29.06.2013. In The Nation warnt Jaron Lanier, Prism könne zu einem Regime der subtilen Konformität führen. Die Amerikaner halten trotz allem an ihrer Vorstellung vom Internet als Freiheitsmaschine fest, erläutert Thomas Frank in der FAZ. In der SZ beschwört Bild-Chef Mathias Döpfner eine Renaissance der Inhalte. Die taz denkt über Richard David Precht und das Talkshow-Paradoxon des modernen Intellektuellen nach: entweder gehört oder ernst genommen werden. Und die Welt würdigt das deutsche Literaturpreis-System in seiner Gesamtschönheit.
Weitere Medien, 29.06.2013
In
The Nation erklärt Jaron Lanier, warum das
Sammeln von Metadaten gefährlich sein kann, vor allem, wenn der Staat es tut: Es könnte die Einleitung sein "zu einem Regime der
langsamen,
subtilen Konformität. Mit Metadaten kann eine Regierung gezielte, nicht nachweisbare Unterdrückungsmethoden anwenden. Ein Programm wie Prism könnte an ein
geheimes ziviles Verteidigungsprogramm angekoppelt werden, bei dem eine bestimmte Gruppe von Menschen zusätzliche Schritte unternehmen muss, wenn sie zum Beispiel einen
Kredit beantragen. Unser geheimes Fisa Gericht würde erfahren, dass jene, die möglicherweise Verbindungen zu Terroristen haben - wenn auch nur in einem ganz vagen, statistischen Sinne -
zusätzlich überprüft werden müssen, bevor sie amerikanisches Grundeigentum erwerben dürfen. (Es könnte schließlich Teil eines terroristischen Plans sein.)"
Hat sie etwas zu verbergen? Für
Spon hat Judith Horchert prism-mäßig
ihre digitale Kommunikation der letzten Jahre
durchforstet und weiß es selbst nicht so genau. Was würde der Geheimdienst wohl aus solchen
Kommunikationsfetzen machen:
'Irgendwo in der Lüneburger Heide haben sie
das Ding hochgehen lassen und sind auf unbestimmte Zeit krank geschrieben.'
'In Taschen- und Trekkinggeschäften ist offenbar schon der Begriff
RFID völlig unbekannt. Ich geh mal
Alufolie kaufen.'
'Sie wird
von Interpol gesucht; es wird vermutet, dass sie in den asiatischen Untergrund abgetaucht ist.'
'Statt sich auf die Revolution vorzubereiten, stehen die Leute vor den Kneipen und gucken
Fußball.'"
Bei
Carta erinnert Jürgen Drommert daran, dass in einer Demokratie
nicht der Bürger sich legitimieren muss, sondern der Staat, dem eben diese Bürger "Machtbefugnisse eingeräumt haben, auch die heikle Befugnis also, ihre Freiheiten und Rechte einzuschränken. Wenn da einer misstrauisch zu sein hat, ist es zuerst der Bürger, nicht der Staat. ... Was aber schwerer wiegt: Wer sich als Bürger
klaglos ein Grundrecht abnehmen lässt wie ein Gör den in den Dreck gefallenen Lutscher, mit dem ist kein Staat zu machen. Außer eben ein Überwachungsstaat."
In
The Nation sieht Jonathan Schell das ähnlich: Es findet gerade
eine Revolution statt, warnt er. Eine Revolution der Regierung gegen die fundamentalsten Gesetze Amerikas, von Beamten ausgeführt, die geschworen haben, eben diese Gesetze hochzuhalten und zu verteidigen. Aber man muss sich auch dagegen
wehren wollen: "Wir brauchen eine Konterrevolution - eine amerikanische Restauration, die zu den Grundsätzen zurückführt, auf denen die Republik gegründet wurde. Edward Snowden wusste, was er zu tun hatte. ... Er begründete seine Aktion auf den
besten Traditionen dieses Landes, von denen die jetzigen Führer sich abgewendet haben, aber die die heutige Generation der Amerikaner
immer noch mit ihm teilt, hofft er. In den nächsten Wochen und Monaten werden wir herausfinden, ob er damit Recht hat."
