Heute in den Feuilletons

Die neue Ära des Unbehagens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.07.2013. Die Debatte um Snowdens Enthüllungen geht weiter: Muss man die Geschichte des Internets in die Zeit vor und die Zeit nach den Enthüllungen einteilen, fragt Carta. Wir verweisen auch auf das Liveblog des Guardian über den Irrflug von Evo Morales' Präsidentenmaschine. Aber es gibt auch andere Themen: Die FAZ klagt über literarische Überproduktion bei nachlassender Nachfrage. In der FAZ fordert auch Hamed Abdel-Samad mehr Säkularisierung in Deutschland. Die Welt beschuldigt die SZ des Antisemitismus auf Stürmer-Niveau.

Weitere Medien, 03.07.2013

De europäischen Länder spielen jetzt doch den Hilfssheriff für die USA. Der Guardian bringt ein Liveblog zu dem von Zwischenfällen nicht ganz freien Flug des bolivanischen Präsidenten Evo Morales von Moskau nach, äh, naja Wien. Frankreich, Portugal, Spanien und Italien wollen ihm nicht gestatten, über ihr Territorium zu fliegen, für den Fall, dass er Edward Snowden an Bord hat.

Die Süddeutsche erklärt heute auf ihrer Seite 2, dass sich auf der ganzen Welt kein Land finden wird, das Snowden aufnimmt: "Die US-Regierung hielt sich derweil nach außen weiterhin bedeckt. In der Öffentlichkeit tut sie so, als sei die Angelegenheit zwar ernst, aber auch nur eine unter vielen. Präsident Barack Obama, der seit Tagen in Afrika unterwegs ist, hat den Fall Snowden zuletzt heruntergespielt. Aber das ist nur die öffentliche Seite. Im Hintergrund arbeitet das Weiße Haus offenbar sehr intensiv daran, Snowden einen Ausweg nach dem anderen zu nehmen. Bei nüchterner Betrachtung dürften etliche Regierungen einsehen, dass der Asylant Snowden sie mit immer neuen Enthüllungen in eine permanente diplomatische Krise mit den USA stürzen würde."

Und Angela Merkel? Hat ein Aufnahmegesuch Snowdens abgelehnt. Die Grünen werfen ihr Scheinheiligkeit vor, meldet Zeit online. "'Die Bundesregierung hat rechtlich die Möglichkeit, Snowden eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen und sollte dies auch tun', sagten Göring-Eckardt und Trittin. Dieser habe 'der Demokratie einen großen Dienst erwiesen', indem er Geheimdienstpraktiken aufgedeckt habe, welche die Grundrechte verletzten. 'Das kümmert Angela Merkel aber offenkundig nicht', hieß es in der Stellungnahme weiter."

Aus den Blogs, 03.07.2013

Blandine Grosjean spekuliert in rue89, warum Frankreich dem Flugzeug von Evo Morales die Überfluggenehmigung verweigerte: "François Hollande hat zwar nach den Enthüllungen des Guardian, die unter anderem Abhörmaßnahmen in der französischen Botschaft in Washington bloßstellten, den Empörten gespielt, aber es ist wenig wahrscheinlich, dass er (dem Linkspopulisten) Jean-Luc Mélenchon in die Hände arbeitet, der Frankreich zum Refugium für Whistleblower machen will."

Muss man die Geschichte des Internets in die Zeit vor und die Zeit nach Snowden einteilen, fragt Wolfgang Michal in einem lesenswerten kleinen Essay auf Carta. Er erinnert an das Buch "Cypherpunks", das auf deutsch vor einem Jahr erschien und in dem eine Netzguerilla eine Strategie gegen den "militärisch-postindustriellen Komplex" entwickelt. Heute klingen diese Theorien auf unheimliche Art aktuell: "Die Mobilisierungsfähigkeit der Bevölkerung wird dagegen eher distanziert betrachtet. Man hält die Menschen für manipulierbar und - aufgrund des immer sichtbarer werdenden Unterdrückungsapparates - auch für tendenziell hilflos. Alle demokratischen Kontrollen scheinen zu versagen. Eine Lösung erblicken die Radikalen nur noch in der Bildung einer kleinen Elite von Kämpfern. Nur 'eine Elite von High-Tech-Rebellen', heißt es in dem Buch 'Cypherpunks', sei in der Lage, sich dem 'Moloch Überwachungsstaat' zu entziehen."

