05.07.2013. Le Monde enthüllt ein "Prism à la française". Sämtliche Telefon- und Internetkommunikation wird gesammelt und gespeichert - ohne jede gesetzliche Grundlage. In der FAZ macht die Essayistin Rebecca Solnit Google und Facebook als das Hauptroblem mit dem Netz aus, und Frank Schirrmacher fordert erneut ein europäisches Google. In der Welt spricht der malische Sänger Kouyaté über die Rolle der Griots und über den Islamismus in seinem Land. Die Berliner Zeitung, die selbst einige Entlassungen zu verkraften hatte, befragt einen Psychologen zur "Kultur des Kündigens".
Weitere Medien, 05.07.2013
Zwei Gründe gibt es dafür, dass
Frankreich nicht so laut gegen die
Prism-Enthüllungen protestierte,
schreiben Jacques Follorou et Franck Johannès in
Le Monde: "Es wusste
Bescheid. Und es tut
dasselbe." und dann die schlichte Feststellung: Die Direction générale de la sécurité extérieure (DGSE, der Auslandsgeheimdienst) sammelt systematisch die von Telefonen und Computern ausgesandten elektromagnetischen Signale in Frankreich sowie den Austausch von Daten zwischen
Frankreich und dem Ausland: Die
Gesamtheit der Mails, der SMS, der telefonischen Metadaten, der Aufrufe von Facebook und Twitter werden über Jahre hinweg gespeichert." Im
Videointerview sagt Follorou: "Es gibt ein veritables Prism à la française" - allerdings mit einem Unterschied: In Frankreich gibt es bezüglich der Sammlung von Daten nicht
einmal ein Gesetz.
Auf slate.fr
hatte der amerikanische Geheimdienstexperte Adam Rawnsley schon vor den neuesten Enthüllungen die ungenierte
Wirtschaftsspionage der Franzosen in Amerika beschrieben und zitiert den ehemaligen Chef der DGSE, Pierre Marion: "In Wirtschaftsdingen sind wir Konkurrenten, nicht Partner. Amerika verfügt über höchst avancierte technische Informationen. Sie sind
leicht zugänglich. Es ist also logisch, dass diesem Land unser besonderes Interesse gilt." Laut Rawnsley geht es dabei aber hauptsächlich um Militärtechnologie.
Aus den Blogs, 05.07.2013
Schon vorgestern
notierte Hamilton Nolan in
Gawker, dass die
Washington Post die
schlimmste Meinungsredaktion der Vereinigten Staaten hat. Die Zeitung gehörte zu den Medien, die Snowdens Etnhüllungen veröffentlichten, brachte dann aber nur vier der 41 Powerpoint-Folien, die Snowden ihr gegeben hat und veröffentlichte einen
Leitartikel mit dem Titel: "How to Keep Edward Snowden From Leaking More NSA Secrets. " Nolans Kommentar: "Take note, potential leakers and whistleblowers inside the U.S. government: the official stance of the
Washington Post's editorial board is that you
should shut up and go to jail. Would-be
Washington Post sources may wish to take that information into consideration when choosing where to leak to."
Tagesspiegel, 05.07.2013
Christiane Peitz
rauft sich die Haare über die
bigotte und kleinmütige Reaktion der
Universität Essen auf die Proteste einer Muslimin, die sich durch eine Karikatur des Zeichners
Craig Thompson in einer Comic-Ausstellung beleidigt fühlte: "Was macht die Universität? Statt den Ausstellungstitel 'What Comics can do' erst recht zum Thema zu machen und eine Diskussion über Kunst und Gewalt, Ästhetik und Religion zu organisieren, schließt sie Ende Juni die Schau, die bis Ende Juli geplant war. Wobei offiziell nicht von Schließung die Rede ist, sondern von einer '
verkürzten'
Ausstellungsdauer um 'einige Tage'. Interessant, wie Akademiker da
mit der Sprache mogeln. Weiter heißt es, man verkürze 'aus Protest gegen die erfolgte Zensur'. Das hätten sämtliche Professorinnen und Professoren des Instituts für Anglophone Studien betont: 'Eine teilzensierte Ausstellung hätte als Eingeständnis einer Schuld gewertet werden können.'"
TAZ, 05.07.2013
Christoph Schröder
findet in der Debatte über den
Bachmannwettbewerbs die Abschaffungsforderungen
borniert, aber: "Selbstverständlich kann man darüber streiten, ob Klagenfurt der Literatur hilft oder nicht. Wer aber behauptet, es würde ihr schaden, kann
nicht ganz bei Trost sein. Es dürfte schwerfallen, auch nur einen Autor zu finden, dessen Schriftstellerkarriere das Klagenfurter Wettlesen verhindert hat."
