Heute in den Feuilletons

Zu 93 Prozent akkurat

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2013. In der Welt erhofft sich Wolfgang Kraushaar durch neue Ermittlungen mehr Informationen über die Terrorserie in München 1970. Die Digitale Gesellschaft erstattet wegen Prism Anzeige bei der Polizei: Es besteht Verdacht auf Spionage. In der taz verrät Zeit-Geschäftsführer Rainer Esser die Honorare seiner freien Mitarbeiterin Silke Burmeister. Stefan Niggemeier kann sich darüber nur sehr wundern. Dass der Aufklärer Walter Jens bei seiner Trauerfeier mit Mozarts Requiem verabschiedet wurde, gehört zu den Aporien, die zu ihm passen, findet die FAZ.

Aus den Blogs, 18.06.2013

Die Digitale Gesellschaft hat wegen des Prism-Abhörprogramms der Obama-Regierung, das ja auch deutsche Daten sammelte, Anzeige bei der deutschen Polizei erstattet: "'Wir gehen davon aus, dass es sich bei PRISM um staatliche Spionage handelt, bei der sowohl private als auch staatliche Geheimnisse ausgeforscht wurden', so Markus Beckedahl, Vorstand des Digitale Gesellschaft e. V. 'Es liegt nahe, dass es für die entsprechenden Spionageprogramme Unterstützer im In- und Ausland gegeben hat. Beides ist nach dem Strafgesetzbuch kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen nun ermitteln, ob es auch Täter in Deutschland gab.'"

Denkwürdig war Silke Burmesters taz-Interview mit dem Zeit-Geschäftsführer Rainer Esser, in dem es auch um die magere Entlohnung der Freien durch das brummende linksliberale Medium ging. Esser scheint sich über das Interview geärgert zu haben, obwohl er es, wie in Deutschland üblich, nach dem Gespräch noch hatte redigieren dürfen. Er setzte auf der Website der taz einen giftigen Kommentar ab, in dem er auch die Zeit-Honorare der freien Mitarbeiterin Silke Burmester verriet. Stefan Niggemeier kommentiert: "Das ist eine für den überaus erfolgreichen Geschäftsführer des von Rekord zu Rekord eilenden 'Leitmediums' Zeit eine erstaunlich verspannte Anmerkung - und ein Foul. Anscheinend muss jemand, der frei für die Zeit arbeitet und trotzdem mit kritischen Fragen nervt, damit rechnen, dass der Geschäftsführer der Öffentlichkeit die gezahlten Honorare mitteilt."

Welt, 18.06.2013

Nach der Aussage eines Zeugen (möglicherweise Alois Aschenbrenner), wird jetzt gegen Ulrich Enzensberger und Rolf Heißler wegen des Verdachts der Beteiligung an einem Brandanschlag auf einen Münchner Richter 1970 ermittelt. Wolfgang Kraushaar, der gerade ein Buch über "München 1970" veröffentlicht hat, hofft, dass nun neues Licht auf die Ereignisse jener Zeit geworfen wird: "Innerhalb von nur elf Tagen waren bei einer blutig gescheiterten Flugzeugentführung, einem Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindehaus und zwei Bombenattentaten auf Zivilflugzeuge im Februar 1970 nicht weniger als 55 Menschen zu Tode gekommen. Alles spielte sich zwischen dem 10. und dem 21. Februar entweder in München ab oder nahm von dort aus seinen Lauf."

Weiteres: Michael Pilz spießt mit dem Streit um "Happy Birthday" ein Beispiel für absurden Urheberrechtsschutz auf. Besprochen werden die Ausstellung "Glam" in der Frankfurter Schirn, ein "Tristan" in Wien unter Franz Welser-Möst und Sylvie Verheydes Filmmelodram "Confession" (Jenny Hoch langweilt sich gründlich mit dem "somnambulen" Hauptdarsteller Pete Doherty).