Michael Konitzer schreibt, ebenfalls auf Carta: "Mein Verdacht reicht daher tiefer: Das Internet ist für die Politik - quer durch alle Kontinente und Länder und quer durch alle Systeme - ein willkommenes Kontroll-Tool, im übrigen aber ein Störfall."

Hardy Prothmann meint: "Sollte sich bewahrheiten, was als Gerücht in Umlauf ist, dass die Bundesregierung oder einer der drei bundesdeutschen Geheimdienste oder die Länder-'Nachrichtendienste' oder andere staatliche Stellen Kenntnis von der massenhaften Überwachung von Deutchen, EU-Bürgern, Politikern und Unternehmen durch die US-amerikanischen Spionageprogramm Prism und Boundless Informant oder das britische Tempora hatten, ist Angela Merkel Geschichte."

Alexander Kissler schlägt in cicero.de mit Blick auf den Prism-Skandal vor, einfach aufs Internet zu verzichten: "Klüger, sach- und lebensdienlicher wäre es, auf den Angriff der komplexen Systeme mit Simplifizierung zu reagieren. Kommunikation ohne Technik gibt es nicht, wohl aber Kommunikation mit weniger Technik. Die neue Ära des Unbehagens und Misstrauens ließe sich ins Positive wenden: in ein Zeitalter der direkten Kommunikation."

Netzpolitik hat eine nützliche Zeitskala der NSA-Leaks gebaut:


TAZ, 03.07.2013

Die Schriftstellerin Nora Bossong geht mit Gianni Ventola Danese von der Bewegung 5 Sterne in San Lorenzo Pizza essen und lässt sich von ihm sehr schön darlegen, dass sich die etablierten Parteien in Italien nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen lassen: ""Die große Schwäche unseres Landes", sagt Gianni, "ist der Handschlag zwischen Mafia und den politischen Parteien. Er reicht zurück ans Ende des Zweiten Weltkriegs..." Während Gianni spricht, kann man den Eindruck gewinnen, als bezeichne das Wort "Partei" für ihn die Wurzel allen Übels, die man erst einmal ausreißen muss, ehe es weitergehen kann. Dass der M5S eben keine Partei sei, das ist ihm wichtig und er betont es mehrmals. Es ist eine Bewegung, sagt er, als sei das ein Zauberwort. Gerade dieses Zauberwort allerdings bietet nun eine neue Angriffsfläche. Im Rahmen der Parlamentsreform soll ein Gesetz verabschiedet werden, das Bewegungen künftig von den Wahlen ausschließt."

Besprochen werden der panarabische HipHop-Sampler "Khat Thaleth" und eine Ausstellung des Grafikers Anton Stankowski im Kunstmuseum Stuttgart.

Und in ihrer Medienkolumne freut sich Silke Burmester über die frömmelnden Beilagen von SZ, FAZ und Zeit, "die zur Aufbesserung ihres Einkommens und ihres Punktekontos in Gottes Schleimbuch" in Kooperation mit dem L"Osservatore Romana entstanden sind.

Und Tom.

NZZ, 03.07.2013

Christoph Schmidt berichtet von zunehmenden Attacken auf christliche Kirchen und Klöster in Israel, mit denen sich die militante Siedlerjugend offenbar für die Räumung von Siedlungen durch die israelische Armee rächen will. Dirk Pilz empfiehlt uns das in Berlin gastierende Nature Theater of Oklahoma als "zutiefst kunstreligiöses, gleichwohl höchst avantgardistisches Theater mit überdeutlichen Therapieabsichten".