TAZ, 29.06.2013
Ufz. Fast zweieinhalb Seiten
schreibt Peter Unfried über den derzeit
liebsten Prügelknaben des
Feuilletons,
Fernseh-Philosoph Richard David Precht, dem er in dessen Wohnung beim
Adornosuchen zuschaut. Woher kommt die geballte Ablehnung, fragt sich Unfried. Liegt es am guten Aussehen, den langen Haaren? Es "gilt eben das Talkshow-Paradoxon: Ein Intellektueller, der nicht im Fernsehen ist, wird nicht gehört. Ein
Intellektueller, der im Fernsehen ist, wird nicht mehr ernst genommen. ... Interessant: Der
Philosoph Peter Sloterdijk - langhaarig - galt so lange als schlimm, wie er mit dem 'Philosophischen Quartett'
auf Sendung war. Als Precht den Sendeplatz übernahm, war Sloterdijk ein
Licht in dunkler Nacht und seine Sendung das letzte Refugium des Intellektuellen an einem öffentlich-rechtlichen Ort. Überhaupt: Je bekannter Precht wurde, desto weniger galt Sloterdijk als
Philosophen-
Hallodri."
Fatma Aydemir
unterhält sich mit der
Schriftstellerin Gaye Boralioglu über die Türkei nach der Niederschlagung der Proteste: "Es herrscht
Revolutionsstimmung. ... Wir dachten, die heutige Jugend sei apolitisch. Nun stellt sich heraus, dass die jungen Menschen sich hinter ihren Computern mit kräftigem Humor, sensiblem Gerechtigkeitssinn und
strahlendem Verstand auf diesen Aufstand vorbereitet hatten."
Außerdem: Den
Sozialpsychologen Christian Schneider
stimmt es nachdenklich, "dass
nach wie vor Günter Grass die Rolle des
Topintellektuellen der Bundesrepublik besetzen kann". Andreas Hartmann
hat eine Lesung von
Tom Kummer besucht. Susanne Messmer
unterhält sich ausführlich mit
Tresor-Betreiber
Dimitri Hegemann, der sich - selbst deutlich jenseits der 50 - langsam vorstellen kann, ein Altenheim in Brandenburg zu eröffnen, "für Leute wie uns, die anders gelebt haben". York Schäfer
stellt Brian Shimkovitz' musikarchäologische Ausgrabungen im Bereich afrikanischer Populärmusik vor, die Shimkovitz in
seinem Blog präsentiert. Gelegentlich baut er daraus auch DJ-Sets und
wippt dazu:
Besprochen werden die
Schau "Wir sind hier nicht zum Spaß!" im
Kunstraum Kreuzberg, die sich mit der
Berliner Subkultur der 90er befasst, die große
Ausstellung über
Bernd Eichinger im
Filmmuseum Berlin und Bücher, darunter
William Gibsons Essayband "Misstrauen Sie dem unverwechselbaren Geschmack" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
Und
Tom.
Welt, 29.06.2013
Angesichts des in seiner finanziellen Existenz bedrohten
Bachmann-Preises würdigt Joseph Wälzholz in der
Literarischen Welt einmal grundsätzlich die deutsche Liebe zum Dichter: "Es handelt sich, mit einem Wort, um das
weltweit beste Literaturpreissystem. Nahezu stündlich werden hier irgendwo Literaturpreise verliehen, zurückgegeben oder ersonnen. Sogar Literaturprofis verlieren angesichts der
schieren Fülle bisweilen den Überblick. Sicher, jeder kennt den Bachmann-Preis, den Büchner-Preis, den Kleist-Preis und natürlich den Deutschen Buchpreis, doch was ist mit den unzähligen anderen: Alleine in den letzten oder nächsten Monaten oder Wochen wurden oder werden etwa der Hohenemser Literaturpreis verliehen, der Schweizer Literaturpreis, der Solothurner Literaturpreis, der GWK Förderpreis für Literatur, der
DeLiALiebesromanliteraturpreis oder der Meerbuscher Literaturpreis."
Außerdem: Echt gut
gefallen hat Helene Hegemann das neue Werk "Zungenküsse mit Hyänen" ihrer Schriftstellerkollegin
Else Buschheuer: "Ostdeutsche 'Eyes Wide Shut'-Fantasien. Die
eigentlich ganz geil sind." Als einen Autor von "berserkerhafter Intensität"
erkennt Annett Gröschner
Thomas Brasch in der Gesamtausgabe seiner Gedichte "Sie nennen das Schrei". Wolf Lepenies
erinnert sich an den "wilden Denker"
Henning Ritter.
Für das Feuilleton
reist Gerhard Gnauck nach
Litauen und stellt fest: "Kulturell gehören die katholischen Litauer zum alten Westen Europas; der Westen weiß es nur noch nicht."