TAZ, 18.06.2013

Die taz druckt den Offenen Brief an den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül, in dem der Regisseur Fatih Akin ein Ende der Polizeigewalt fordert: "Ein 14-jähriger Jugendlicher wurde von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen und hat Gehirnblutungen erlitten. Er ist nach einer Operation in ein künstliches Koma versetzt worden und schwebt in Lebensgefahr. Freiwillige Ärzte, die verletzten Demonstranten helfen wollten, wurden wegen Terrorverdacht festgenommen. Provisorische Lazarette wurden mit Tränengas beschossen. Anwälte, die gerufen wurden, festgenommene Demonstranten zu verteidigen, wurden ebenfalls festgenommen. Die Polizei feuerte Tränengaspatronen in geschlossene Räume, in denen sich Kinder aufgehalten haben."

Weiteres: Jens Uthoff stellt eine neue Berliner Klaus-Mann-Initiative vor. Besprochen werden die Ausstellung "Vues d'en haut - Blick von oben" im Centre Pompidou Metz, die Konzerttournee des brasilianischen Rappers Emicida, Eva Esslingers literaturwissenschaftliche Studie "Das Dienstmädchen, die Familie und der Sex" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

Weitere Medien, 18.06.2013

(via Jezebel) Vow, man hat doch noch nicht alles gesehen! Das Vice Magazine hat ein Heft über Frauen in der Literatur herausgegeben. Es gibt eine Short Story von Mary Gaitskill, ein Interview mit Marilynne Robinson und eine Short Story von Joyce Carol Oates. So weit, so gut. Aber wer nur hat sich Mode-Fotostrecke ausgedacht, in der Models als Virginia Woolf, Iris Chang, Dorothy Parker oder Elise Cowen ihren Selbstmord proben? Links im Bild kauert Sylvia Plath in einem Kleid von Suno vor dem Ofen.

NZZ, 18.06.2013

Martin Hitz stellt den neuen Hybrid-Journalismus vor, mit dem Forbes seine Einnahmen ankurbeln will und den Hitz als Mischung aus Jekami und Unternehmerjournalismus beschreibt: "'Contributors', die sich nicht auf einen bestimmten monatlichen Output festlegen wollen, erhalten für ihre Arbeit keine Entschädigung. Ihr Anreiz zur Mitarbeit besteht in der Möglichkeit, sich unter dem Dach einer etablierten Medienmarke einen Namen zu machen und von der Ausstrahlung und Reichweite von Forbes zu profitieren, um etwa eigene Buchprojekte oder Beratungsdienstleistungen zu bewerben und zu vermarkten. Nach Anzahl Besuchern sowie nach der Intensität der Publikumsbindung werden hingegen jene freien Mitarbeiter honoriert, die sich verpflichten, pro Monat eine vertraglich festgelegte Anzahl Beiträge zur Forbes-Plattform beizusteuern."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel freut sich nach den Prism-Enthüllungen schon auf Google Glass. Alena Wagnerova berichtet von den Sparmaßnahmen, die die gerade zurückgetretene tschechische Regierung der Kultur aufgebürdet hat. Marc Tribelhorn war auf einer Zürcher Tagung über Autismus.

Besprochen werden die Ausstellung "Mythos und Geheimnis" über den Schweizer Symbolismus, Julia Kissinas Roman "Frühling auf dem Mond" und E. L. Doctorows Kurzgeschichten "Alle Zeit der Welt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 18.06.2013

(via BoingBoing) Seit die Opas von Black Sabbath wieder auf der Bühne stehen, dachte man, Heavy Metal hänge am Beatmungsgerät. Tatsächlich ist er alive and kicking, wie dieses Video der aus drei 12-Jährigen bestehenden Band "Unlocking the Truth" beweist:



Im Interview rechtfertigen die drei ihr Tun: "Rap ist langweilig."

(via Nerdcore) Gelangweilt, aber mit gesunder Neugier gesegnet? Dann ab zur NSA! Warum, erklärt Pornodarstellerin Sasha Grey in diesem Werbeclip:



Die Digitale Gesellschaft ruft unterdessen für heute 13 Uhr zu einer Kundgebung am Checkpoint Charlie auf.