Besprochen werden eine konzertante Aufführung des "Samstags" aus Karlheinz Stockhausens "Licht"-Zyklus in München, Kinderbücher und Fernand Braudels Vorlesungen aus der Kriegsgefangenschaft "Geschichte als Schlüssel zur Welt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 03.07.2013

Henryk Broder spießt die Karikatur auf, mit der die SZ gestern eine Besprechung zweier Bücher über Israel bebildert hat. Sie zeigt ein Monster mit gezücktem Messer, das im Bett auf sein Frühstück wartet. In der Unterzeile heißt es: "Deutschland serviert. Seit Jahrzehnten wird Israel, teils umsonst, mit Waffen versorgt. Israels Feinde betrachten das Land als einen gefräßigen Moloch. Peter Beinart beklagt, dass es dazu gekommen ist." Der Zeichner, Ernst Kahl, hatte bei diesem Bild allerdings nie die Juden im Sinn, antisemitisch wird es erst durch die Unterzeile der Süddeutschen Zeitung, erklärt Broder, der die Verantwortung damit bei der SZ sieht: "Karikaturen dieser Art gehörten zum visuellen Repertoire des Stürmer - der hässliche, gefräßige Jude, ein Moloch in Menschengestalt, der im Begriff ist, sich die Welt einzuverleiben. So weit wie die SZ ist bis jetzt noch keine bürgerliche Zeitung in Deutschland gegangen. In dieser Karikatur tritt 'Israel' an die Stelle des 'Juden', die Süddeutsche Zeitung setzt dort an, wo der Stürmer 1945 aufhören musste."

Im SZ-Blog weist die zuständige Redakteurin Franziska Augstein den Vorwurf mit Verweis auf die Unterzeile von sich: "Nur die Feinde Israels sehen Israel in der Weise, die dem abgebildeten Monster ähnelt." Ach so.

In der Jüdischen Allgemeinen zeigt sich der Zeichner Ernst Kahl übrigens "entsetzt" von der Verwendung seiner Karikatur in diesem Zusammenhang, der Dieter Graumann von "fast schon Stürmer-Niveau" sprechen lässt, wie Michael Wuliger schreibt: "Das Bild, das hier Israel dämonisiert, wurde ursprünglich für die Zeitschrift Der Feinschmecker gezeichnet. Die Süddeutsche Zeitung, erklärt Ernst Kahl, hat einen Fundus seiner Bilder, aus dem sie sich immer wieder für Illustrationen bedient. Ohne Rücksprache, wie er betont: 'Ich wäre gern vorher gefragt worden. Dann hätte ich mit Sicherheit Nein gesagt.'"

Weitere Artikel: Der Duden, verspricht Marc Reichwein, macht sich in seiner 26. Auflage locker. Werner Bloch stellt den tunesischen Galeristen Hamadi Chérif vor, der gerade auf der Urlauberinsel Djerba rund hundert Gemälde, Zeichnungen, Skizzen und Ölgemälde von Otto Dix zeigt. Alan Posener plädiert für mehr Farbe in der Garderobe älterer Männer.

Besprochen werden eine Ausstellung aus dem Nachlass des Filmproduzenten Bernd Eichinger und Christian Thielemanns Aufnahme des "Rings".

FAZ, 03.07.2013

Felicitas von Lovenberg, Literaturchefin der FAZ, beklagt eine Überproduktion von Literatur bei gleichzeitig sinkendem Interesse des Publikums. Die Autoren bewegen sich in jeder Hinsicht auf schrumpfenden Terrain: "So hat die Zahl der Lesungen stark abgenommen; viele Buchhandlungen und Literaturforen haben ihre Veranstaltungen reduziert. Da Lesereisen aber für viele Schriftsteller eine Haupteinnahmequelle darstellen, macht sich dieser Wandel besonders bemerkbar."

Im Interview mit Holger Detmering spricht Hamed Abdel-Samad über die Situation in Ägypten, fordert aber auch für Deutschland mehr Trennung von Staat und Religion: "Die Lösung kann niemals sein, dass man den Islam mit den Kirchen gleichstellt, dass der Staat auch für die Muslime Steuern eintreibt und dass sie genau das gleiche Mitspracherecht in den Medien und im Gesundheitswesen haben. Die Muslime sollten nicht die gleichen Privilegien wie die Kirchen bekommen. Die Kirchen müssten auf einige Privilegien verzichten."

