27.06.2013. In der Jüdischen Allgemeinen warnt Piratin Marina Weisband vor dem Überwachungsstaat. Das Künstlerduo FRONT404 setzt ihm ein Partyhütchen auf. Das deutsche Parlament verpennt lieber die Debatte, berichtet die taz. Die Zeit findet Edward Snowdens Leaks notwendig und legitim. Im Tagesspiegel beschreibt Michail Schischkin die russische Diktatur des 21. Jahrhunderts. Die SZ feiert das Stehvermögen der texanischen Senatorin Wendi Davis. In der NZZ feiert der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinow die Schönheit der protestierenden Menschen in Sofia. Wenig anfangen kann dagegen die FAZ mit der Schönheit operierter Menschen in Südkorea.
Weitere Medien, 27.06.2013
In der
Jüdischen Allgemeine schreibt die Piraten-Politikerin
Marina Weisband zur
Überwachungswut der amerikanischen und britischen Geheimdienste: "Der Punkt dabei ist nicht, ob Sie persönlich etwas zu verbergen haben. Der Punkt ist, dass Überwachung ein Klima des gegenseitigen Misstrauens erzeugt, demokratische Prozesse hemmt und
Menschen kontrollierbar macht. Dagegen müssen wir vorgehen. Hier ist jeder einzelne Bürger gefragt. Wir müssen uns dagegen wehren, im Namen der Terrorismusabwehr von unseren Regierungen
kollektiv unter Tatverdacht gestellt zu werden." Das Stichwort der Stunde, meint Weisband daher, heiße
Datensparsamkeit.
FAZ, 27.06.2013
Schön schaurig, was Melanie Mühl von der
ästhetischen Chirurgie berichtet, die insbesondere in Südkorea dramatisch eskaliert ist. Den Schönheitswahn hat man dort schon längst hinter sich gelassen: "Die entscheidende Frage lautet nicht mehr: Fühle ich mich nach der Körperoptimierung
schöner als vorher, sie lautet: Wie sehr steigert ein tränensackfreies, botoxgestrafftes Gesicht meinen
Marktwert?"
Weitere Artikel: Jan Brachmann resümmiert die
Musikfestspiele Potsdam-
Sanssouci, deren "hohe Qualität" und "Exklusivität" er sehr zu schätzen weiß. Hernán D. Caro informiert sich bei
Max Brooks, Autor der Buchvorlage des von Daniel Haas besprochenen Zombiefilms "World War Z", wie man sich am besten vor
Zombies schützt.
Martin Mosebach erinnert sich an gemeinsame Kaffeehausbesuche mit
Henning Ritter.
Besprochen werden die
Piero-
Manzoni-Ausstellung im Frankfurter
Städel, eine
Rodtschenko-Schau im
Bucerius Kunst Forum Hamburg,
Alex Timbers Musical-Adaption von
David Byrnes Konzeptalbum "Here Lies Love" im New Yorker
Public Theater, eine DVD von
Orson Welles' "Falstaff" und Bücher, darunter
Steffen Popps Gedichtsammlung "Dickicht mit Reden und Augen" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
Aus den Blogs, 27.06.2013

(via
BoingBoing) Am Dienstag hatte
George Orwell 110. Geburtstag. Zur Feier des Tages schmückte das niederländische Künstlerduo
FRONT404 in Utrecht die Überwachungskameras in ihrer Stadt mit
Partyhütchen: "Wenn wird den Überwachungskameras Partyhütchen aufsetzen, feiern wir damit nicht nur Orwells Geburtstag. Wir machen die unauffälligen Kameras, die wir in unserem täglichen Leben ignorieren, auch wieder zu einem
echten Blickfänger, und machen damit bewusst, wie viele Kameras uns heute tatsächlich überwachen und dass der
Überwachungsstaat, den Orwell beschrieb, von Tag zu Tag mehr Realität wird",
heißt es dazu auf ihrer Webseite.
(via
BoingBoing) Das
EU-Parlament verhandelt derzeit über ein
neues Datenschutzgesetz. Angesichts der jüngsten Erkenntnisse, wonach Google, Yahoo, Microsoft, Skype, Apple u.a. mit den
amerikanischen Geheimdiensten zusammenarbeiten, fordern Aktivisten auf der ganzen Welt die EU mit dem
Washington Statement auf, einen strengen und wirksamen Verbraucherschutz durchzusetzen (man kann sich der Forderung anschließen, indem man einen Kommentar auf der Seite hinterlässt).