FAZ, 18.06.2013

Ausgerechnet Mozarts Requiem wurde zu Walter Jens" Trauerfeier gegeben. Gerhard Stadelmaier beobachtet die Feierlichkeiten und kommentiert: "Dass dem Mann des Wortes, der Polemik, der eingreifenden Rede nicht im Audimax der Universität, wo er so oft der Stadt und dem Erdkreis Wert und Würde aufklärerischer Literatur nahebrachte, die Totenfeier gehalten wurde, sondern in einer Kirche, dem Ort der Kanzelrede, gehört zu den Aporien, die aber auch zu ihm passen."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger berichtet, dass in der Angelegenheit eines Brandanschlags auf einen Münchner Richter in München 1970 gegen Ulrich Enzensberger ermittelt wird - Wolfgang Kraushaars Buch über "München 1970" hatte gerade die Zusammenhänge zwischen deutschem und internationalem Terrorismus in München beleuchtet. Nils Minkmar spottet über die Briten, die beim letzten von ihnen ausgerichteten G20-Gipfel skrupellos die Staatsgäste ausspionierten, um Verhandlungsvorteile zu erlangen. Björn Hayr unterhält sich mit dem Völkerrechtler Christoph Safferlin, der eine Studie über die Verstrickung des Justizministeriums in der Nazizeit herausbringt. Jan Wiele verfolgte eine Tagung über Hermann Hesse. Der Soziologe Dieter Plehwe erzählt eine kleine Geschichte des Neolibealismus.

Auf der Medienseite erzählt der türkische Pulbizist Eddy Ekrem Güzeldere, wie sich die türkischen Medien in der Berichterstattung über die Taksim-Proteste gleichschalten ließen. Jürg Altwegg berichtet über Proteste gegen eine Ausstellung der palästinensischen Fotografin Ahlam Shibli im Jeu de Paume, die in ihren Arbeiten die Selbstmordattentäter verherrlicht. Und der griechische Autor Yanis Varoufakis verteidgt trotz allem den griechischen Staatsrundfunk.

Besprochen werdene ein Ausstellungsmarathon im Getty Center und anderen Orten über moderne Architektur in Los Angeles, Konzerte eines Orchestertreffens in Mainz, Verdis "Sizilianische Vesper" in Frankfurt, eine Neueinspielung der Bachschen h-moll-Messe durch Jordi Savall und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Claire und Yvan Goll (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 18.06.2013

Thriller-Autor Daniel Suarez erklärt Andrian Kreye, warum man sich wegen des Data Minings der NSA große Sorgen machen sollte: Das MIT "hat die Bewegungsmuster von Handys in einem Projekt namens 'Reality Mining' ausgewertet, um zu testen, ob man so etwas für soziologische Forschungen verwenden kann. Sie haben eintausend Probanden verfolgt und dann Algorithmen entwickelt, die vorhersagen können, wo jemand hingeht. Diese Algorithmen waren zu 93 Prozent akkurat. Und das war nur ein sehr oberflächliches Abschöpfen von Daten in einer kleinen Gruppe." (Sehr informativ zu diesem Thema ist auch Sean Gallaghers Artikel in ars technica, wie weit die Auswertungsmöglichkeiten bereits gediehen sind.)

Weiteres: Mit Gewinn liest Peter Richter die gerade im Merkur veröffentlichte Übersetzung dieses sich über die Wortblasen des "International Art English" amüsierenden Essays von Alix Rule und David Levine und verweist dabei gleich noch auf Gegenreaktionen von Hito Steyerl (hier) und Martha Rosler (hier). Thorsten Glotzmann besucht eine Münchner Tagung über akute Herausforderungen der Demokratie. Mounia Meiborg fragt sich bei den Autorentheatertagen in Berlin beinahe, warum man ihr unfertige Stücke vorsetzt, "aber dann ist wieder Pause und es gibt Wurst, Wein und Jazzmusik."

Auf Seite Drei berichtet Sonja Zekri, dass Mubarak-Nachfolger Mursi selbst unter den gläubigen Muslimen Ägyptens zusehends an Popularität verliert.

Besprochen werden das neue Album von Kanye West, Andrew Niccols neuer Film "Seelen", die Werkschau Olaf Metzel in Heilbronn, eine "Aida"-Aufführung in der Arena di Verona und Bücher, darunter Andrey Smirnovs Darstellung der sowjetischen Musikavantgarde, in der er unter anderem auch auf die handgemalte Musik (siehe Video) von Arseny Avraamov zu sprechen kommt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).