Weitere Artikel: Swantje Karich wundert sich, dass die Uni Duisburg eine Ausstellung des Comickünstlers Craig Thompson ohne Diskussion schließt - eine muslimische Studentin hatte protestiert, weil ein Bild (eine Collage von Studenten, nicht von Thompson, die natürlich nun nirgends mehr zu sehen ist) laut Karich eine Vergewaltigung und daneben den Schriftzug "Allah" zeigt. (In derwesten.de heißt es neutraler: "In der Ausstellung wurden auch Bilder verarbeitet, die Sex-Szenen zeigen. Daneben war als Collage das Wort 'Allah' in kalligrafischen Schriftzeichen gesetzt worden"). Kerstin Holm konstatiert, dass Russland den Niedergang seiner Wissenschaften seit dem Zerfall der Sowjetunion nicht stoppen konnte. Der Kunsthistoriker Frank Zöllner stellt sich Fragen über die Zuschreibung einer angeblichen Skulptur des Johannesknaben von Michelangelo. Bernd Noack gratuliert dem Karl-May-Verlag zum Hundertsten.

Auf der Medienseite fordert der ehemalige Staatskulturminister Michael Naumann eine internationale Rechtsordnung gegen Spitzelei. Und Michael Hanfeld unterhält sich mit dem Journalisten Marvin Oppong, der seit sieben Jahren versucht, den WDR zu möglichen Verflechtungen eines Rundfunkrats mit dem dem Sender zu befragen- und trotz siegreicher Gerichtsverfahren keine Auskunft bekommt (mehr dazu auf seinem Blog).

Besprochen werden eine Ausstellung zur Geschichte der RAF in Stuttgart (die laut Andreas Platthaus von voyeuristischen Aspekten nicht frei ist), die Ausstellung "Hans Thoma - Lieblingsmaler des deutschen Volkes"" im Städel Museum, Konzerte der Orgelwoche Nürnberg, Pedro Almodovars neue Komödie "Fliegende Liebende" und Bücher, darunter Günter Kunerts "Aufzeichnungen 1999 - 2011" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 03.07.2013

Mit dem neuen Zweitveröffentlichungsrecht können Wissenschaftler ihre in Journalen veröffentlichten Arbeiten nach Ablauf eines Jahres auch zweitveröffentlichen. Franz Himpsl sieht darin "eher einen Anfangs- als einen Endpunkt in der Kontroverse um die Zukunft wissenschaftlichen Publizierens markiert." Sie zu führen lohnt sich - wie er diesem offenen Brief entnimmt - auch wegen dieses Aspekts: "Für einen jungen Wissenschaftler, der im akademischen Feld etwas werden will, gilt es, um jeden Preis in möglichst renommierten und vielzitierten Zeitschriften zu publizieren. Eine derartige Publikationskultur sei aber 'Gift für die Wissenschaft'."

Außerdem: Schockiert liest Alex Rühle in einem Buch über die tödlichen Folgen aufgezwungener Austeritätspolitik im Gesundheitsheitswesen: "Das Kapitel über Griechenland liest sich wie ein Massaker in Zahlen." Sonja Zekri berichtet von den Frustrationen der ägyptischen Kunstszene unter Mursi. Bernd Graff besucht eine Tagung über das politische Umdenken in den Siebzigern, als die Grenzen des Wachstums sichtbar wurden. Franziska Augstein ärgert sich, dass der Freiburger School of History der Hahn abgedreht wird: Ihr "ist ihr weltweit guter Leumund schlecht bekommen". Hans Kratzer schreibt den Nachruf auf den Historiker Eberhard Weis.

Besprochen werden neue Popveröffentlichungen, Pedro Almodóvars Flugzeug-Komödie "Fliegende Liebende", der Bollywood-Film "Englisch für Anfänger", die Ausstellung "Paris Intense" in München, ein Konzert von Diana Damrau in München und Francesca Segals Romandebüt "Die Arglosen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).