(via
BoingBoing) Die
NYT (
hier) und
Ars Technica (
hier) berichten, wie
das FBI seit Jahren versucht,
Wikileaks auszuspionieren und Material zu finden, dass Julian Assange diskreditiert. So forderte 2011 Islands damaliger Innenminister
Ogmundur Jonasson mehrere FBI-Agenten auf, das Land zu verlassen, weil sie falsche Angaben zu ihrer Einreise machten: "Jonasson erinnert sich gegenüber der Zeitung, dass ihm die FBI-Agenten erklärten, sie müssten in das Land einreisen, um Hacker von einem 'großen Angriff auf die Datenspeicher der Regierung' abzuhalten. Nach ihrer Einreise fand Jonasson heraus, dass die Agenten nur da waren, um Informationen über Wikileaks zu sammeln, das in Island etliche Mitglieder hat."
Britische Medien, darunter die BBC wurden unterdessen von ihrer Regierung
aufgefordert, möglichst nicht über die Überwachungsmethoden britischer und amerikanischer Geheimdienste zu berichten, weil dies "die nationale Sicherheit gefährden" könne,
berichtet Josh Halliday im
Guardian. Dieser
Sicherheitsvermerk, der als 'vertraulich und nicht zur Veröffentlichung' markiert war, wurde vom Westminster Klatschblog
Guido Fawkes bekannt gemacht. Obwohl nur eine Empfehlung für Redaktionen dient das
System der Selbstzensur dazu, Medien von einer ungewollten Preisgabe von Informationen, die militärische oder geheimdienstliche Operationen und Methoden kompromittieren könnten."
Die USA drohen Ecuador mit
Handelsstrafen für den Fall, dass das Land den
Asylantrag Snowdens annimmt,
meldet Spon. Auf
SZ online fordert der Grünen-Politiker
Malte Spitz: "Deutschland und andere europäische Staaten sollten
Gesetze einführen, damit Whistleblower wie Snowden
bei uns geschützt werden können und entsprechende Ausnahmeregelungen in Auslieferungsabkommen verankern."
TAZ, 27.06.2013
Im Bundestag hat Innenminister Hans-Peter Friedrich um
Vertrauen für die amerikanischen und britischen Geheimdienste geworben,
berichtet Astrid Geisler. "Der
Plenarsaal war fast leer, als der Bundestag am Mittwochmittag jenes Thema aufrief, das seit Tagen die halbe Welt beschäftigt: Wie viele unserer Kommunikationsdaten sammeln und speichern die Geheimdienste der USA und Großbritanniens? Auch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich scheint das bislang
nicht wirklich zu wissen. Die 'erste und wichtigste Frage' sei nach wie vor: 'Was ist dran an den Presseberichten?', sagte der CSU-Politiker zu den Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden. Eine
Antwort lieferte er nicht. Der Minister warb stattdessen um Vertrauen in die demokratischen Standards der Partnerländer."
Außerdem zum Thema: Die
Datenschutzbeauftragten haben überhaupt keine Handhabe, von den Geheimdiensten Aufklärung über die Überwachung der eigenen Landsleute zu verlangen,
berichtet Christian Rath.
Im Kulturteil
berichtet Stefan Reinecke über ein Symposium im Arbeitsministerium in Berlin, bei dem Wissensstand und Ziele des Forschungsprojektes über das
Reichsarbeitsministeriums präsentiert wurden. Daniel Schreiber
versucht sich an einer Erklärung des alkoholverzichtsbedingten
Nüchternseins. Daniel Kulla, Autor des Buchs "Leben im Rausch. Evolution, Geschichte, Aufstand",
fordert anlässlich der drohenden Räumung des Autonomen Zentrums in Köln-Kalk die Aneignung "neuer
Orte für Rausch und Revolte". Daniel Bax
unterhält sich mit dem Komiker
Kurt Krömer über dessen
Truppenbesuch in Afghanistan, über den er auch ein Buch geschrieben hat.
