumen der aus einem Land stammenden Verbindungsdaten und die Details, etwa IP-Adressen, erkennen zu können". Deutschland ist im ansonsten grün gezeichneten Europa das einzige Land, das gelb markiert ist. Damit stehen wir auf einer Stufe mit China, dem Irak und den USA selbst. Wussten Sie das, Bundeskanzlerin Merkel?

In Vanity Fair beschreibt Michael Joseph Gross in einer Reportage die Geschichte des großen Cyberkriegs, der zwischen Amerika und dem Iran begann, um eine Atombombe des Irans zu verhindern. Internetfirmen wie Microsoft wurden dabei hineingezogen, möglicherweise ohne groß gefragt zu werden: Flame, ein Vorgänger des Stuxnet Virus und einer der innovativsten Viren überhaupt, "hat sich in Computernetzwerken verbreitet, indem er sich als Windows Update ausgab und so seine Opfercomputer reinlegte. Das hatte vorher niemand getan. Damit schufen die Flame-Erfinder einen Präzendenzfall. Wenn es stimmt, dass die amerikanische Regierung Flame entwickelt hat, dann haben die USA die Verlässlichkeit und Integrität eines Systems beschädigt, dass ein Kern des Internets und damit der globalen Wirtschaft ist."

Ali Golshan, ein ehemaliger Geheimdienstberater und Gründer der IT-Sicherheitsfirma Cyphort, kann sich nicht vorstellen, dass Firmen wie Microsoft, Google oder Apple nicht mitbekommen, wenn ihre Daten ausspioniert werden. "Er sagt, es sei 'unmöglich', dass die NSA Daten von Internetfirmen sammelt, ohne dass diese es bemerken", schreibt die Huffington Post. "Laut Golshan geben die Firmen dem Spionagedienst routinemäßig Zugang zu den Nutzerdaten."

Je nach Temperament können Sie jetzt einfach selbst ins Spionagegeschäft einsteigen und sich für ihr Handy einen Kamerazusatz kaufen, der Ihnen das um die Ecke fotografieren erlaubt. Wer sich vor Wut nicht entscheiden kann, dem sei Tuba-Gunning als neue Urschrei-Therapie empfohlen. Man fotografiert sich, während man von einem Instrument "weggeblasen" wird. Japanische Mädchen haben daraus eine Kunstform entwickelt:



Nach dieser Befreiung könnten Sie das LobbyPlag-Datenschutzprojekt unterstützen, das sehr anschaulich aufzeigt, wer derzeit in Brüssel in welchem Land am erfolgreichsten den Datenschutz untergräbt.

TAZ, 10.06.2013

"Was haben wir ihn gehasst, den 'Chemiearbeiter am Schaltpult', stöhnt Simone Schmollack in ihrem kurzen Nachruf auf den DDR-Maler Willi Sitte: "Und dann noch Sittes erotische Malerei: fleischige Körper, breite Hintern, zupackende Hände, in Rosa und Hellblau. Sinnlichkeit stellten wir uns damals anders vor, weniger brutal, weniger tierisch, weniger gierig."

Weiteres: Joachim Lange ärgert sich sehr, dass Halle wegen des Hochwassers die Händelfestspiele abgesagt hat. Hans-Christoph Zimmermann berichtet vom Tanzkongress 2013 in Düsseldorf. Tania Martini schreibt über den Beck Verlag, der am Samstag in Berlin sein 250-jähriges Bestehen feierte.

Besprochen werde die Ausstellung "Think global, build social!" im DAM in Frankfurt, das Album "13" des von Rick Rubin wiederbelebten Black Sabbath.

Und Tom.

NZZ, 10.06.2013

Der Berliner Dichter Tom Schulz, zwei Monate als Stipendiat in Czernowitz, schlendert durch die Stadt und steht plötzlich vor dem Haus Celans: "Ich trete durch die Tür, nehme die Stufen. Stehe vor der Wohnungstür des jungen Paul, einer dunkelbraunen Holztür. Daneben verbeulte Briefkästen ohne Namen. Kafkas Grüße an Celan: Von den Gespenstern, die geschriebene Küsse trinken, wie es in einem Brief Kafkas an Milena Jesenská heißt. Noch einmal fünfzehn Stufen hinab. Auf das Trottoir ergießt sich grelles Mittagslicht. Ein Hund trottet auf der gegenüberliegenden Seite vorbei, er hat keine Nachricht im Maul. Wenige Menschen passieren die Stelle, wo ich jetzt etliche Minuten warte. Worauf, dass sich eines der Fenster öffnet?"