Weitere Artikel: Fatma Aydemir
porträtiert Pharrell Williams, Geschäftsmann und
Popmusikproduzent, der auf der Berliner Fashion Week seinen Beitrag zu nachhaltiger Mode vorstellt: seine Eco-Garn-Firma Bionic produziert hochwertige
Textilfaser aus recycelten Plastikflaschen. Etwas lieblos und zudem unvollständig
findet Claus Löser die Werkschau zu dem chilenischen Filmemacher
Alejandro Jodorowsky auf dem
Münchner Filmfest, bei der
handelsübliche DVDs statt 35-mm-Kopien gezeigt wurden. Ines Kappert
unterhält sich mit zwei Mitgliedern der Künstlergruppe
Pussy Riot, die derzeit durch Europa touren. Auf den vorderen Seiten beschäftigen sich mehrere
Artikel mit dem Putsch in Ägypten, unter anderem
erklärt Jannis Hagmann, weshalb die Massenproteste nicht einfach nur ein Aufbegehren der
Säkularen gegen die Religiösen waren.
Besprochen werden
Pedro Almodovars neuer
Film "Fliegende Liebende", den Diedrich Diederichsen für eine "etwas ins Leere schießende Satire" hält, die
Dokumentation "His & Hers" des irischen Filmemachers
Ken Wardrop, in der siebzig Mädchen und Frauen von ihren Beziehungen zu Jungs und Männern erzählen, und die
Ausstellung "Zwischen den Zeilen?
Zeitungspresse als NS-Machtinstrument" in den Räumen der Berliner
Topografie des Terrors.
Die
vorderen Seiten sind ganz dem
Sturz der ägyptischen Regierung durch das Militär gewidmet. Katajun Amirpur ist bei aller Sympathie für die Demonstranten
nicht sehr glücklich: "Aber was wir in den letzten Tagen gesehen haben, ist eben keine direkte Demokratie, auch wenn dies im Moment so dargestellt wird. Direkte Demokratie bedeutet nicht, dass eine Graswurzelbewegung zwar die Menschen auf die Straße bekommt - es aber letztlich
doch das Militär ist, das putscht."
Und
Tom.
Welt, 05.07.2013
Der malische Sänger
Kouyaté spricht im
Interview über den Krieg in seinem Land, die Islamisten, die Militärs und die Rolle der
Griots, die den ganzen Schlamassel in ihrer Musik kommentieren und heftig kritisieren: "Mein Großvater hat das schon so gemacht. Er war das Sprachrohr des Königs - aber auch sein Kritiker. Er hat im malischen Radio Texte gesungen, die
so kein Journalist hätte bringen können. Er hat ausgesprochen, was sich wirklich in Mali abspielt. Die Musik der Griots ist heilig. Deshalb kann ein Griot die
Machthaber kritisieren und seine Meinung kundtun."
Weitere Artikel: Ganz wunderbar
fand Jan Küveler die
Rede Michael Köhlmeiers für Jörg Fauser beim Bachmann-Preis: "Das war anderes Kaliber als die
wohlfeile Wut der Honoratioren - eine Verteidigung des Preises mittels größtmöglichen Bashings." Manuel Brug und Joachim Lange
berichten über katastrophale
Kürzungen des Kulturetats in Sachsen-Anhalt. Dankwart Guratzsch ist gespannt auf die
Internationalen Bauausstellung in Heidelberg.
Besprochen werden
Tom Hillenbrands Kriminalroman "Letzte Ernte" und eine Ausstellung mit Werken des Landschaftsmalers
Thoma im Städel-Museum.
Auf der Forumsseite
findet der Historiker
Michael Wolffsohn die
Deutschen höchst undankbar gegenüber den Amerikanern, hält ihnen ihren Antiamerikanismus vor und meint, dass Misstrauen der USA sei das "Ergebnis
jahrzehntelanger Enttäuschungen über Westeuropa sowie besonders Deutschland".
Weitere Medien, 05.07.2013
Birgit Walter
interviewt den Unternehmenspsychologen
Thomas Rigotti, über die "
Kultur des Kündigens". "Kündigungen sind ein hochemotionaler Vorgang, sie werden oft als Vertrauensbruch aufgefasst, sie verletzen, bleiben ewig in Erinnerung. Sie brauchen Behutsamkeit. Es ist ein Irrtum anzunehmen, die Dinge seien umso schneller vergessen,
je zügiger sie über die Bühne gehen. Im Gegenteil, schlechter Umgang mit Mitarbeitern in Krisenzeiten wirkt sich stark auch auf die aus, die bleiben. Die erleben, wie Arbeitgeber mit ihren Kollegen umspringen und können sich ausrechnen, wie es
später bei ihnen läuft." Gut dass
Chefredaktion und Unternehmensführung der
Berliner Zeitung, die ja auch von Kündigungen betroffen ist, ein solches Ausmaß von Selbstreflexion auf der Website der Zeitung zulassen!
NZZ, 05.07.2013
China will sich wieder dem Meer öffnen, Urs Schoettli
blickt auf Chinas Geschichte als
widerwillige Seefahrer-Nation zurück: "Es fällt einem bei der Reise durch alte chinesische Hafenstädte auf, dass häufig die ummauerten Wohngebiete sich ein gutes Stück landeinwärts befinden. Offensichtlich wurde das Meer in China, wie übrigens in ganz Asien,
als Bedrohung betrachtet. Schwere Taifune und Tsunamis brachten Verheerungen über die Küstenstriche, und Festlandchina wie Taiwan mussten sich vor den
japanischen Piraten fürchten. Über grosse Strecken seiner Geschichte wandte sich deshalb das Reich der Mitte vom Meer ab, umso mehr, als die grossen militärischen Gefahren vor der Ankunft der Europäer in Ostasien von der Landseite her drohten.