Weiteres: Unmögliches und Wunder hat Manur Brug Zeugnis bei der Eröffnung der
Münchner Festspiele mit
Verdis Troubadour"
erlebt. Eckhard Fuhr
besucht den alle Zeiten überdauernden
Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen, der sich nun aber immerhin der Forschung öffnet. Sascha Lehnertz
war bei der Vorstellung der französischen
Vanity Fair, die - gewohnt gewagt - Scarlett Johansson mit Alain Badiou kombiniert. Andrea Seibel
geht mit dem Fernsehmoderator
Ali Aslan essen. Peter Dittmar
schreibt den Nachruf auf den Mode-Fotografen
Bert Stern.
NZZ, 29.06.2013
In
Literatur und Kunst spürt Gabriele Detterer im Werk der Künstler
Jeff Koons,
Bruce Nauman und
Ed Ruscha der "in den USA spannungsreichen Beziehung zwischen dem hohen Wert der Geldvermehrung und der tiefen Sehnsucht nach religiöser Erweckung und Erlösung" nach. Mehr um Geldvermehrung als um Erlösung, aber auch um Inspiration geht es laut Sabine B. Vogel Künstlern wie
Damien Hirst,
Wim Delvoye,
Howard Hodgkin sowie ebenfalls Koons und Ruscha, die bedeutende private Kunstsammlungen angelegt haben.
Besprochen werden Bücher, darunter "Die Sängerin aus dem Ghetto",
Agata Tuszynskas Biografie der Warschauer Sängerin Wiera Gran (mehr in unserer
Bücherschau heute um 14 Uhr).
"Ich bin berühmt dafür, immer Schwarz zu tragen, dick zu sein und viel zu reden. Aber alles, was über mich geschrieben wird, ist eine Parodie", zitiert Marion Löhndorf im Feuilleton die britische
Modedesignerin Louise Wilson, zu deren Schülern Stars wie
Alexander McQueen,
John Galliano und
Mary Katrantzou gehören. Löhndorf hat Wilson in London besucht und erfahren, was "tough love" für Studenten ist: "In Louise Wilsons Master-Studiengängen werde gearbeitet, sagt sie, als gälte es, den 'Kanal-Tunnel zu graben. Wir machen extrem viele Überstunden. Wir haben außerordentlich hohe Standards. Wir wollen nicht die Besten sein, aber wir wollen
besser sein als andere.'"
Weiteres: Marc Zitzmann hat sich die
Straßburger deutsch-französische
Architekturausstellung "Interférences" angesehen und
findet sie "materialreich und klug strukturiert". Aldo Keel
schildert die schwierige Bewältigung von
Anders Breiviks Greueltat in Norwegen. Der Schriftsteller
Karl-Heinz Ott ist
schlaflos.
Weitere Medien, 29.06.2013
Helmut Schmidt wird in Deutschland wie ein Buddha verehrt. Sabine Pamperrien
hat in seinem neuesten Bestseller "Ein letzter Besuch", wo er mit Singapurs ehemaligen Herrscher
Lee Kuan Yew plaudert, folgende Passage aufgeschnappt und erzählt sie in der
Jüdischen Allgemeinen weiter: "'Muss man also darüber nachdenken,
Menschen zu töten?', fragt Schmidt im Laufe des Gesprächs über den bevorstehenden Kollaps der
Rentenversicherungen durch zunehmende Überalterung. Lee entgegnet: 'Natürlich nicht!' Doch Schmidt denkt schon laut weiter: 'In Deutschland leiden heute schon 1,5 Millionen Menschen an schwerer Demenz. Wie viele
Demenzkranke haben Sie hier?' Nein, das Buch dokumentiert nicht, dass Lee und Schmidts Protegé Mathias Nass, der das Gespräch moderierte, nachhakten."
SZ, 29.06.2013
Im großen Gespräch auf der Medienseite unterstreicht
Mathias Döpfner nochmals, dass man sich doch darüber freuen könne, dass der Qualitätsjournalismus von
Bild online endlich
nicht mehr frei zugänglich ist. Weiterhin sieht er blühende Zeiten aufknospen: "Ich bin mir aber sicher, dass wir vor einer
Renaissance der Inhalte stehen. Die technologiebetrunkene Anfangsphase der digitalen Revolution endet langsam." In Springers Personalpolitik will sich das jedoch so gar nicht abbilden: 200 Stellen aus dem Kernbereich stehen zwar
zur Disposition, doch "in der Summe schaffen wir Arbeitsplätze, zum Beispiel stellen wir gerade
150 Softwareentwickler und IT-
Fachkräfte ein."