Besprochen werden
Xavier Dolans Film "Laurence Anyways", der in einer Art "durchgeknalltem Genremix" die Geschichte einer Geschlechtsumwandlung erzählt, der
Film "Modest Reception" des iranischen Regisseurs
Mani Haghighi,
Yael Bartanas Kölner
Projekt "Zwei Minuten Stillstand", bei dem morgen die Bewohner Kölns zwei Minuten lang stillstehen sollen, während Sirenen heulen, sowie die
DVD von
Ulrich Schamonis Film
"Chapeau Claque" von 1973.
Und
Tom.
Welt, 27.06.2013
Thomas Vitzthum
war dabei, als Helmut Kohl in Berlin eine
Bronzebüste Käthe Kollwitz' enthüllte.
Besprochen werden
Marc Forsters Zombiefilm "World War Z",
Wong Kar-wais Kung-Fu-Film "The Grandmaster",
Xavier Dolans Film "Laurence Anyways" und die
Ausstellung "Le Noir et le Bleu" in
Marseille.
Tagesspiegel, 27.06.2013
Im Interview mit Manfred Flügge
erklärt der Schriftsteller
Michail Schischkin, wie die russische Diktatur des 21. Jahrhunderts aussieht: "Die Grenzen sind offen, weil das Regime
keine Bevölkerung braucht, die Erdöl- und Gas-Pipelines reichen ihm vollkommen. Eine kriminelle Bande hat die Macht im Lande usurpiert, pumpt die Bodenreichtümer in den Westen. Wozu mit der Bevölkerung die Einkünfte teilen? Das Geld wird auch im Westen investiert, in Paläste an der
Côte d'Azur und in Fußballklubs, aber nicht in Russland. Im Lande wird nichts produziert, das meiste Geld wird von den Beamten gestohlen."
NZZ, 27.06.2013
Der bulgarische
Schriftsteller Georgi Gospodinow berauscht sich an der "
Schönheit der protestierenden Menschen", die wie schon im Februar Sofia lahmlegen. Aber, erklärt er, diesmal geht es um mehr als ums Geld: "Wenn es um Geld geht, weiß die Macht sich zu verhalten: ein paar kleine Versprechungen geben, ein bisschen die
Staatsreserven anzapfen, einen Sündenbock suchen - zum Beispiel die ausländischen Stromanbieter. Jetzt, wo es nicht mehr um Geld geht, sind die Mächtigen vollkommen ratlos. Wir wollen nicht von
Drahtziehern regiert werden, sagen die Protestierenden. Das kann die Elite nicht verstehen, denn sie hängt an diesen Drähten; Drahtzieherei ist die
einzige Mechanik, die sie kennt, sie ist ihr Begriff, den sie von 'professioneller' Politik hat. Sie versteht folglich gar nicht, 'was die wollen'."
Weiteres: Knut Henkel
erzählt, wie
Kolumbien mit Literaturwerkstätten dem Nachwuchs auf die Sprünge zu helfen versucht. Daniel Ender hat sich bei den steirischen Festspiele
Styriarte Jacques Offenbachs Opéra-bouffe 'Barbe-Bleue'
angesehen.
Besprochen werden auf der Filmseite
Calin Netzers Berlinalegewinner "Mutter und Sohn", der jetzt auch in der Schweiz anläuft,
Marc Forsters "World War Z und Bücher, darunter zwei
Prosabände von
Josef Winkler sowie
Colin MacInnes' Roman "Absolute Beginners" aus dem London der Fifties (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
Zeit, 27.06.2013
Was
Edward Snowden getan hat, war "womöglich
illegal,
aber notwendig und legitim" schreiben Kerstin Kohlenberg, Khue Pham und Heinrich Wefing im Politikteil über den NSA-Whistleblower: "Tatsächlich hätte Snowden von seinem Wissen persönlich profitieren
können. Er hätte geheime Daten an den chinesischen, den iranischen oder den russischen Geheimdienst durchstechen können, für Abermillionen von Dollar. Aber Snowden hat etwas anderes getan: Er hat einen gut bezahlten Job und ein ruhiges Leben aufgegeben, um die Amerikaner und die
ganze Welt aufzuklären, in welchem Ausmaß die US-Regierung und ihre Verbündeten Daten abschöpfen und speichern - ohne öffentliche Debatte, ohne echte parlamentarische und gerichtliche Kontrolle."