Zumindest am ersten Tag
scheint Roman Bucheli beim Klagenfurter
Bachmann-Wettbewerb auf seine Kosten gekommen: "Körperlichkeit und Sinnlichkeit dominieren die Texte. Hier liegt eine
gekochte Ochsenzunge wie ein fleischiger Riesenpenis auf dem Küchentisch, während gleichzeitig eine
Blutsuppe gekocht wird".


Weiteres: Ulf Meyer
freut sich, dass die Baukunst des Amerikaners
Paul Rudolph wieder gewürdigt wird, den Vater des "Romantischen Brutalismus" und "frivolen Verräter an der Moderne". Hans-Christoph Zimmermann
trifft Kölns künftigen Schauspielintendant
Stefan Bachmann. Lotte Thaler porträtiert
Andreas Holschneider, den langjährigen Leiter der Archiv-Produktionen der
Deutschen Grammophon.
SZ, 05.07.2013
Heute rafft sich auch das
SZ-Feuilleton zu einem Kommentar zu
Prism auf. Thomas Steinfeld hat es alles schon immer gewusst, aber am Ende macht er doch einen Punkt: Die heutigen Überwachungsmethoden seien auch deshalb so erfolgreich, weil im Netz alles schon offen da liegt: "Der Staat muss niemanden mehr verfolgen. Er
kann zugreifen. Darüber müsste nun eigentlich geredet werden. ... Geschrieben wird aber vor allem über den Verräter. Nicht einmal unter den Benutzern des Internets, also unter den Beobachteten, scheint es eine
ernsthafte Debatte über Gründe und Zweck der Überwachung zu geben, keine jedenfalls, die man außerhalb der communities bemerken könnte. Das liegt auch daran, dass sich im Internet, unendlich vieler Ankündigungen zum Trotz,
keine neue politische Öffentlichkeit entwickelt, die mit der alten konkurrieren könnte." (Auf die amerikanische Öffentlichkeit trifft das allerdings nicht zu.)
Ansonsten funkt die
SZ mit schmalen zwei Feuilletonseiten aus dem Sommerloch: Christopher Schmidt
bringt den besten Grund, warum der
Bachmann-
Preis in Klagenfurt vom ORF nicht weggespart werden darf: "Nirgendwo
hasst sich der Literaturbetrieb so inbrünstig wie in Klagenfurt." Kristina Maidt-Zinke spricht mit dem Countertenor
Max Emanuel Cencic. Besprochen werden das neue
Album von
Jay-
Z und
Ashgar Farhadis neuer Film "Le Passé", den das
Filmfest München zeigt.
FAZ, 05.07.2013
Die
FAZ übersetzt Rebecca Solnits online
hier erschienene Polemik wider
Google,
Facebook und generell alle
Tech-
Kids aus Silicon Valley, die ihr das Leben in San Francisco schwer machen. Unter anderem macht sie Marc Zuckerberg den Vorwurf, allein unternehmerisches Eigeninteresse zu verfolgen, und zieht bei
Google folgenden Vergleich: "Stellen wir uns vor, wir schreiben das Jahr 1913. Post, Telefon, öffentliche Bibliotheken, Verlage, Messtischblätter, Lichtspielhäuser und Atlanten sind weitgehend in der Hand einer
einzigen Firma, die im Verborgenen operiert und keinerlei öffentlicher Kontrolle untersteht. Ein Jahrhundert später ist das mehr oder weniger die Situation, die wir im Internet haben. Ein New Yorker Investor schrieb, dass Google sich
das ganze Internet unter den Nagel reißen wolle." In der flankierenden Leitglosse
fordert Frank Schirrmacher nochmal ein
europäisches Google.
Außerdem: Ursula Scheer
erzählt die Erfolgsgeschichte der "
Moleskin"-Notizbücher einmal in Form der darum gestrickten Legenden und einmal als erfolgreiche Unternehmensgeschichte. Dirk Schümer
meldet, dass die Unesco von Italien erwartet, die Pläne zur Rettung des verfallenden
Pompeji umzusetzen. Sandra Kegel
sammelt kritische Stimmen zu den Plänen des
ORF, den
Klagefurter Vorlesewettbewerb wegen Sparauflagen einzustellen. Beim Berliner Konzert von
Tame Impala zieht Leander Steinkopf bald "süßlicher" Geruch in die Nase.
Besprochen werden neue CDs, darunter ausführlicher das
neue Album von
Vanessa Paradis,
Karin Beiers in Brasilien aufgeführtes Stück "Brasilien - 13 Kisten",
Marc-
Andre Hamelins Konzert beim
Klavier-Festival in Essen,
Bess Kargmanns Ballett-Dokumentarfilm "First Position" und Bücher, darunter
Julien Marets Roman "Tirade" und
Birgit Weyhes Comic "Im Himmel ist Jahrmarkt" (mehr in unserer
Bücherschau um 14 Uhr).