Mit Handys und Programmen wie Instagramm hat sich die Fotografie "von einem Medium der Dokumentation und Erinnerung zu einem Medium der Kommunikation verwandelt" und damit ihre Aura zurückgewonnen, schreibt Wolfgang Ullrich, Professor für Kunstwissenschaft in Karlsruhe, in einem gar nicht kulturpessimistischen Essay über die neuen Techniken. Ein Foto sei heute nicht mehr die Beglaubigung eines "Es-ist-so-Gewesen" im Barthschen Sinne: "Gerade was vergangen anmutet, ist bloße Konstruktion und als solche auch bewusst. Real hingegen ist höchstens noch die Gegenwart der Bilder, ihr Live-Charakter. Ihre Botschaft ist dann ein 'Es-ist-gerade-So'. Häufiger und aus der Sicht des Bildproduzenten ist die Botschaft aber sogar in ein spielerisch-unverbindliches 'Das-mache-ich-Gerade' oder 'So-geht-es-mir-Gerade' verwandelt worden."

Weiteres: Stefana Sabin schreibt zum Tod des israelischen Autors Yoram Kaniuk und Samuel Herzog zum Tod des Malers Willi Sitte. Besprochen werden ein Konzert von Depeche Mode in Bern und Strawinskys "Sacre du printemps" in Zürich.

Welt, 10.06.2013

Hans-Joachim Müller feiert die große Max-Ernst-Retrospektive in der Fondation Beyerle, schließlich habe das Image des Malers im Zuge des Fälscher-Skandals sehr zu Unrecht gelitten: "In keiner zweiten Bilderwelt herrscht so wenig Stilwille, so wenig Gegenstandsregie, so wenig Zwang zum Selbstbeweis."

Weiteres: Sehr beeindruckt hat Peter Krause Christóbal Halffters in Kiel aufgeführte Oper nach Stefan Zweigs "Schachnovelle". Vor der anstehenden Grundsteinlegung für die Berliner Schlosssattrappe wünscht sich Tilman Krause mehr Liebe zu Preußen und ein Museum der Hohenzollern. Mit der Zukunftsgläubigkeit der USA kann sich der sonst sehr patriotische Hannes Stein gar nicht anfreunden. Clemens Wergin verabschiedet den Nachruf auf den großen israelischen Schriftsteller Yoram Kaniuk. Peter Dittmar schreibt den Nachruf auf den DDR-Maler Willi Sitte und prophezeit dessen Werk allenfalls eine Zukunft als "Fußnote im Kapitel Kunst und Politik".

Spiegel Online, 10.06.2013

Hannah Pilarczyk unterhält sich mit Hamed Abdel-Samad, der wegen eines islamkritischen Vortrags im ägyptischen Fernsehen und auf sozialen Netzwerken mit massiven Morddrohungen verfolgt wird. Er appelliert auch an die deutsche Regierung: "Ich finde es unhaltbar, dass Mursi es nicht verurteilt, wenn im ägyptischen Fernsehen offen und mehrfach zum Mord gegen eine Person aufgerufen wird. Als deutscher Staatsbürger erwarte ich zugleich von Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Westerwelle, dass sie den Aufruf aufs Schärfste kritisieren und Präsident Mursi dazu aufrufen, ihn ebenfalls zu verurteilen."

Aus den Blogs, 10.06.2013

Die Schwulen-Ehe wird auch in Deutschland kommen. Johannes Kram antwortet im Nollendorfblog auf das Argument, dass gar nicht so viele Schwule heiraten werden: "Ich finde, wir sollten auf jede schwule Hochzeit stolz sein." Und weiter: "Für den Erfolg der Homo-Ehe ist es ganz egal, wie viele Menschen sie tatsächlich nutzen werden. [...] Niemand kommt auf die Idee die Bedeutung der Reisefreiheit, die sich die Ostdeutschen in ihrer Revolution erstritten haben, daran zu messen, wie viele sie dann tatsächlich genutzt haben. Ein Recht muss man sich nicht verdienen. Und man muss es nicht nutzen, um es zu legitimieren."