Weitere Artikel: Gut besuchte Veranstaltungen, unterhaltsame Gespräche und
philosophische Splittergruppen mit Flugblatt-Aktionen gab es auch: Pudelwohl fühlt sich Bernd Dörries auf der
phil.Cologne. Andrian Kreye schreibt den Nachruf auf den Fotograf
Bert Stern. Außerdem schreiben die
SZ-Autoren auf einer Doppelseite anlässlich des alle vier Jahre in
Landshut stattfindenden
Mittelalter-Spektakels allerlei Kluges über Mittelalter-Nostalgie.
Besprochen werden der Film "We Steal Secrets" über die
WikiLeaks-Affäre (der
Julian Assange gar nicht passt, wie sie sich
diesem annotierten Transcript des Films entnehmen lässt),
Caroline Links neuer Film "Exit Marrakech", den das Filmfest München
zeigt,
Verdis "Il Trovatore" an der
Bayerischen Staatsoper und Bücher, darunter
Henning Ritters "Schreie der Verwundeten" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).
Die von den
SZ-Volontären betreute Wochenendbeilage versammelt Beiträge zum Thema Nähe und Distanz. Unter anderem geht es um einen
Escort-
Boy für Damen, um eine Liebe, die mittels zweier versteckter CDs über den Tod hinausgeht, und im Gespräch mit Rockstar
Jared Leto und dessen Bruder Shannon über das Geschwister-Dasein.
FAZ, 29.06.2013
Die
Empörung über Prism fällt in den USA auch deshalb verhalten aus, weil die Amerikaner dem Narrativ vom Internet als "
Freiheitsmaschine" anhängen, argumentiert der amerikanische
Publizist Thomas Frank: "Seit langem erklären uns die großen Propheten der neoliberalen Rechten, dass die Macht des Internets uns von allen Formen der
Diktatur befreien wird, weshalb sie auch die Abschaffung von Unternehmensteuern und die Rücknahme der Bankenaufsicht verlangen. Die gemäßigten Demokraten sehen das ähnlich:
Schafft Internetfreiheit, sagt das US-Außenministerium, und die anderen Freiheiten werden automatisch folgen. Die empörte Linke ihrerseits denkt sich das Smartphone als Instrument, das für weltweite Aufklärung sorgen und die
Flammen des Aufbegehrens schüren wird."
Weiteres: Der von der
Deutschen Kinemathek ausgestellte Nachlass
Bernd Eichingers "schärft die Konturen des Rätsels, das Eichinger war", meint Andreas Kilb. Besprochen werden Inszenierungen von
Stockhausens "Samstag aus Licht" bei Musica viva in München und
Verdis "Trovatore" bei den Münchner Opernfestspielen, außerdem
Xavier Dolans Film "Laurence Anyways" und Bücher, darunter
Donald Ray Pollocks Erzählzyklus "Knockemstiff" (mehr in unserer
Bücherschau heute um 14 Uhr).
"Eine Räuberpistole sondergleichen, filmreif", verspricht Michael Hanfeld auf der
Medienseite und erzählt die Geschichte von Sigurdur Thordarson, einem
Wikileaks-Mitarbeiter, der sich offenbar als
FBI-Informant betätigt hat (mehr
hier bei
Wired, für die Kevin Poulsen die Sache aufgedeckt hat). In
Bilder und Zeiten (nur online) geht es um
Berlin: Die französische
Historikerin Diana Pinto
berichtet von der
Ausstellung "Zerstörte Vielfalt" über den NS-Terror: "Das im Übermaß verwendete 'Nie mehr!', das sich auf die Nazivergangenheit bezieht, ist endlich einem viel optimistischeren 'Noch einmal!' gewichen und meint jetzt eine Stadt, die nach einer neuen, zentralen Rolle im Gefüge des 21. Jahrhunderts strebt." Mit engagiertem
Wohnungsbau könne Berlin zeigen, das es "mehr zu bieten hat als die Kommerzialisierung und Nostalgisierung des Zentrums unter den Augen einer staunend-sentimentalischen Politik, die alle Gestaltungsansprüche an private Akteure delegiert hat",
hofft Niklas Maak. Marcus Jauer
informiert über
Katastophentourismus zur BER-Baustelle.
In der
Frankfurter Anthologie stellt Mathias Mayer das Gedicht "Nach neuen Meeren" von
Friedrich Nietzsche vor:
"Dorthin - will ich; und ich traue
mir fortan und meinem Griff.
Offen liegt das Meer, ins Blaue
treibt mein Genueser Schiff.
..."