In der Kultur: Im Interview mit Elisabeth von Thadden spricht die weißrussische
Schriftstellerin und designierte
Friedenspreisträgerin Swetlana Alexijewitsch über den Putinismus, mangelnden Freiheitswillen und ihre Arbeit als Historikerin der sowjetischen und
postsowjetischen Seele: "Das 20. Jahrhundert hat sich bei uns
nur für Ideen interessiert, aber nicht für den konkreten Menschen. Ich aber bin hypnotisiert von der Realtiät des menschen, von seinen Abgründen und seinen Himmeln, von seinen Räumen, seinem Körper, seinen Erinnerungen."
Katja Nicodemus reist zu
Wong Kar-wai nach Hongkong, plaudert mit ihm über seinen Kung-Fu-Film "The Grandmaster" (
mehr hier) und besucht die Kampfschule, die vom Sohn jenes Großmeisters Ip Man geleitet wird.
Ip Chun erklärt ihr das Prinzip des
Wing Chun so: 'Weich überwindet Hart, Schwach überwindet Stark. Die Kraft des Gegners wird gegen ihn verwendet.'
Erfahrung sei alles, und die Ausbildung könne eine ganzes Leben dauern. Daher könne er es
als Neunzigjähriger immer noch mit jedem seiner Schüler aufnehmen."
Weiteres:
Slavoj Zizek deutet die Proteste in Istanbul und Sao Paulo nicht als Krisenzeichen, sondern als
Verschiebung der Fortschrittsdynamik: "Zu den Verlierern gehören nur Westeuropa und, zu einem gewissen Grad, die USA." Thomas Groß widmet sich (im Feuilleton-Aufmacher!) den Schlagerstars der heutigen Generation. Jens Jessen schreibt den Nachruf auf
Henning Ritter, "den französischsten aller deutschen Intellektuellen".
Besprochen werden unter anderem
Jerome Ferraris "Predigt auf den Untergang Roms" und
Wolfram Wettes Buch über den Judenretter "Feldwebel Anton Schmid" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
SZ, 27.06.2013
Fast elf Stunden hat Senatorin
Wendy Davis im Stehen vor dem Senat von Texas gesprochen, um mit diesem
Filibuster eine
Verschärfung des Abtreibungsrechts zu verhindern. Am Ende waren es die zehn Minuten
schallender Applaus der anwesenden Unterstützer, die zum Ziel führten. "Bemerkenswert ist hier vor allem", schreibt Peter Richter, dass "der Inhalt der Rede dermaßen mit der
strapaziösen Form des Vortrags korrespondierte: das Recht von Frauen, über ihren Körper zu bestimmen. Es geht dabei ja auch um jene Machtdiskurse, wie sie einem aus dem Begriff der
Körperbeherrschung schon entgegenwinken. Dies macht den Auftritt von Wendy Davis auch zur
feministischen Performance."
Anlässlich der Diskussionen um die "
kulturelle Ausnahme" im Zusammenhang mit dem amerikanisch-europäischen Freihandelsabkommen betrachtet Jan Füchtjohann (unter Rückgriff auf Vincent Maravals
Polemik vom Dezember 2012, dass französische Superstars zuviel verdienten) die
französische Kulturförderung etwas genauer und findet ihre Regelungen etwas aus der Zeit gefallen: "Wie das in einer Medienwelt funktionieren soll, in der das nächste Angebot im Zweifel
illegal aus Tuvalu kommt und immer nur einen Mausklick entfernt ist, darüber erfährt man derzeit noch wenig. Muss
Google bretonisch lernen? Oder werden die Minister per Dekret die Gründung der neuen europäischen Entertainment-Plattform
euTunes beschließen?"
Weitere Artikel: Henning Klüver hat das italienische Theaterfestival in
Neapel besucht, dass ihm trotz einiger gelungener Abende doch eher als "Gemischtwarenladen" erscheint. Schauspielerin
Zhang Ziyi gibt Joachim Hentschel Auskunft über die strapaziösen Dreharbeiten zu
Wong Kar-
Weis neuem Film
"The Grandmaster".
Besprochen werden
Xavier Dolans neuer Film
"Laurence Always" (ein "brillant gezeichnetes Beziehungsdrama",
schreibt Rainer Gansera),
Merce Cunninghams "Biped" am
Bayerischen Staatsballett und Bücher, darunter
Eugen Ruges Roman "Cabo de Gata" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).