(Via Netzwertig) Die Zeitschrift Wired bringt ein Interview mit dem Google-Funktionär Richard Gingras, der erklärt, warum Google den Reader schleift und die Leser statt dessen in die Mobil-App Google Now und in Google Plus zwingen will. Nate Hoffelder kommentiert im Digital Reader: "I have to be amused by this, because otherwise I would be bothered by the suggestion that I use Google Now. It does not support web browsers (only mobile apps), making it a giant F*** You from Google. Apparently I am not supposed to be using a web browser any more, not for reading, not for work, not for anything. And even if I could use Google Now, there's no way that it can match my ability to sort through the feeds and find the articles worth sharing. My reading interests are based on decades of reading, and that cannot be emulated in days, weeks, or even after years of using a service like Google Now."

Weitere Medien, 10.06.2013

(Via Meedia) Suhrkamp-Gesellschafter Hans Barlach wird laut Focus (nicht online) Einspruch gegen das Schutzschirmverfahren des Verlags einlegen, weil er dahinter den Versuch eines "betrügerischen Bankrotts" vermute. Laut Focus soll derVerlag auch erwägen, Siegfried Unselds Villa in Frankfurt zu vekaufen.

FAZ, 10.06.2013

Die ganze Seite 1 des Feuilletons ist dem Prism-Skandal gewidmet. Der amerikanische Sicherheitsexperte Philip Bobbitt, der laut FAZ-Dachzeile schon unter Clinton "für den Überwachungsstaat eintrat", erklärt in einem kurzen Interview, warum er richterliche Anordnungen bei Abhörmaßnahmen zum Schutz der inneren Sicherheit noch nützlich findet: "Ich halte die Unterscheidung immer noch für sachgemäß, weil ich das Phänomen des dschihadistischen Terroristen, der sich selbst radikalisiert hat, skeptisch sehe und weil richterliche Anordnungen beruhigend auf die Öffentlichkeit wirken. Aber es gibt tatsächliche eine gewissen Durchlässigkeit der Kategorien, die mit der Zeit nur stärker werden wird."

Patrick Bahners kommentiert im Aufmacher mit Blick auch auf die Rechtfertigungsstrategien Bobbitts: "Die Demokratie erträgt den Geheimdienst, sofern er ihr dient. Im Zuge der globalen Bedrohungen, die der Apparat beschreibt, und der Erweiterung der technischen Möglichkeiten, die ihm zu Gebote stehen, hat das Geheimnis in den Vereinigten Staaten die Schranken gesprengt und das Recht okkupiert."

Weitere Artikel: Kerstin Holm kommentiert die Scheidung Wladimir Putins, die erste eines russischen Staatsoberhaupts seit 316 Jahren. Hans-Christian Rössler schreibt zum Tod Yoram Kaniuks. Jan Brachmann berichtet vom Musikfestival in Bergen. Camilla Blechen würdigt den verstorbenen DDR-Staatsmaler Willi Sitte.

Besprochen werden diverse Carl-Sternheim-Inszenierungen bei den Ruhrfestspielen und in Bochum, ein Dokumentarfilm über Max Beckmann, und Bücher, darunter ein Essay Edward Skidelskys gegen die Unersättlichkeit des Kapitalismus, dem der deutsche Historiker Werner Plumpe nur zustimmen kann (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 10.06.2013

Sitzt Gustl Mollath (mehr) wegen eines schlampig geführten Gerichtsverfahrens seit sieben Jahren in der Psychiatrie? Heute darf Mollath seinen Fall darlegen, Heribert Prantl mahnt unterdessen in einem ganzseitigen Artikel zur peniblen Rechtsstaatlichkeit: "Die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt ist keine schnelle Nummer; sie ist ein gewaltiger Eingriff in die Existenz eines Menschen. Existenzielle Eingriffe erfordern existenzielle Sorgfalt - auch vom Gesetzgeber." Mehr zum Fall Mollath hier und hier.

Weitere Artikel: Jenni Roth stellt das Projekt "Heimatlieder aus Deutschland" der Komischen Oper Berlin vor, bei dem heute Abend migrantische Künstler Lieder aus ihrer Heimat vorstellen werden. Wolfgang Janisch verabschiedet den emeritierenden Professor Paul Kirchhof. Stephan Speicher schreibt den Nachruf auf den DDR-Künstler Willi Sitte.

Besprochen werden Joõlle Tuerlinckxs Ausstellung "World(k) in Progress?" im Münchner Haus der Kunst, Tina Laniks Bühnenadaption von Max Frischs Roman "Stiller" am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter Markus Gabriels "Warum es die Welt nicht gibt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).